
Von Selbstzweifeln keine Spur.
(Foto: REUTERS)
Auf den sensationellen Aufstieg zur Nummer eins der Tenniswelt folgt für Angelique Kerber ein Jahr zum Vergessen. Sie zieht die Reißleine, setzt alles auf Anfang. Nun steht sie im Halbfinale der Australian Open – und ist vielleicht stärker denn je.
Verzweifelt. Abgestürzt in der Weltrangliste, ein Schatten ihrer selbst. 2017, das war für Angelique Kerber ein Abstieg ohne Ausstieg. Ein Seuchenjahr, in dem sie an der Frage, ob sie überhaupt nochmal ein Match gewinnen würde, zu zerbrechen schien. Kerber hat die Notbremse gezogen, im vergangenen November. Sie hat alles auf Anfang gestellt und sich Zeit gegeben, die Gründe für ihr Scheitern in aller Ruhe zu analysieren. Sie hat die richtigen Konsequenzen gezogen. Statt sich in Selbstzweifeln zu verlieren, ist sie zurück in der Weltspitze, stärker vielleicht als zuvor.
Ausgerechnet bei den Australian Open, bei dem Turnier, wo sie mit ihrem Triumph 2016 endgültig in der Weltspitze angekommen war, steht sie nun wieder im Halbfinale – als Nummer 16 der Welt und als eine Spielerin, die im vergangenen Jahr 25 Matches verloren, aber kein Turnier gewonnen hat. Eine Spielerin, die noch im Oktober 2017 als ein Schatten ihrer selbst aufgetreten war. "Endlich ist es vorbei", hatte sie nach dem vorzeitigen Aus bei der inoffiziellen B-WM im Oktober unter Tränen hervorgebracht. Ob sie jemals den Weg zurück an die Spitze finden würde? Fraglich. Sie selbst wirkte nicht, als glaube sie daran. Sie, die ihre ärgste Kritikerin ist und so oft so negativ wird, wenn es nicht läuft, spielt nun in Melbourne um den Titel - als hätte es dieses verkorkste letzte Jahr nicht gegeben. Eine wundersame Wiederauferstehung im Schnelldurchlauf.
"Die Lockerheit war weg"
Sie sei mental nicht bereit gewesen, sagte Kerber über ihren Absturz, dem ein Gala-Jahr vorausgegangen war. Sieg bei den Australian und den US Open, die Silbermedaille bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro, dazu der Sprung an die Spitze der Tenniswelt. Dann, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, ging ganz plötzlich nichts mehr, wie die 30-Jährige dem Frauenmagazin "Emotion" sagte. "Die Lockerheit war einfach weg", mit jedem verlorenen Match habe sich der Druck weiter aufgebaut – ständig begleitet von dem Gefühl, den eigenen Erfolg noch gar nicht verarbeitet zu haben. "Leer und orientierungslos" habe sie sich gefühlt, räumte Kerber ein. Jahrelang hatte die Kielerin auf diesen Moment, diesen einen Grand-Slam-Titel, hingearbeitet, dann waren es plötzlich zwei – begleitet von der Frage, wie sie das noch übertrumpfen soll. "Meine Träume, die mich bis dahin angetrieben hatten, waren erfüllt. Ich musste eine neue Motivation finden, mich selbst neu finden."
Dass ihr das gelungen ist, dürfte für Kerber ein mindestens so großer Erfolg sein wie all die Titel aus dem Jahr 2016. Sie hat ihre mentale Stärke wiedergefunden, entscheidet plötzlich wieder enge Spiele für sich. Als sie in ihrem Viertrunden-Match gegen Su-Wie-Hsieh beim 4:6, 4:5 und 0:15 im zweiten Satz drei Punkte von ihrem Aus entfernt war, blieb sie fokussiert, wehrte sich und es gelang ihr tatsächlich, die Partie zu drehen. Geschafft hat sie das mit einer irren Willenskraft und der Bereitschaft, fast jeden Ball zu ersprinten.
