EM-Finalkrimi im Schnellcheck Du dramasüchtiger, sensationsgeiler Fußballgott
12.07.2021, 00:16 Uhr
Elfmeterheld Donnarumma lässt sich feiern.
(Foto: Pool via REUTERS)
Elfmeterschießen in Wembley: gehaltene Strafstöße, Pfostenschüsse - Ekstase! Fußballgott, welche Sensationsgier hat Dich heute angetrieben? England ist kurz davor das nationale Trauma zu beenden. Dann schlägt Italien zurück und sichert sich auf dramatischste Art und Weise den EM-Titel.
Was war los in Wembley?
London drehte komplett am Rad: Bereits viele Stunden vor dem Anpfiff feierten Zehntausende englische Fans in London das erste Finale der Three Lions bei einem großen Turnier seit 1966. Alle Lieder von "Football's coming home" über "You'll never walk alone" bis hin zu "Sweet Caroline" werden angestimmt. Die Italiener kontern mit "Football's coming to Rome".
Dabei wurde nicht nur auf Abstand und Masken verzichtet, mancherorts flogen Feuerwerkskörper und Flaschen. Ganze Plätze und Straßen wurden zugemüllt, Alkohol floss in rauen Mengen. Die Feier dürfte laut Virologen zum Superspreader-Sonntag werden, weil Menschen aus allen Teilen des Landes nach London kamen.
An Wembley selbst stürmten einige Fans (mutmaßlich ohne Tickets) das Stadion, die Polizei schien in zu geringer Zahl vertreten zu sein und konnte die Zuschauer zunächst nicht aufhalten. Ein Sprecher des Wembleystadions bestätigte "einen Vorfall" am äußeren Sicherheitsring, es seien jedoch keine Fans ohne Eintrittskarten ins Stadion gelangt.
Für Italien, die bei der WM 2018 nicht mal qualifiziert waren, ging es um mehr als einen EM-Titel. Das Land hatte wie kein anderes unter der Corona-Pandemie gelitten. Fußball-Legenden wie Dino Zoff schrieben vor dem Endspiel einen offenen Brief an die Mannschaft und dankten ihr für ihren Mut und die Zuversicht, die damit aufs Land überschwappe. Von drei EM-Finals hatte die Squadra Azzurra vorher nur eines gewonnen.
Ein wenig überraschend bot Gareth Southgate dann Kieran Trippier für Bukayo Saka auf. Damit stellte der Trainer der Three Lions wie gegen Deutschland auf ein 3-4-3 um (defensiv ergibt das eine Fünferkette). Italien ging mit der siegreichen Elf des Halbfinals gegen Spanien aufs Feld.
Nach 90 Minuten und einer intensiven Verlängerung stand es nach den Toren von Luke Shaw und Leonardo Bonucci 1:1. Elfmeterschießen in Wembley also. Mehr geht nicht. Mehr Spannung, mehr Dramatik, mehr Emotionen hätte sich vorher niemand ausdenken können.
Und wie der Fußball so spielt, verschoss England seine letzten drei Elfmeter und konnte sein Trauma nicht besiegen. Die schier unbesiegbaren Italiener holten als insgesamt stärkste Mannschaft des Turniers verdient ihren zweiten EM-Titel nach 1968.
Schema
Italien: Donnarumma/AC Mailand (22 Jahre/33 Länderspiele) - Di Lorenzo/SSC Neapel (27/13), Bonucci/Juventus Turin (34/109), Chiellini/Juventus Turin (36/112), Emerson/FC Chelsea (26/19) ab 118. Florenzi/AS Rom (30/45) - Barella/Inter Mailand (24/29) ab 54. Cristante/AS Rom (26/17), Jorginho/FC Chelsea (29/35), Verratti/Paris St. Germain (28/45) ab 96. Locatelli/Sassuolo Calcio (23/15) - Chiesa/Juventus Turin (23/32) ab 86. Bernardeschi/Juventus Turin (27/34), Immobile/Lazio Rom (31/52) ab 55. Beradi/Sassuolo Calcio (26/17), Insigne/SSC Neapel (30/47) ab 91. Belotti/FC Turin (27/39); Trainer: Mancini.
