Ausgerechnet in Wimbledon Kerbers wundersame Wiederauferstehung
05.07.2021, 13:21 Uhr
Angelique Kerber spielt in Wimbledon um und gegen die Zukunft.
(Foto: picture alliance / empics)
Angelique Kerber gelingt lange nicht viel, ihre Grand-Slam-Bilanz ist 2021 desaströs. Dann passiert in einer hessischen Kleinstadt etwas Wundersames. Nun ist Deutschlands beste Tennisspielerin zurück in der Spur und darf endlich mal wieder ein ganz großes Match bestreiten.
Angelique Kerber ist wieder da, wo sie hingehört, wo man sie aber nach schwierigen Monaten nicht mehr so recht erwartet hatte: "Es ist hier Gänsehaut. Ich habe hart gearbeitet in den letzten Monaten, um noch mal zurückkommen. Es hat sich gelohnt für diesen Moment hier auf dem Centre Court." Sagte die 33-jährige Kielerin letzte Woche, der Centre Court war da noch der im hessischen Bad Homburg. Eine eher kleine Bühne für eine ehemalige Nummer eins der Tenniswelt, eine dreimalige Grand-Slam-Siegerin. Heute steht Kerber endlich wieder auf dem Centre Court von Wimbledon, der mythischsten Tennisarena der Welt. Sie spielt am Nachmittag gegen das 17-jährige Wunderkind Cori Gauff. Kerber hat sich für ihr Achtelfinalmatch gegen viele Widerstände zurückgespielt auf die größte Bühne, die dieser Sport seinen Protagonistinnen zu bieten hat.
Der Weg dorthin war weit. Ende vergangenen Jahres schien er so weit, dass die Mühe leicht vergeblich schien. "Man trainiert, trainiert und am Ende des Tages ist oftmals nicht klar, wofür man eigentlich trainiert", beschrieb Kerber im Dezember die bleierne Zeit der Ungewissheit, ob und wie der Tenniszirkus wieder Fahrt aufnehmen würde. Es sei eine "Kunst", die Motivation hochzuhalten, räumte sie ein und blickte mit Skepsis auf Spiele ohne Zuschauer, ohne die gewohnten Emotionen: "Bei aller Dankbarkeit, wieder spielen zu dürfen, spüre ich natürlich, dass es nicht das ist, was ich kenne und was ich tatsächlich vermisse." Auch mit einem nahenden Karriereende beschäftigte sie sich schon. "Das will ich jetzt noch nicht so konkret sagen. Ich habe den Gedanken erst mal weggeschoben", sagte Kerber. "Aber wenn man schon mal daran gedacht hat, kann man es auch nicht löschen." Irgendwann werde sie "spüren", wann Schluss sein soll.
"Besser hätte es nicht laufen können"
Es waren verflixte Monate seitdem, in der Weltrangliste war Kerber nach vielen Erst- und Zweitrundenpleiten bis auf Platz 28 zurückgefallen. Eine große deutsche Tennislaufbahn, die größte seit Steffi Graf, drohte dem Ende entgegenzutrudeln. Der Auftaktsieg in Wimbledon gegen die Serbin Nina Stojanovic war das erste gewonnene Match bei einem Grand-Slam-Turnier in diesem Jahr. An der Church Road spielt Kerber nun so gut wie schon lange nicht mehr. So erfolgreich vor allem. Ihr Drittrunden-Comeback gegen die Belarussin Alexandra Sasnowitsch war ihr achter Erfolg in Serie. 2:6 ging der erste Satz verloren, nach einer Regenpause kam Kerber dagegen wie ausgewechselt zurück: Die folgenden Sätze gingen mit 6:1 und 6:0 glatt an sie.
In Bad Homburg, beim erstmals im Kurpark der hessischen Kleinstadt ausgetragenen Vorbereitungsturnier, hatte sie zuvor zum ersten Mal seit ziemlich genau drei Jahren wieder ein Turnier gewonnen. Ihr bis letzte Woche letzter Turniersieg: der Triumph in Wimbledon 2018, ihr dritter Grand-Slam-Titel.
Der Sieg von Bad Homburg war für Kerber auf vielfache Weise ein ganz besonderer. "Besser hätte es nicht laufen können, als bei meinem eigenen Turnier den Titel zu gewinnen", schwärmte sie gegenüber dem Hessischen Rundfunk. In Bad Homburg fungierte sie auch als Turnierbotschafterin, ihr Management veranstaltete die Premiere des Rasenturniers im ältesten Tennisklub auf dem europäischen Festland. Dort schlug sie im Halbfinale die Tschechin Petra Kvitova, ebenfalls eine ehemalige Nummer eins der Weltrangliste, nach über drei Stunden im Tiebreak des dritten Satzes - nachdem sie wenige Stunden zuvor erst ihr Viertelfinalmatch gegen die US-Amerikanerin Amanda Anisimova in ebenfalls drei langen Sätzen gewonnen hatte. Das Halbfinale gegen die zweifache Wimbledon-Siegerin Kvitova, es war der vielleicht noch etwas größere Erfolg als der glatte Sieg im Endspiel gegen die tschechische Außenseiterin Katerina Siniakova: "Ich denke, dass es schon sehr wichtig ist", räumte Kerber ein. "Dass ich mir selber gezeigt habe, dass ich solche enge Partien weiter gewinnen kann."