Es ist diese Aggressivität aus der eigenen Defensive heraus, die Kerber in Bestform so stark macht – für ihre Gegnerinnen, wie zuletzt im Viertelfinale gegen die US-Open-Halbfinalistin Madison Keys, ist das zermürbend. Das 6:1, 6:2 in weniger als einer Stunde war eine Demonstration der eigenen Stärke, eine Lehrstunde: "Kerber brachte fast alles zurück und provozierte mich so zu Fehlern, weil ich dachte, immer noch härter schlagen zu müssen, um den Punkt zu machen. Dann spielte ich wieder, was ich bei anderen Gegnern sichere Bälle nenne. Aber die sind bei Kerber nicht sicher, bei denen bringt sie dich zum Laufen", sagte Keys. Gegen Kerber war sie in Melbourne genauso chancenlos wie Maria Scharapowa, die gegen die Deutsche lediglich vier Spiele gewann.
Trainerwechsel bringt die Wende
Ihre Widerauferstehung verdankt Kerber einer Entscheidung, die ihr sicher nicht leichtgefallen ist. Schweren Herzens trennte sie sich im November von ihrem Trainer Torben Beltz, der sie seit ihrer Jugend begleitet hatte, dazu gönnte sie sich eine Auszeit, in der sie fünf Wochen lang keinen Tennisschläger anfasste. "Ich brauchte das einfach", erzählte Kerber anschließend, sie wollte "erst wieder anfangen, wenn ich mental und körperlich wirklich bereit war, wieder richtig anzufangen." Dass sie den richtigen Moment abgepasst hat, belegen ihre vierzehn Siege in den letzten vierzehn Spielen eindrucksvoll.
Ihr neuer Trainer, der Belgier Vim Fissette, scheint genau den richtigen Hebel gefunden zu haben. Noch bevor es ans Training ging, setzten sich die beiden zusammen und analysierten, wie es zum Absturz gekommen war. "Bevor ich Angie zusagte, mussten wir noch klären, was 2017 eigentlich mit ihr passiert ist", sagte Fissette, der schon Sabine Lisicki 2013 ins Wimbledon-Finale geführt hatte. Er hat es geschafft, Kerbers Kopf frei zu kriegen, sie wieder von Spiel zu Spiel denken zu lassen und nicht so viel an das Darumherum.
Ob ihr der Siegeszug langsam unheimlich werde, wurde die Linkshänderin nach dem Match gegen Keys gefragt – ihre Antwort: "Ich weiß, wie hart ich in der Vorbereitung gearbeitet habe, ich weiß, was ich kann. Aber ich denke gar nicht darüber nach, wie viele Spiele ich schon gewonnen habe." Diese Fähigkeit, ihren Fokus ganz aufs Match zu legen – dazu eine überragende Fitness - das alles weckt Erinnerungen an die Kerber von 2016, auch wenn sie selbst keine Vergleiche ziehen mag.
Die braucht sie auch gar nicht, dass sie sich auf dem Platz wohlfühlt, sieht man ihrem Spiel wieder an. Vielleicht auch, weil sie neben dem Mentalen intensiv an ihren technischen Schwächen gearbeitet hat. Gemeinsam mit Fissette hat Kerber an ihrem Aufschlag gefeilt – seit jeher ihre Achillesferse. Ihr Service kommt nun mit mehr Tempo und präziser, setzt ihre Gegnerinnen beim Return unter Druck. Die Zielvorgabe für Kerber 2.0 ist generell, offensiver zu spielen, auch mal in riskanten Situationen Winner zu schlagen. Sie wolle wieder unberechenbarer werden, hatte Kerber vor Saisonbeginn gesagt – und kann sich ziemlich sicher sein, dass ihr das spätestens mit dem Einzug ins Halbfinale der Australian Open gelungen ist. Und vielleicht ist es dann auch egal, ob es jetzt schon mit dem dritten Grand-Slam-Titel klappt – zur neuen Kerber gehört auch das Selbstvertrauen zu wissen, dass es irgendwann schon so weit sein wird.
Quelle: ntv.de