Heymann steht in der Pflicht Beim DHB-Team ist es Zeit für den Götze-Moment
16.01.2022, 12:14 Uhr
Sebastian Heymann ist "ein richtiges Tier", sagt man.
(Foto: picture alliance/dpa)
Mit Julius Kühn hat die deutsche Handball-Nationalmannschaft ihren ersten Coronafall, der Rückraumspieler fällt vorerst aus. Nun muss Sebastian Heymann in die Bresche springen. Der junge Göppinger ist bereit, muss jetzt aber auch liefern. Zweifel daran gibt es eigentlich nicht. Aber ...
Am Freitag feierten sie im Lager der deutschen Handball-Nationalmannschaft noch den wichtigen Kickstart in die Europameisterschaft: 33:29 hatte die unerfahrene, durch viele Absagen hart gebeutelte Auswahl Belarus geschlagen. Am Samstagabend dann gab es die erste Ernüchterung: Mit Rückraum-Shooter Julius Kühn gab es den ersten Coronafall im DHB-Tross. Der Melsunger hatte gegen Belarus noch sechsmal getroffen, nun wird er mindestens für den Rest der Vorrunde fehlen. Damit schlägt schon im Spiel am Abend gegen Österreich (18 Uhr/ ARD und im Liveticker auf ntv.de) die Stunde von Sebastian Heymann. Der hatte im ersten Spiel etwas überraschend noch überhaupt keine Rolle gespielt. Nun ist es an der Zeit.
In den beiden Vorbereitungsspielen gegen die Schweiz und Olympiasieger Frankreich bekam der 23-Jährige jede Menge Einsatzzeit. Gegen Belarus, als es darauf ankam, spielte dann aber doch der erfahrenere Kühn. Für Handball-Legende Stefan Kretzschmar gehört der Profi von Frisch Auf Göppingen zu den "Spielern, die bei dieser EM ein Zeichen setzen könnten", wie der 208-fache Nationalspieler im Gespräch mit ntv.de sagte. Heymann "weiß gar nicht, was er alles kann", hatte Bundestrainer Alfred Gislason der "Stuttgarter Zeitung" Anfang des Jahres verraten.
Die Situation Heymanns erinnert ein bisschen an die von Mario Götze bei der Fußball-WM 2014. Im Laufe des Turniers unglücklich, schickte Bundestrainer Joachim Löw den jungen Mann ausgerechnet im Endspiel gegen Argentinien um Superstar Lionel Messi aufs Feld, motiviert mit den längst deutsche Sportgeschichte gewordenen Worten "Zeig der Welt, dass du besser bist als Messi" in die Schlacht. Wenige Minuten später entschied Götze mit seinem Treffer das Spiel und machte Deutschland zum Weltmeister.
"Mann oder Maus?"
Ähnlich Historisches kann Heymann, dem Hochbegabten, im zweiten Vorrundenspiel dieser Handball-EM nicht gelingen. Alfred Gislason geht das Pathos von Löw ab, der Isländer wird Heymann wohl eher mit einer pragmatischen, bodenständigeren Erwartungshaltung ins Spiel schicken. "Mann oder Maus?", lautete einst ein Mantra des 62-Jährigen. Auf der anderen Seite fehlt auch eine Lichtgestalt, an der man sich abarbeiten kann. Sicher, da gibt es Kiels Nikola Bilyk, einen der einst spannendsten Rückraumspieler seiner Generation. Aber vor allem in der Breite fehlt es an der Substanz, um Deutschland über die komplette Distanz ebenbürtig zu sein. Ihr Auftaktspiel hatten die Österreicher 31:35 gegen die arg corona-gebeutelten Polen verloren.
Aber es steht doch ein wichtiger Schritt an: Der in die erste Reihe und dafür bedarf es einer Menge Überzeugung. "Ab Freitag gelten andere Regeln, da gibt es eine andere Nervosität, da wird die Nationalhymne anders gehört", orakelte Kretzschmar vor dem Auftaktspiel. "Da weißt du: Jetzt bin ich bei der Europameisterschaft und eben nicht in Wetzlar bei einem Freundschaftsspiel gegen Frankreich. Jetzt schauen hier vier, fünf Millionen Menschen zu."
