
Alfred Gislason gefiel nicht, was er sah.
(Foto: picture alliance / SVEN SIMON)
Die deutsche Handball-Nationalmannschaft verliert zum ersten Mal ein Spiel in Köln - und produziert trotz des Einzugs ins EM-Halbfinale einen herben Stimmungsdämpfer. Gut, dass es zumindest rechnerisch um nichts mehr ging.
Was ist denn da in der Kölner Arena schon wieder passiert?
Selten war ein Spiel zwischen zwei großen Handball-Nationen bei einem großen Turnier so egal wie das Duell zwischen der deutschen Nationalmannschaft und Kroatien am letzten Spieltag der Hauptrundengruppe I. Gastgeber Deutschland steht als Gruppenzweiter im Halbfinale! Kroatien würde das Turnier ohnehin mit einer großen Enttäuschung als Letzter der Sechsergruppe abschließen. Rechnerisch war schon vor dem Anwurf alles geklärt.
Doch für die deutsche Mannschaft gibt es natürlich keine unwichtigen Spiele. Der Gastgeber muss und will performen, jetzt, die Medaillen vor Augen, geht das Turnier ja erst so richtig los, sagten sie. Und dann hat auch niemand vergessen, dass der Gastgeber zwar erfolgreich, aber nicht eben glorreich in diese Hauptrunde gestartet war. Der Thriller gegen Island, die Beinahe-Selbstzerstörung gegen Österreich - es war nicht alles Euphorie. Erst mit dem begeisternden 35:28 gegen Ungarn hatte man sich die Euphorie und das Selbstverständnis zurückgeholt, die man am Vorrundenspielort zurückgelassen hatte.
Bundestrainer Alfred Gíslason schickte zu Beginn des Spiels die erste Sieben aufs Feld, wechselte dann aber nach einem Stotterstart schnell reichlich durch. Bei der Europameisterschaft 2016, jenem mythischen Triumph der deutschen "Bad Boys", die sich aus dem Nichts gegen alle Widerstände zum Europameister gemacht hatten, hatten sie irgendwann die "Welle" getroffen. Die hatte sie zum Titel getragen. Gegen Kroatien surfte man nun wieder an der Welle vorbei.
Es tröpfelte so dahin - und dann zogen sie an: Sebastian Heymann tat die Sebastian-Heymann-Dinge, die sich der Bundestrainer erhoffte, die die deutsche Mannschaft von ihm braucht: Der Hüne versenkte Wurf um Wurf mit einer Vehemenz, die den TÜV Rheinland in Alarmbereitschaft versetzte, die Verkehrssicherheit der Kölner Tore noch einmal zu überdenken. Auch Linksaußen Rune Dahmke arbeitete nach zwei leichten Fehlwürfen hart, um eine schwache Quote zu reparieren. Und Andreas Wolff, der gegen Ungarn seinen ersten Ball erst nach 40 Minuten gehalten hatte? Der hatte nach fünf Minuten schon vier Paraden auf dem Konto. Es war okay.
In der zweiten Hälfte schickte der Bundestrainer dann nahezu seinen kompletten zweiten Anzug aufs Feld: Die vier U21-Weltmeister David Späth, Nils Lichtlein, Renars Uscins und Justus Fischer bekamen viel Spielzeit. Später ersetzte Jannik Kohlbacher Kreisläufer Fischer, das Spiel war da schon längst wieder emotional in die Egal-Phase eingetreten: wenig zwingende Abschlüsse, kleine aber teure individuelle Fehler. Dem Bundestrainer gefiel überhaupt nicht, was er da angeboten bekam: "Wer sich nicht konzentrieren kann, muss sich melden und kommt raus", schimpfte er in einer Auszeit. Personell änderte der Isländer nichts, sie sollten es selber regeln - und scheiterten. Die alte Angst hatte sich wieder eingeschlichen, mit schwachen Abschlüssen trieben sie Kroatiens starken Torhüter Dominik Kuzmanovic zu 22 Paraden. Das Publikum, das dem strauchelndem DHB-Team zuvor über manche Hürde geholfen hatte, wunderte sich. Euphorie oder wenigstens Partystimmung gabs da schon nur noch auf Knopfdruck.
