
Völlig klar, wer hier Gold gewonnen hat oder? Nein, denn die meisten sind wegen Dopings disqualifiziert.
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Corinna Harrer fühlt sich noch immer verfolgt, die Olympischen Spiele 2012 werden im Nachhinein zum bittersten Erlebnis der Deutschen. Immer mehr Konkurrentinnen werden des Dopings überführt, die Medaillen mehrfach neu vergeben. Erst in Paris gibt es eine Zeremonie - die jetzt schon wieder überholt ist.
Stellen Sie sich vor, Sie schauen ein Olympia-Finale - aber es nimmt kaum jemand teil. Das ist natürlich nur sinnbildlich gemeint, doch diesen Eindruck könnte man rückblickend auf die Olympischen Spiele 2012 bekommen. Lange wurde das 100-Meter-Finale der Männer von den Spielen in Seoul 1988 - mit Ben Johnson und nur zwei von acht Startern, die letztlich nicht des Dopings überführt wurden - als das schmutzigste Rennen der Geschichte bezeichnet. Doch das 1500-Meter-Rennen der Frauen von London ist diesem ebenbürtig. Würde man mithilfe moderner Technik alle Dopingsünderinnen wegretuschieren, wäre der Finallauf sehr leer.
Sechs der neun schnellsten Läuferinnen des Rennens sind inzwischen des Dopings überführt worden - fünf von ihnen wurden disqualifiziert und gesperrt. "Es ist einfach schwer, dieses Rennen überhaupt noch nachzuvollziehen", sagte schon 2017 eine, die hautnah dabei war, der "Süddeutschen Zeitung". Corinna Harrer ist selbst betroffen, mehr zu ihr später.
Papier ist geduldig, heißt es, und doch gibt es eine Ergebnisliste, die noch immer verändert wird - die das Schicksal der Unschuldigen nicht abbilden kann: Am Dienstag wurde die Russin Tatjana Tomaschowa disqualifiziert. Das Ergebnis der heute 49-Jährigen wurde gestrichen, sie verliert ihre nachträglich erhaltene Silbermedaille, teilte der Internationale Sportgerichtshof Cas mit. Tomaschowa wurde wegen gleich mehrerer Dopingvergehen für zehn Jahre gesperrt.
Wiederholungstäterinnen überführt
Die Russin war als Vierte ins Ziel gekommen, hatte dann aber von den Doping-Disqualifikationen der Türkinnen Asli Cakir Alptekin und Gamze Bulut profitiert und nachträglich Silber zugesprochen bekommen. Cakir Alptekin war nach dem Rennen als Olympiasiegerin geehrt worden, ihre Landsfrau hatte bei der Zeremonie die Silbermedaille um den Hals gehängt bekommen.
Gemeinsam haben Alptekin und Tomaschowa, dass sie Wiederholungstäterinnen sind. Die Russin, die bei Olympia 2004 Silber gewonnen hatte, war bereits 2008 für zwei Jahre gesperrt worden. Schon 2021 war bei Nachtests von 2012 dann Anabolika nachgewiesen worden. Die Ergebnisse der zweimaligen Weltmeisterin zwischen dem 21. Juni 2012 und dem 3. Januar 2015 werden gestrichen. Cakir Alptekin ihrerseits war 2004 positiv auf das Steroid Methenolon getestet und für zwei Jahre gesperrt worden. 2013 wurde sie dann mittels des biologischen Passes, in dem Ergebnisse von Blut- und Urinproben zusammengeführt und Manipulationen erkannt werden können, erneut des Dopings überführt. Ab 2010 wurden ihre Ergebnisse annulliert und sie für acht Jahre gesperrt. Ihr EM-Titel 2012, Bronze bei der Hallen-WM 2012 und der Olympiasieg - alles unrechtmäßig ergaunert.
Auch Natallia Kareiwa aus Belarus und Ekaterina Kostetskaya aus Russland wurden nachträglich wegen Doping disqualifiziert und gesperrt. Wer bleibt da eigentlich noch übrig aus dem Olympia-Finale? Die als Dritte ins Ziel gekommene Maryam Yusuf Jamal aus Bahrain ist seit den Disqualifikationen der Türkinnen die Olympiasiegerin, erst im Dezember 2021 bekam sie die Goldmedaille. Nachdem nun auch Tomaschowa disqualifiziert wurde, bekommt die Äthiopierin Abeba Aregawi Silber. Bronze geht zwölf Jahre nach dem dopingverseuchten Rennen an Shannon Rowbury aus den USA. Sie war am 10. August 2012 als Sechste über die Ziellinie gelaufen. Ihr Aufrücken aufs nur noch auf dem Papier mögliche Podest kommentierte die Amerikanerin bei Instagram mit drei heulenden Emojis.