Das Paket, das der Göppinger Shooter liefert, ist stark: "Es ist natürlich ein großer Vorteil von Heymann, dass er Abwehr und Angriff mit großer Qualität spielen kann", sagte Kretzschmar. Das sieht auch Axel Kromer so, Sportdirektor des DHB. "Er spielt im Innenblock in der 6:0-Formation. Er spielt auf Rückraum links, die Position, die mit den meisten Entscheidungen belegt ist und auch relativ viele Torwürfe mit sich bringt. Also was ganz Zentrales, vorne wie hinten. Und wenn er sich da festigt und wenn er da seine Qualitäten weiterentwickelt und zutage bringt, dann wird er sicherlich eine wichtige Rolle in der Zukunft der Nationalmannschaft spielen."
"Ein richtiges Tier"
Die Zukunft ist jetzt. Ein bisschen unfreiwillig, aber überfällig. 1 Meter und 98 Zentimeter misst Heymann, sein rechter Wurfarm ist an guten Tagen eine Waffe. Ein wichtiger Faktor. "Wenn er mit Selbstvertrauen spielt, dann ist er eine der größten Maschinen im internationalen Handball. Das ist ein richtiges Tier", analysierte der ehemalige Nationalspieler und Meistertrainer Martin Schwalb jüngst für die Hamburger "Mopo". Und Heymann gab sich im Vorfeld bereit. Mehr als bereit. "Ich bin einfach geil darauf, für Deutschland zu spielen, auf der größten europäischen Bühne zu zeigen, was ich kann. Und dann einfach mit den Jungs ein geiles Turnier spielen."
Sorgen muss sich der Bundestrainer nicht machen, auch wenn Heymann international noch nicht nachhaltig glänzen konnte, wenn es darauf ankam. Für den Göppinger ist die EM das erste große Turnier. Auch, weil er in seinen jungen Jahren bereits von zwei schweren Verletzungen ausgebremst wurde. Für die Weltmeisterschaft 2021 sagte Heymann nach einer langen Pause wegen eines 2020 erlittenen Kreuzbandrisses aus freien Stücken ab, sonst wäre er spätestens da schon dabei gewesen.
Erfolgreicher Flügel
An der Architektur des deutschen Spiels wird die personelle Änderung kaum etwas verändern. Der Göppinger ist wie Kühn ein mächtiger Shooter, der spielerisch noch zulegen muss. Profitieren kann sein Wingman Marcel Schiller: Heymann und der Linksaußen bilden auch bei Frisch Auf Göppingen gemeinsam den linken Flügel, keine deutsche Kombination warf in dieser Saison gemeinsam mehr Tore in der Bundesliga: Heymann traf 81 Mal, Schiller steht bei 99 Toren (davon 46 Siebenmeter). Das Melsunger Tandem auf dem rechten Flügel - Kai Häfner und Timo Kastening - kommt gemeinsam auf 140 Bundesligatreffer.
Wäre es bei einer Erkrankung mit einem möglichen schweren Verlauf nicht so zynisch zu sagen, könnte man sagen: Wenn ein Julius Kühn schon ausfallen muss, dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt dafür. Auch dank seiner sechs Tore meisterte die unerfahrene deutsche Mannschaft die komplizierte Auftaktaufgabe Belarus. Wie Stefan Kretzschmar im Gespräch mit ntv.de sagte, kann die "Mannschaft jetzt weiter befreit aufspielen". Geht es in die Hauptrunde, wäre Julius Kühn, der nach Angaben des DHB geboostert, symptomfrei und mit einer geringen Virenlast getestet worden ist, wohl wieder dabei. Dann, wenn es gegen die Schwergewichte geht. Bis dahin kann Heymann zeigen, dass er mindestens besser ist, als er selbst weiß.
Quelle: ntv.de