Gíslason brachte gegen Spielende wieder sein Stammpersonal, doch das Spiel und die Stimmung konnten auch Golla, Köster, Knorr und Co. nicht mehr drehen. Es war ein herber Stimmungsdämpfer, den das DHB-Team produzierte. "Es fühlt sich extrem bescheiden an", sagte Rückraumspieler Kai Häfner. Man hätte gerne "den Schwung mitgenommen" fürs Halbfinale. Denn es geht in jedem Spiel um etwas. Mindestens darum, die Welle nicht aus den Augen zu verlieren. Ohne Welle, ohne Euphorie, das ist klar, wird die deutsche Mannschaft im Halbfinale Schiffbruch erleiden. Weltmeister Dänemark ist sein eigener Sturm, in dem jeder Gegner gnadenlos untergehen kann.
Was passierte, was auf keinen Fall hätte passieren dürfen?
Die Niederlage? Geschenkt. Sollte Deutschland bei dieser EM mehr erreichen als den Einzug ins Halbfinale, wird dieses Spiel nur noch in den Büchern auftauchen, nicht mehr aber in den edelmetallenen Erinnerungen. Was aber genau jetzt in den Köpfen ist, ist wieder diese elende Abschlussschwäche. Die hatten sie doch mit dem Sturmlauf aufs und notfalls bis ins ungarische Tor vertrieben geglaubt.
Sagenhafte 22 Paraden sammelte Kroatiens starker Torwart Dominik Kuzmanovic, neun Bälle brachten deutsche Angreifer gar nicht erst aufs Tor. Irgendwann sei wieder "das blöde Gefühl" dagewesen, sagte Philipp Weber. Das Gefühl, das die Sinne trübt und den Arm schwer macht. Genau das Gefühl, das du nicht gebrauchen kannst, wenn es auf höchstem Niveau um etwas geht.
Sein Team habe unglaublich viele klare Chancen vergeben, kritisierte Alfred Gislason. "Das ist für mich ein Zeichen fehlender Konzentration." Letztlich nahm Gislason die Niederlagen aber auch gelassen. "Das Spiel hat gar keine Auswirkungen auf das andere. Mir ist es, ehrlich gesagt, lieber so als hätte ich mit der ersten Sechs durchgespielt und ein Unentschieden geholt", sagte der 64-Jährige.
Was war heute los, Herr Europameister?
"Heute waren wir einfach nicht bereit für ein Europameisterschaftsspiel, so können wir nicht in ein Spiel gehen. Das nervt auch gerade", sagte ein arg angefressener Kai Häfner, der die deutsche Mannschaft 2016 erst zum Halbfinalsieg über Norwegen und dann zum Finaltriumph gegen Spanien geschossen hatte. "So darfst du kein Heimspiel bestreiten. So dürfen wir uns nicht präsentieren."
Es sei ein "tolles Gefühl gewesen", schon vor dem Spiel das Halbfinale sicher gehabt zu haben, "aber das hat anscheinend doch was mit uns gemacht. Insgesamt sind wir als Mannschaft gescheitert. Wir haben uns alle zehnmal vorgesagt, dass wir in dieses Spiel gehen müssen, um es zu gewinnen. Aber daran sind wir als Mannschaft gescheitert."
Die Entschuldigung des Abends:
"Es tut mir ehrlich gesagt leid, für jeden, der heute da war und sich Tickets gekauft hat", sagte Juri Knorr nach dem Spiel noch auf dem Feld über das Hallen-Mikrofon. "Wir sind im Halbfinale, aber vielleicht haben wir uns davor zu viel damit beschäftigt und im Kopf abgeschaltet. Das tut mir und uns allen extrem weh." Das sei "nicht die Mentalität" gewesen, "mit der wir heute spielen wollten, aber wir haben es nicht besser gemacht". So könne man "nicht noch einmal spielen". Die Konstellation habe "natürlich eine große Rolle gespielt", gab Knorr offen Einblick in die Psyche der Mannschaft. "Eine große Mannschaft, die wir werden wollen, gewinnt auch so ein Spiel. Oder geht wenigstens mit der Mentalität in ein solches Spiel, alles zu geben. Das haben wir heute nicht getan."
Was macht Hoffnung, Herr Europameister?
"Ich finde es sehr schade, dass wir dieses Spiel verloren haben. Aber es ist kein Genickbruch", sagte Rune Dahmke, der die deutsche Mannschaft 2016 von Linksaußen aus spitzem Winkel im Halbfinale gegen Norwegen auf dem Weg zum Titel erst in die Verlängerung geschossen hatte. "Wir spielen in zwei Tagen gegen zwei der besten Torhüter der Welt, im Halbfinale daheim, da schießt du die zur Not am besten einfach mit rein." Und: "Wir müssen übers Kollektiv kommen, über den Kampf. Ich glaube, dass wir eine Chance haben. Die Fans können uns beflügeln wie nichts anderes. Zusammen haben wir hier schon ein paar gute Momente gehabt. Da werden auch die Dänen irgendwann merken, dass sie aufpassen müssen." Es sei auch "keine schlechte Ausgangssituation, ein EM-Halbfinale zuhause zu spielen und dabei keinen Druck zu haben. Alle erwarten, dass Dänemark gewinnt, der Druck liegt ganz bei ihnen."