England: Pickford/FC Everton (27/38) - Walker/Manchester City (31/61) ab 120. Sancho/Borussia Dortmund (21/22), Stones/Manchester City (27/49), Maguire/Manchester United (28/37) - Trippier/Atletico Madrid (30/33) ab 70. Saka/FC Arsenal (19/9), Phillips/Leeds United (25/15), Rice/West Ham United (22/27) ab 74. Henderson/FC Liverpool (31/64) ab 120. Rashford/Manchester United (23/46), Shaw/Manchester United (25/16) - 19 Mount/FC Chelsea (22/21) ab 99. Grealish/Aston Villa (25/12), Kane/Tottenham Hotspur (27/61), Sterling/Manchester City (26/68); Trainer: Southgate.
Schiedsrichter: Björn Kuipers (Niederlande)
Tore: 0:1 Shaw (2.), 1:1 Bonucci (67.)
Zuschauer: 67.173 (in London)
Elfmeterschießen: 1:0 Beradi, 1:1 Kane, Pickford hält gegen Belotti, 1:2 Maguire, 2:2 Bonucci, Rashford schießt gegen den Pfosten, 3:2 Bernardeschi, Donnarumma hält gegen Sancho, Pickford hält gegen Jorginho, Donnarumma hält gegen Saka
Der Krimi im Spielfilm:
2. Minute: Toooooooooooooor für England: 1:0 Luke Shaw.
Was für ein Beginn, jetzt rasten in Wembley alle aus! Nach einer italienischen Ecke kontern die Three Lions über Shaw und Harry Kane. Die Flanke von rechts landet dann wieder beim aufgerückten und alleingelassenen Shaw, der den Ball trocken per Dropkick ins linke Eck knallt. Italien liegt zum ersten Mal bei der EM mit 0:1 hinten.
8. Minute: Ein italienischer Freistoß von Lorenzo Insigne saust knapp über das englische Tor.
15. Minute: Die Squadra Azzurra ist bemüht, das Spiel in den Griff zu bekommen. Vorne findet sie aber überhaupt kein Durchkommen.
22. Minute: Italiens Strippenzieher Jorginho wird lange am Knie behandelt, kann aber weitermachen.
28. Minute: Insigne versucht es mal aus etwa 30 Metern. Völlig ungefährlich.
34. Minute: Mason Mount und Raheem Sterling versuchen es mit einem Doppelpass, am Ende ist aber ein Italiener dazwischen. Die erste offensive Szene für die Three Lions seit einigen Minuten.
35. Minute: Die beste Chance für die Italiener: Federico Chiesa setzt sich stark gegen mehrere Gegenspieler durch und zieht Richtung englisches Tor. Mit links zieht er aus 20 Metern ab, sein Schuss rauscht knapp am rechten Pfosten vorbei.
45. Minute: Italien wird stärker und hat gute Ballbesitzphasen. Eine Großchance springt aber noch nicht heraus, weil England tief und kompakt steht. Es gibt vier Minuten Nachspielzeit.
Halbzeit
51. Minute: Sterling checkt Insigne von hinten um. Den Freistoß aus aussichtsreicher Position schießt der Gefoulte knapp drüber. Italien kommt stärker als zuvor aus der Kabine.
57. Minute: Richtig gute Chance für die Italiener: Chiesa wird zunächst geblockt, aber Insigne schnappt sich den Abpraller und knallt die Kugel aus kürzester Distanz und spitzestem Winkel an Pickfords Fäuste.
62. Minute: Chiesa mit einer starken Einzelaktion. Mehrmals verzögert der junge Stürmer im Strafraum, um dann präzise mit rechts abzuschließen. Pickford kann gerade noch abtauchen und klären.
