
Elena Semechin schwimmt zum größten Erfolg - und muss das größte Tief hinnehmen.
(Foto: imago images/camera4+)
Von Himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt. Was Elena Semechin seit ihrer Goldmedaille bei den Paralympics erlebt, ist eine Achterbahnfahrt. Die Schwimmerin wird jetzt für ihre Erfolge geehrt. Doch abseits des glitzernden Rampenlichts warten Chemotherapie und Bestrahlung auf die 28-Jährige.
Es ist ein Hoch, eines von vielen in diesem Jahr. Ein Hoch nach krassem Tiefschlag: Elena Semechin wird zur Parasportlerin des Jahres gewählt und damit belohnt für ihre Goldmedaille im Schwimmen bei den Paralympics in Tokio. "Das ist eine tolle Auszeichnung", freut sich Semechin. Sie wird wohl auch geehrt für ihr Durchhaltevermögen, ihren unerschütterlichen Optimismus. Denn es ist kaum zu glauben, dass die Erlebnisse der Elena Semechin in ein knappes halbes Jahr passen.
Anfang September komplettiert die 28-Jährige ihren goldenen Medaillensatz, nach EM- und WM-Gold schwimmt die Berlinerin auch bei den Paralympics über 100 Meter Brust zu Gold. Ihre dritten Paralympics sind die vorläufige Krönung der Karriere der Frau, die da noch Krawzow heißt. Im Interview mit ntv/RTL erzählt sie: "Ich bin seit zehn Jahren dabei und trainiere jeden Tag hart für mein Ziel. Ich hatte ja schon wirklich davor alles erreicht: Weltmeisterschaft, Europameisterschaft, Weltrekorde. Das hatte ich schon alles. Und das einzige, was mir gefehlt hat, war tatsächlich diese Goldmedaille. Als ich dann realisiert habe, dass ich wirklich gewonnen habe, ist mir so eine Last von den Schultern gefallen."
Doch statt diesen Erfolg genießen zu können, plagen sie Kopfschmerzen. Was nach Untersuchungen Mitte Oktober herauskommt, ist ein Schock: Tumor im Kopf, eine Operation ist unausweichlich. Die Frau, die nur noch zwei Prozent Sehfähigkeit hat, Umrisse und Silhouetten sehen kann, verkündet die Diagnose in den Sozialen Netzwerken, bekommt massenhaft Zuspruch und Genesungswünsche, es scheint, als fiebere ganz Deutschland mit ihr mit.
"Spontanste Hochzeit überhaupt"
Und ihre Fans fiebern auch bei einem anderen Plan mit, den die Schwimmerin unbedingt vor der Operation verwirklichen will: Heiraten. "Vor der großen OP wollte ich heiraten, weil keiner wusste, wie ich anschließend aufwachen werde. Es waren wichtige Zentren neben dem Tumor wie zum Beispiel das Persönlichkeitszentrum. Und deswegen war mir das so wichtig, dass ich meinen Liebsten noch davor heirate."
Der Wettlauf mit der Zeit beginnt, "es war die spontanste Hochzeit überhaupt, wir haben an einem Montag geheiratet und wussten noch gar nicht, dass wir am Montag heiraten können". Die Standesbeamtin verschiebt für das Paar ihren Feierabend, die 28-Jährige und ihr Partner Philipp Semechin, der zugleich ihr Trainer ist, können getraut werden. Am Abend feiern sie in ihrem Lieblingsitaliener. "Ich habe den Moment sehr genossen, weil es mir eben so wichtig war zu heiraten. Und dann wurde ich ja schon am übernächsten Tag operiert."
Doch Chemo nötig
Die Operation verläuft gut, als Semechin erwacht, merkt sie schnell, dass "ich noch dieselbe Elena bin. Ich war einfach nur froh". Doch der nächste Rückschlag ist schon erfolgt: Anders als zunächst gedacht, muss Semechin jetzt doch zur Bestrahlung und zur Chemotherapie. "Das ist bitter an der Geschichte. Ich habe persönlich nicht damit gerechnet, dass ich noch eine Therapie mache, aber die Ärzte wollen sich sicher sein, dass der Tumor nicht noch mal wiederkommt." Der als gutartig eingeschätzte Tumor erweist sich als heimtückischer als gedacht. "Die Zellen verbreiten sich leider sehr schnell", erklärt Semechin ntv/RTL. Die anstehende Therapie ist notwendig, "damit eben ganz sicher ist, dass da nichts drin bleibt im Gehirn, was da nicht hingehört."
Zunächst einmal aber überwiegt die Freude und der Tatendrang nach der Operation. Es bildet sich zwar ein Abszess an der Wunde, Antibiotika werden nötig, doch Semechin folgt dem Ruf von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ins Schloss Bellevue. Nur zwei Tage nach ihrer Operation bekommt sie das Silberne Lorbeerblatt, die höchste deutsche Auszeichnung für Sportler, überreicht.
Der Spagat des Ehepaars Semechin
Es ist eine Ehrung für Jahre des harten Trainings. "Also ich muss gestehen, ja, es ist schon lästig, mit einer Sehbehinderung durchs Leben zu gehen, aber ich habe ja gar keine andere Wahl", sagt Semechin im Interview. Sie erklärt, welche Auswirkungen ihre fehlende Sehkraft für ihren Sport hat: "Im Wettkampf zeigt sich, dass ich natürlich die Wende nicht ganz so rechtzeitig sehe. Und die Technik zu erlernen, ist für mich auch extrem schwierig. Ich muss zum Beispiel manche Bewegungen erst mal an Land, am Körper irgendwie lernen, damit ich sie dann irgendwann im Wasser umsetzen kann." Ein Vorteil sei, dass die Schwimmbahnen immer gleich lang sind. "Aber natürlich habe ich mir schon etliche Male die Kapseln gerissen, Bänder gerissen oder meine Knochen gebrochen. Es gehört dann halt dazu, weil bei 50 Meter Freistil, da denkt man halt nicht daran vorsichtig anzuschlagen, sondern da macht man natürlich alles, was geht."
In diesen Wochen folgen weitere Ehrungen, bei denen Semechin gute Chancen hat. Nach der Parasportlerin des Jahres, wofür sie am Samstagabend im ZDF-Sportstudio geehrt wurde, steht sie auch als Berlins Sportlerin des Jahres zur Wahl. Ihr Mann könnte dort zum Trainer des Jahres gewählt werden, eine ganz besondere Konstellation. "Er ist natürlich mein Trainer und das muss man ganz klar trennen können", so die Schwimmerin. "Er ist schon streng, würde ich sagen, und erwartet natürlich auch viel Einsatz von seinen Sportlern. Aber ich denke, ich bin diszipliniert und gebe auch wirklich mehr als 100 Prozent beim Training, deswegen klappt das eigentlich immer ganz gut." Und zu Hause? "Da ist er ein liebevoller Mann, der sich wirklich um mich rührend kümmert. Für mich ist er auch in dieser schwierigen Situation eine ganz, ganz große Stütze. Ich bin sehr froh, dass ich nicht alleine durch diese Zeit gehen muss und dass ich da jemanden an meiner Seite habe."
Elena Semechin: Schwimmerin. Paralympics-Siegerin. Tumor-Patientin. Paraathletin des Jahres. Ehefrau. Ganz schön viel für ein knappes halbes Jahr.
Quelle: ntv.de