Auch das derzeit gültige Podium ist nicht frei von Zweifeln. Denn Aregawi, die seit Ende 2012 für Schweden startete, war 2016 positiv auf das Herz-Kreislaufmittel Meldonium getestet worden. Ihre Sperre war nach wenigen Monaten aufgrund von geänderten Richtlinien der Welt-Anti-Doping-Agentur WADA wieder aufgehoben worden, weil es neue Erkenntnisse über die Abbaudauer der Substanz im menschlichen Körper gab und die erlaubten Grenzwerte angepasst wurden. Das kritisierten andere Athletinnen. Aregawi, die 2013 Weltmeisterin und 2014 Hallen-Weltmeisterin wurde, bestritt im Anschluss keine Rennen mehr. Offiziell ist sie wegen der Regularien keine Dopingsünderin.
Harrer beziffert finanziellen Schaden auf 30.000 Euro
Und was hat Corinna Harrer jetzt damit zu tun? Die Deutsche ist von den ganzen Betrügereien arg gebeutelt. Die Regensburgerin hatte den Vorlauf überstanden und sich ins Halbfinale gekämpft, war dort aber um 23 Hundertstel am Finale vorbeigeschrammt. Inzwischen ist klar: Sie hätte das Finale erreicht, hätte es die Gedopten nicht gegeben. "Ohne Worte ... zwölf Jahre später holt mich das Thema immer noch ein", schreibt sie bei Instagram.
Der "Süddeutschen Zeitung" sagte sie 2017: "Ich hätte eigentlich im Finale laufen müssen, und ohne Doping - wer weiß, wie das alles ausgegangen wäre. Letztendlich glaube ich, dass in einem sauberen Finale jeder eine Chance gehabt hätte. Die Chance wurde mir genommen." 2012 war das beste Jahr ihrer Karriere, weil das Finale deutlich langsamer war als die Vorläufe, hätte die damals 21-Jährige vorn mitmischen können.
Ihr wurde nicht nur eine mögliche Medaille verwehrt, sondern die Gedopten brachten sie auch um viel Geld. Der "Süddeutschen Zeitung" gegenüber bezifferte sie ihren finanziellen Schaden auf mindestens 30.000 Euro. "Als Finalistin hätte ich sicherlich noch ein paar Sponsoren herangezogen, oder diejenigen, die ich damals hatte, wären noch ein wenig höher gegangen mit ihren Zuwendungen. Ich hätte mehr Geld von der Sporthilfe erhalten, hätte bei den Trainingslagern meinen Physiotherapeuten und Trainer finanziert bekommen und nicht nur 200 Euro pro Jahr. Das hätte schon viel geändert", sagte Harrer.
Absurde Leistungssteigerung
Verdächtig war der Deutschen, die 2019 ihre Profikarriere beendete, seitdem aber als ambitionierte Hobbyathletin mehrere Marathons absolvierte, vor allem Cakri Alptekin schon ein Jahr vor den Olympischen Spielen. 2011 bei der Team-EM war sie ebenfalls über 1500 Meter im selben Rennen gestartet wie Harrer. Die Türkin lief damals 4:27 Minuten, ein Jahr später war sie eine halbe Minute schneller - eine unmögliche Leistungssteigerung.
Auch die Britin Lisa Dobriskey, die damals Zehnte wurde und inzwischen auf den fünften Platz vorgerückt ist, hatte ihre Zweifel - und diese sogar dem Leichtathletikverband mitgeteilt. "Ich habe sie kontaktiert und gefragt, wie sie schneller laufen konnte als zu der Zeit, als sie betrogen hatte", sagte sie 2017 dem "Independent". Auswirkungen hatte das nicht. Das schmutzigste Rennen seit 1988 hat Geschichte geschrieben.
Das Prestige und alles andere kann den betrogenen Athletinnen niemand mehr geben. Harrer, Rowbury, Dobriskey und Co. sind nicht die Einzigen, die unter Dopingsünderinnen litten. Aregawi erlebte erst während der Olympischen Spiele in Paris gemeinsam mit neun weiteren Olympioniken von den Spielen 2000 in Sydney, 2008 in Peking und 2012 in London eine besondere Zeremonie: Sie bekamen - teils mit 24 Jahren Verspätung - ihre Medaillen. Vor dem Eiffelturm, vor zahlreichen Zuschauern, eine kleine Wiedergutmachung für die ehemaligen Athleten aus der Leichtathletik und dem Gewichtheben. Im Fall von Aregawi ist sie besonders absurd: Sie bekam die Bronzemedaille überreicht. Nicht einmal vier Wochen später ist sie aber die Silbermedaillengewinnerin.
Quelle: ntv.de