
Die deutsche Handball-Nationalmannschaft ist bei der Heim-EM wieder auf Halbfinal-Kurs. Und sie liefert auf dem Weg dorthin ein Spiel für die Euphorie. Es ist ein Tag wie gemalt für den deutschen Handball.
Was ist in der Kölner Arena passiert?
Es war mal wieder "Schicksalsspiel"-Zeit für die deutsche Handball-Nationalmannschaft, so wie bei dieser Europameisterschaft immer Schicksalsspiel-Zeit ist: Gegen Ungarn musste das DHB-Team nach zwei nervösen Auftritten zurück in die Euphorie-Spur finden, auf der sie so gerne Richtung Halbfinale gleiten wollen. Gegen Island hatte man zum Hauptrundenauftakt in einem wahren Thriller dank eines überragenden Andreas Wolff im Tor den Sieg geholt, gegen Österreich gab es ein mit viel Moral erkämpftes Remis - nach dem die deutsche Mannschaft erstmal in den Selbstzerstörungsmodus schaltete. "Grausam" (Bundestrainer Alfred Gislason)! "Scheiße" (Kai Häfner)! "Stückwerk" (Timo Kastening)! "Riesen-Enttäuschung" (Kapitän Johannes Golla)! Sogar die Einstellung seiner Spieler hatte Bundestrainer Alfred Gislason infrage gestellt.
Nun wendete sich das Blatt: Mit einem deutlichen Sieg nahm die noch vor 48 Stunden arg gebeutelte Mannschaft ihr sportliches Schicksal wieder selbst in die Hand, nachdem Frankreich mit einem Sieg über Österreich zuvor Schützenhilfe geleistet hatte. Wichtiger noch: Die Art des Sieges wendete auch die Stimmung. Vor dem Endspiel ums Halbfinale gegen Kroatien ist die Euphorie wieder zurück. 35:28 hieß es am Ende eines unglaublich intensiven Spiels.
Dabei war die Anfangsphase auch diesmal wieder von technischen Fehlern und mehreren freien Fehlwürfen begleitet - Linksaußen Rune Dahmke verwarf aus einem guten Winkel, auch Kreisläufer Johannes Golla ließ einen freien Ball liegen. Aber die Körpersprache war eine andere, die Dynamik. "Das Selbstvertrauen" sei der große Unterschied zum krampfigen Österreich-Spiel gewesen, sagte Christoph Steinert, der für den erkrankten Timo Kastening als Rechtsaußen spielte. Da waren irgendwann die Köpfe runtergegangen. Diesmal zogen sie durch: "Du darfst Fehler machen", erklärte Dahmke, der vor allem in der Abwehr brillierte, die Marschroute. "Aber du darfst keine Angst haben."
Die Angst, die sich noch vor zwei Tagen tief ins deutsche Spiel geschlichen hatte, musste heute draußen bleiben. Der Bundestrainer, der seine Spieler offen für falsche Entscheidungen kritisiert hatte, habe eine emotionale Ansprache vor dem Spiel gehalten, verriet Steinert. Auch Sebastian Heymann, einer der namentlich vorgeführten Spieler, der vor wenigen Stunden noch drei Fehlwürfe bei drei Versuchen produziert hatte, sei einer der persönlich Angesprochenen gewesen.
"Ich soll mit Überzeugung aufs Tor gehen, alles reinschmeißen, was ich habe", verriet der Rückraumspieler aus dem Gespräch mit dem Bundestrainer. "Ich darf Fehler machen bei ihm, er hat vollstes Vertrauen zu mir - und dass ich heute extrem wichtig werden kann." Heymann war eine der Symbolfiguren des deutschen Sieges, in der ersten Halbzeit traf der Göppinger viermal bei vier Versuchen und lieferte drei Assists. "Ich bin megastolz auf die Mannschaft, dass wir so zurückgekommen sind", freute sich Kai Häfner, der selbst vier Tore erzielte und mit mehreren klugen Anspielen glänzte.
