Die Vergessenen von New Orleans "Unfassbares Leid": "Katrinas" Furche des Todes frisst noch immer
08.02.2025, 18:52 Uhr
Eine Frau hält sich die Augen zu, als sie zwei Monate nach dem Wirbelsturm "Katrina" zum ersten Mal seit der Zerstörung durch ihr Viertel im Lower 9th Ward in New Orleans fährt.
(Foto: picture alliance / AP Photo)
Trauma, offene Wunden, Ärger: Auch 20 Jahre nach dem verheerenden Hurrikan "Katrina sind" die Narben in New Orleans nicht verheilt. Die Ärmsten leiden weiterhin unter den Folgen, die NFL ringt vor dem Super Bowl mit dem Erbe.
Plötzlich muss alles ganz schnell gehen. Panik. Chaos. Unsicherheit. "Wir haben unsere Taschen gepackt und sind mit dem Auto losgedüst", erinnert sich Jonique Johnson. Es geht ums nackte Überleben. Als der Wirbelsturm "Katrina" vor 20 Jahren, im August 2005, ihre Heimat in New Orleans verwüstet, flieht sie mit ihrer Familie nach Houston, Texas. Andere haben es nicht herausgeschafft, viele sterben - und die Überlebenden werden von der Politik alleingelassen.
"Jeder, aber wirklich jeder hier in der Nachbarschaft hat unfassbares Leid erfahren", sagt Johnson - eine klein gewachsene und fröhliche Frau, geboren und aufgewachsen im Lower 9th Ward, dem südlichen Teil eines mittlerweile berühmt-berüchtigten Bezirks in New Orleans. 17 dieser Viertel gibt es, Johnsons ist schon vor "Katrina" der ärmste und wird von dem Hurrikan am schlimmsten getroffen. Nun kämpft die 43-Jährige mit ihrer Hilfsorganisation Second Harvest, die gegen Ernährungsunsicherheit in Louisiana vorgeht, in Zusammenarbeit mit der NFL für den Wiederaufbau der Gemeinschaft, der immer noch nicht abgeschlossen ist. Die Football-Liga hat im Rahmen des Super Bowls einen Foodtruck - einen mobilen Supermarkt, weil es in der Ecke keinen einzigen Laden gibt - spendiert und organisiert ein Nachbarschaftsfest.
"Ernährungsunsicherheit und kein Zugang zu frischen Lebensmitteln und Produkten zu erschwinglichen Preisen sind hier große Hindernisse", sagt Trinity Montero, leitende Koordinatorin für soziale Verantwortung der NFL, bei dem Event gegenüber ntv.de. "Mit dem mobilen Supermarkt können wir der Gemeinschaft auch noch lange nach dem Super Bowl dienen." Liga-Boss Roger Goodell ist auch da, verteilt öffentlichkeitswirksam und unter großem Applaus zwei Tickets für das große Spiel am Sonntag und schiebt eine Seniorin im Rollstuhl herum.
"'Katrina' war die totale Disruption"
Doch die Wunden der Vergessenen von New Orleans sitzen auch zwei Dekaden nach der Katastrophe tief. "Wir wussten, dass 'Katrina' kommt", erzählt die heute 43-jährige Johnson im Gespräch mit ntv.de. "Aber wir haben die Zerstörung komplett unterschätzt. Ich habe Sachen für drei Tage gepackt und dachte, dass wir danach einfach zurückgehen. So kam es natürlich nicht. Das Wasser stand fast vier Meter hoch in unserem Haus." Wenn sie zurückdenkt, wird Johnson ernst. Vor allem der Verlust der Community, der Gemeinschaft, hat sie und ihre Heimat hart getroffen. Das wirkt bis heute nach.