"Ich habe das Gefühl, ich kann's noch"
In Wimbledon, der traditionsreichen Stätte des Tennissports, an der große Karrieren beginnen, wie beispielsweise die eines Ewig-17-Jährigen aus Leimen, ist nun das gute Gefühl auch bei Kerber endgültig zurück. Im nahezu epischen Match in der zweiten Runde gegen Sara Sorribes Tormo habe sie schon während der 3:18 Stunden währenden Partie gemerkt, "dass das eines der besten Matches in den letzten Monaten von mir ist. Ich habe das Gefühl, ich kann es noch." Ja, ein "sensationelles Match" und eine "außergewöhnliche Schlacht" haben man sich geliefert, wie der Sender BBC staunte. "Die Deutsche fand zu der Form, die sie in der zweiten Woche zu einer Gefahr machen könnte."
Die zweite Woche, die beginnt nach dem traditionell (und zum letzten Mal) spielfreien Sonntag heute. Mit Kerber, die gegen die 15 Jahre jüngere Cori Gauff um ihre eigene kurzfristige Zukunft spielt und gegen die Zukunft des Damentennis. "Sie kämpft, sie gibt nicht auf, sie ist eine aggressive Spielerin. So wird sie auch große Titel in der Zukunft gewinnen", lobte Kerber ihre Gegnerin, die in der Weltrangliste schon fünf Positionen vor ihr geführt wird. "Das wird wirklich ein interessantes Match", sagte Kerber vor dem ersten Duell der beiden. "Sie ist gefährlich, besonders auf Rasen. Sie hat das Feuer." Das Feuer, es ist längst auch in der Deutschen wieder entfacht worden. Nach drei Siegen in London gilt sie manchem sogar schon wieder als Geheimfavoritin auf den ganz großen Wurf: den Titel und die legendäre Venus Rosewater Dish!
"Ich kann mir vorstellen, dass Angie noch einmal sehr erfolgreich zurückkommt, es könnte aber auch schnell zu Ende gehen", sagte die deutsche Damenchefin Barbara Rittner Ende 2020 im Interview von Spox. Der Weg zu einem Grand-Slam-Titel sei angesichts der großen Konkurrenz "noch mal viel schwieriger geworden". Die Frage sei, "wie lange sie sich Woche für Woche aufs Neue gegen diese ganzen Jungen behaupten will." Nun muss sich die deutsche Nummer eins mit einer der ganz Jungen und eben eine der derzeit besten einer ganz neuen Generation auseinandersetzen. Als Angelique Kerber im Mai 2003 in der Qualifikation für die "German Open" die Französin Marion Bartoli schlug und ihren ersten Sieg auf Profiniveau feierte, war Cori Gauff noch gar nicht geboren.
"Jede Runde ist ein Erfolg"
Kerber hat dieser Tage große Lust auf Tennis. Der ab dem Viertelfinale wieder bis auf den letzten Platz ausgelastete Centre Court wäre auf dem Weg ins Endspiel dann ihre bevorzugte Heimstätte und könnte alles noch etwas verstärken. Vor vielen Zuschauern macht es ihr ja am meisten Spaß. 600 waren es Corona-bedingt in Bad Homburg, der Centre Court von Wimbledon fasst knapp 15.000 Menschen. Noch wiegelt Kerber aber ab. "Ich konzentriere mich auf mich, das war von Anfang an das Ziel", sagte sie: "Ich versuche wirklich, auf meinem Weg zu bleiben." Zuvor hatte sie versichert: "Ich denke, in Wimbledon gibt es andere Topfavoritinnen. Wimbledon ist für mich Tag für Tag, jede Runde ist ein Erfolg."
Das klingt schon arg nach Altersweisheit, dem Anerkennen der Umstände nach harten Monaten und wenig berauschenden Jahren. Es kann aber eben auch Ausdruck der Gelassenheit sein, längst den Frieden mit einer immer und immer wieder herausfordernden Situation gemacht zu haben.
"Ich liebe Tennis. Das Herz und die Leidenschaft sind immer noch da", versicherte sie vor dem Wimbledon-Start t-online.de. "Wenn das Gefühl irgendwann da ist, dass ich nicht mehr kann oder nicht mehr möchte, dann werde ich diese Entscheidung ganz allein für mich treffen. Wer mich kennt, weiß, dass ich sie dann nicht von heute auf morgen treffen, sondern meinem Gefühl und meinem Herzen folgen werde", sagte Kerber zu ihren Gedanken über den Abschied vom Profitennis.
Der Wunsch, ein großes Turnier zu gewinnen, sei immer noch da, "auch Olympia in Tokio steht vor der Tür. Ein großes Finale in einem vollen Stadion wäre ein Traum. Ich werde mein Karriereende aber nicht davon abhängig machen, ob ich noch etwas gewinne." Ein Finale in einem vollen Stadion ist nur noch drei Siege entfernt. Angelique Kerber ist in der zweiten Turnierwoche die letzte verbliebene ehemalige Wimbledon-Siegerin im Feld. Das hätte vor ein paar Wochen auch niemand geglaubt.
Quelle: ntv.de