Gab es auch eine gute Nachricht aus deutscher Sicht?
Juri Knorr grinste. Es lief die 28. Minute, als der fröhliche deutsche Spielmacher überlebensgroß auf dem Videowürfel über dem Mittelkreis gezeigt wurde. Da war Knorr auf dem Feld längst durch Philipp Weber ersetzt worden. Es war die Gelegenheit, mal zu staunen. Was Knorr, auf dem Feld ein ernster, streng fokussierter Wettkämpfer, abseits des Feldes ein eher nachdenklicher, zurückhaltender Typ, so begeisterte? Es war Sebastian Heymann, der aus stattlicher Distanz eingenetzt hatte.
Üblicherweise und manchmal völlig willkürlich, verkündet der Hallensprecher die Geschwindigkeit, wenn besonders spektakuläre Tore fallen. Diesmal nicht. Es war anzunehmen, dass Heymanns Brandfackel die Messgerätschaften schlicht überfordert hatte. Nachmessungen ergaben die Geschwindigkeit von mindestens 1 Knorr. Bundestrainer Alfred Gíslason hatte seinem Rückraumspieler bereits den "wahrscheinlich härtesten Wurf dieser EM" bescheinigt.
Schon gegen Ungarn hatte Haymann seinen Wert für die deutsche Mannschaft unter Beweis gestellt - und mit großer Überzeugung vier Treffer aus vier Versuchen erzielt. "Du kannst noch ganz wichtig für uns werden", habe der Bundestrainer ihm gesagt, berichtete er jüngst. Heute war es nicht wichtig, da war es auch zu verschmerzen, dass sich auch Heymann technische Fehler und Fehlwürfe leistete. Er wird noch seine Momente haben, wenn es wieder drauf ankommt. Und dann freut sich auch Juri Knorr wieder.
Und da war doch noch was, oder?
Die deutsche Handball-Nationalmannschaft steht im Halbfinale der Heim-Europameisterschaft. Daran ändert auch der herbe Stimmungsdämpfer nichts. Zum ersten Mal seit 2019 steht Deutschland damit wieder unter den vier besten Teams bei einem Turnier. Und im Handball ist die Europameisterschaft wegen der gewaltigen Leistungsdichte spektakulärer und auch komplizierter als eine Weltmeisterschaft. Es war das Minimalziel, hinter dem sich alle versammelt hatten. Ein großer Erfolg! "Wir können sehr zufrieden sein, denn wir haben etwas Schönes geschafft", frohlockte Torwart Andreas Wolff. Und Spielmacher Juri Knorr erklärte: "Es ist das Geilste auf der Welt, ein Halbfinale vor unseren Fans spielen zu dürfen. Das macht mich sehr stolz." Und das Turnier ist noch nicht zu Ende ... Schimmert die Erinnerung an die Heim-EM 2024 am kommenden Sonntag edelmetallen?
Warum war dieses Spiel nochmal rechnerisch so völlig egal?
Die Konstellation vor dem Spiel war "absurd", wie es DHB-Sportvorstand Axel Kromer korrekt benannte: Aufgrund komplizierter Regularien stand auf einmal im Raum, dass Kroatien sich mit einem Sieg über die deutsche Mannschaft selbst hätte schaden können. Auf ihrem Weg zu einem Qualifikationsturnier für die Olympischen Spiele im Sommer nämlich. Gefährlich wäre es für Kroatien, das noch auf einen Nachrückerplatz für eines der Turniere hofft, wenn man Österreich durch einen Sieg über Deutschland einen Platz im Halbfinale verschafft hatte.
Ja, es ist kompliziert. Und ja, es war absurd. Durch Österreichs Niederlage gegen Island am Nachmittag hatte sich die Situation entspannt. Das Duell zwischen Kroatien und dem DHB-Team war dann rechnerisch so egal, dass Kroatien es auch bedenkenlos hätte gewinnen können.
(Hier können Sie noch einmal tiefer in die Thematik einsteigen.)
Quelle: ntv.de