Als der Wirbelsturm vor 20 Jahren über New Orleans hinwegfegt, haben weder die NFL noch sonst jemand in den USA vom neunten Bezirk, dem armen Gebiet abseits der Innenstadt, gehört. Dann verursacht der Hurrikan schwere Deichbrüche, durch die Wasserwellen in das Armutsviertel strömen und Menschen, Häuser und Autos wie Spielzeug herumwirbeln. Das Gebiet wird zum Symbol für das totale Chaos, die Furche des Todes und der Zerstörung, die sich der menschlichen Kontrolle entzog, und die Vernachlässigung der Armen und Schwarzen durch die Regierung.
Die erste Zwangsevakuierung in der Geschichte der Stadt wird angeordnet, 80 Prozent der Einwohner fliehen. Die Verbleibenden sind vor allem ältere und arme Einwohner. Schätzungsweise 1400 Menschen sterben, Millionen werden entlang der Golfküste und in New Orleans obdachlos. Der Lower 9th Ward, wo die meisten Menschen ertrinken, wird wegen der Dammbrüche von einer beinahe sechs Meter hohen Sturmflut getroffen. Die Welle reißt Häuser aus ihren Fundamenten und spült sie mit einer Urgewalt weg.
"Wir hatten dieselben Familien hier seit Generationen - und auf einmal waren sie einfach weg", sagt Johnson. "Lebensadern wurden zerstört. Die Verwurzelung und das Fundament waren weg. 'Katrina' war die totale Disruption", sagt Johnson. Viele, die vertrieben wurden, kehrten, anders als die Hilfsarbeiterin, nicht zurück. "Sie konnten nicht, weil sie sich vorher keine Versicherungen für ihre Häuser hatten leisten können. Sie standen mit nichts da."
Drama im NFL-Superdome
Die Flut, die den Bezirk verschluckt, verwandelt sich in eine stinkende Stille, die das Gebiet wie eine dicke Decke des Todes bedeckt. In den folgenden Tagen evakuieren Rettungskräfte bei quälender Hitze und Luftfeuchtigkeit Bewohner in den Superdome. Auf diese Weise ist die NFL mit dem Leid verstrickt. In dem Stadion, in dem am Sonntag das gigantische Football-Spektakel mit Pomp und Glitzer stattfindet, sind während und nach "Katrina" 20.000 Menschen bei großer Hitze eingepfercht. Es gibt kaum Trinkwasser, bewaffnete Banden terrorisieren die anderen dort "Gefangenen", die Sicherheitskräfte sind völlig überfordert.
Als das Wasser im neunten Bezirk nach Wochen abgeflossen ist, liegen verrottende Leichen, zerstörte Häuser und Dreiräder voller Schlamm in der apokalyptischen Stille. Die städtischen Inspektoren stufen die meisten Gebäude als "nicht sicher oder einsturzgefährdet" ein. Nach der Besichtigung der Zerstörung kommt der damalige Leiter der Bundesbehörde für Heimatschutz in New Orleans zu dem Schluss, dass "es dort nichts gibt, was gerettet werden kann".
Die historisch vernachlässigten, hauptsächlich afroamerikanischen Bewohner des Bezirks sehen das natürlich anders. Für sie bedeutet der Bezirk Heimat: Familie, Freunde, Gemeinschaft und Nachbarschaft. All das reißt "Katrina" Zähnen von ihnen. Tod und Unheil gehören nun zu ihren Biografien. "Keiner wusste, wie der Wiederaufbau und die Genesung aussehen sollen", erklärt Johnson. Aber ihr ist schon damals klar, dass eben doch einiges gerettet werden kann.
Wiederaufbau der Gemeinschaft noch immer nicht abgeschlossen
Die Debatten über den Wiederaufbau des stigmatisierten neunten Bezirks treten die in den USA bekannten Probleme von Rassismus und Klasse in den Vordergrund. Als Hausbesitzer in wohlhabenderen Vierteln die Mittel für den Wiederaufbau bekommen, fragen sich die Bewohner des Lower 9th, warum ihre Gemeinde stillsteht. Als der Bürgermeister einen Sanierungsplan ankündigt, der die Verantwortung für den Wiederaufbau der jeweiligen Viertel den Bewohnern überträgt, ist für die Evakuierten des Lower Ninth klar, dass privilegiertere, besserverdienende und vernetztere Gemeinden mal wieder bevorteilt werden.