Das eingelöste Versprechen
"Wir können uns auf Andi verlassen", hatte Rechtsaußen Kastening nach Wolffs fantastischer Leistung gegen Island gesagt, als der Torwart in der Schlussphase zwei Siebenmeter gehalten hatte. "Und ich hoffe, dass wir im Laufe des Turniers noch zeigen können, dass wir ihn und David auch mal entlasten können, wenn es bei beiden mal zwanzig Minuten nicht so läuft." Gegen Österreich konnte die deutsche Mannschaft den Vorsatz noch nicht einlösen, im Gegenteil: Weltklasse-Wolff musste die 22 Fehlwürfe seiner Vorderleute mit starken 14 Paraden reparieren.
Nun war es so weit: Der Torwart-Titan bekam in der ersten Hälfte keinen Ball an die Hand, auch Vertreter David Späth sammelte nur eine Parade. "Die Jungs haben heute ein ganz anderes Gesicht gezeigt im Angriff", sagte Wolff. Und schob lachend hinterher: "Leider habe ich auch ein ganz anderes Gesicht gezeigt in der ersten Halbzeit. Ich war an allen Bällen dran und hab mir alle Bälle selbst reingemacht."
Die deutschen Rückraumspieler waren es, die für die deutsche Halbzeitführung sorgten. "Die Jungs haben Moral gezeigt, nie den Kopf in den Sand gesteckt", lobte Wolff seine Vorderleute, die auch nach Fehlwürfen bei ihrer Marschroute geblieben waren. Heymann, Kai Häfner, Julian Köster, sie alle trafen, wie seit langem nicht mehr. Und in der zweiten Hälfte hielt dann auch Wolff wieder seine Bälle.
Die Zitate zum Stimmungsumschwung:
"Wir machen die komplett kaputt jetzt. Die schaffen das Tempo gar nicht", trieb Gislason seine Spieler selbst im Gefühl einer deutlichen Führung in einer späten Auszeit noch an. Das Tempospiel, es war eine der großen und viel diskutierten Baustellen aus den Tagen, als nichts so recht und leicht von der Hand gehen wollte. "Komplett auf unser Tempospiel verzichtet" habe man gegen Island und Österreich, hatte DHB-Vorstand Axel Kromer zuletzt gesagt. Nun setzten die deutschen Spieler eine der Kernforderungen an sie um: Die zweite Welle liefen sie mit deutlich größerem Tempo und größerer Überzeugung als noch zuletzt, auch wenn nicht immer alles gelang. "Der Mut war der Schlüssel zum Erfolg", sagte Dahmke.
Wie war es in der Halle?
Der Funke müsse vom Feld auf die Ränge überspringen, hatten die deutschen Spieler gesagt. Zuletzt waren zweimal die Fans im deutschen Handball-Mekka Lanxess-Arena in Vorlage getreten, weil der Heimvorteil die deutsche Mannschaft mehr zu hemmen als zu beflügeln schien. Nun machten die Spieler den 19.750 Zuschauern ein Angebot, gemeinsames etwas Großes zu schaffen: Sie zeigten Emotionen, sie spielten eine unglaublich bewegliche, gegen die physisch gewaltigen Ungarn sehr körperliche Abwehr, liefen die zweite Welle engagierter.
Und wenn es wieder Fehlwürfe gab, hielten sie Kopf und Tempo oben. Ein Spiel wie eine Einladung, jede Aktion ein bisschen größer zu machen, als sie ist. Immer wieder animierten die Spieler ihre Fans, die dankten es mit lautem Jubel bei jeder gelungenen Aktion. Dazu feuerten sich die Deutschen immer wieder gegenseitig an. "Wenn das nur einer oder zwei machen, dann springt der Funke nicht über", sagte Rune Dahmke, einer der emotionalen Anführer des Teams. "Da müssen wir alle als Team weitermachen. Dann sind auch die Fans da." Heimvorteil eben.
Die Szene des Spiels
Das ganze Spiel lässt sich an einer Szene aus der 56. Minute erzählen: Der nach dem Österreich-Spiel schwer gescholtene (und sich schwer selbst scheltende) Kai Häfner bediente den überragenden Julian Köster per Kempa-Anspiel und Köster wuchtete den Ball, bedrängt von gleich zwei Ungarn, ins Tor. Es war eine gute Idee, es war Dynamik, es war großer Wille – und es war erfolgreich! Eine Energieleistung, als das Spiel schon entschieden war. Die Halle tobte und der Bundestrainer, der zuletzt noch sichtbar an seiner Mannschaft litt, grinste.
Quelle: ntv.de