Das Wie des Wiederaufbaus begleitet Jonique Johnson und ihre Community bis heute: "Die Frage lautet immer noch: Wann ist der Lower 9th Ward eine wirklich geheilte Gemeinschaft? Wir befinden uns immer noch im Wiederaufbau. Nicht von unseren Häusern, sondern unserer Gemeinschaft. Wir leben immer noch mit einer offenen Wunde." Die Hilfe von der Stadt war und ist ihrer Meinung nach immer noch zu gering, es fehle weiterhin an Infrastruktur und Investitionen. Die Hilfe der NFL ist nur ein Bruchteil.
Schlendert man in den Tagen des Super Bowls durch die ruhigen und teilweise verlassen wirkenden Straßen des Armutsviertels, sind auf dem Grasland tatsächlich immer wieder typische Stelzenhäuser zu sehen, die seit der großen Zerstörung nicht angefasst wurden. Sie rotten vor sich hin, sind längst von Gräsern und Gestrüpp überwachsen. Nach "Katrina" kehrt niemand für sie zurück. Niemand hat Kraft, Energie oder Geld, um sich zu kümmern.
"Immer noch nervös, wenn es stürmt"
Dass Second Harvest und die NFL die Ernährungsunsicherheit bekämpfen, findet auch Trent Burke wichtig. Adrett mit Schlips und Sakko gekleidet ist er einer der wenigen jungen Leute, die an dem Nachbarschaftsfest teilnehmen, bei dem die etwa 60 Senioren umsonst frische Lebensmittel aus dem mobilen Supermarkt mit nach Hause nehmen dürfen. Vorher gibt es Bingo und Tanz.
Burke ist dreieinhalb Jahre alt, als "Katrina" seine Heimat und die seiner Eltern und seiner Oma zerstört. "Der Verlust hat die damaligen Kinder wie mich bis heute geformt", sagt er gegenüber ntv.de. Auch bei ihm sind tiefsitzende Wunden noch nicht geheilt. "Als Kind habe ich das Trauma und die Tragik nicht wahrgenommen, aber sie wirken bis heute", erzählt Burke. "Als wir zurückgezogen sind, flippte ich jedes Mal aus und weinte, wenn es stark regnete. Das war vor 'Katrina' nicht so. Ich hatte Angst, dass wir wieder flüchten müssen. Ich werde immer noch nervös, wenn es donnert oder stürmt. Vielen anderen in meinem Alter geht es genauso oder sie haben andere Arten von Traumata."

Seniorinnen bei der Einweihung des Foodtrucks im Lower 9th Ward in New Orleans.
(Foto: David Bedürftig)
In New Orleans hat jeder eine persönliche Geschichte des Schreckens. Der Uber-Fahrer erzählt, wie er seine Schwiegermutter verlor und seinen 78-jährigen Vater aus der Innenstadt retten musste. Eine Frau im French Quarter erklärt, dass Houston der Ort ist, "zu dem sie immer evakuiert" und sie in den vergangenen fünf Jahren zweimal ihr Dach erneuern musste. Stürme, Fluten, Naturkatastrophen - das ist in New Orleans zur bitteren Realität geworden.
Offene Wunden 20 Jahre nach den Tagen des Todes. Das Leid ist nicht vergessen und wirkt in New Orleans, besonders im armen 9th Ward, bis heute nach. Das NFL-Nachbarschaftsfest findet in einer Straße, benannt nach Fats Domino statt. Die Legende des Blues und des Rock-n-Roll lebt bis zu seinem Tod 2017 in dem Armutsviertel. Während "Katrina" muss er von einem Hubschrauber aus seinem Haus gerettet werden. Anschließend sagt der Musiker: "Ich kehre bald wieder zurück. Hoffentlich. Ich glaube, ich werde den 9th Ward nie verlassen."
Quelle: ntv.de