67. Minute: Toooooooooooooooor für Italien: 1:1 Bonucci.
Ecke Italien auf den ersten Pfosten, dann ist Tohuwabohu. Chiellini wirft sich rein und verpasst. Der Kopfball von Verratti landet am Pfosten. Anschließend reagiert Bonucci aus kürzester Distanz am schnellsten. Der mittlerweile verdiente Ausgleich.
73. Minute: Die Italiener schnuppern an der Wende. Bonucci schickt Berardi per Steilpass lang. Mit einem eingesprungenen Karatekick ist der Eingewechselte vor dem zögernden Pickford am Ball, schießt aber über das Tor.
87. Minute: Ein Flitzer schafft es oberkörperfrei auf den Platz und entwischt mehreren Ordnern, bis er abgeführt wird.
90. Minute: Beide Teams gehen kaum noch ins Risiko. Sechs Minuten Nachspielzeit gibt es.
Abpfiff, Verlängerung
96. Minute: Nach einem Fehlpass der Italiener startet Sterling durch. Chiellini grätscht ihn im letzten Moment ab und feiert sich. Nach der anschließenden Ecke saust ein Fernschuss von Philips am rechten Pfosten vorbei.
104. Minute: Beste Chance der Verlängerung: Emerson setzt sich links gut durch und flankt scharf in die Mitte, wo Pickford etwas unsicher gerade noch so vor Bernadeschi klärt. Das war verdammt knapp.
107. Minute: Bernadeschi zieht aus der Distanz ab, Pickford lässt die Kugel nach vorne abprallen, hat sie aber im Nachfassen.
108. Minute: Doppelchance: Grealish wird zunächst geblockt. Dann kann Donnarumma eine gefährliche England-Flanke gerade noch so wegfausten. Es ist wieder etwas mehr Feuer drin im Finale. Die Spannung ist greifbar. Es knistert in Wembley.
Abpfiff, Elfmeterschießen
Berardi, 1:0. Kane, 1:1.
Pickford hält den Elfmeter von Belotti
Maguire, 2:1. Bonucci, 2:2.
Rashford schießt den Elfmeter an den Pfosten
Bernadeschi, 3:2.
Donnarumma hält den Elfmeter von Sancho
Pickford lenkt den Elfmeter von Jorginho an den Pfosten
Donnarumma hält den Elfmeter von Saka
ITALIEN IST EUROPAMEISTER
Was war gut, Halbzeit I?
England. Die Systemumstellung gelingt hervorragend. Die Spieleröffnung und -gestaltung über die hohen Außenverteidiger stellt die Italien besonders anfangs vor große Probleme. Der aufgerückte Linksverteidiger Shaw erzielt dafür sinnbildlich das 1:0, weil bei den Italienern sich niemand für ihn zuständig fühlt. Zusätzlich lässt sich Kane clever fallen und verteilt die Bälle auf die Außenbahnen, die dadurch viel Platz bekommen. Die historische Chance scheint die jungen Three Lions eher zu beflügeln als zu belasten.
Besonders gut: die englische Defensive. Im gesamten Turnier hatte sie erst ein Gegentor hinnehmen müssen und auch gegen Italien schafft England es, bei eigenen Ballverlust schnell mit der kompletten Mannschaft hinter den Ball zu kommen und Druck auf das Spielgerät aufzubauen. Dann wird beinhart mit einer Fünferketter und drei defensiven Mittelfeldmännern um den bärenstarken Declan Rice davor verteidigt. Spielt die Squadra Azzurra den Ball vom eigenen Tor heraus, steht England hoch und mannorientiert. Die Spielgestaltung Italiens wird dadurch immer wieder effektiv gestört.
Was war schlecht, Halbzeit I?
Italien. Die Squadra Azzurra findet keinen Zugriff auf das umgestellte 3-4-3 bzw. 3-5-2 von England. Trippier und Shaw haben viel zu viel Platz auf den Außenbahnen und das Team von Roberto Mancini lässt sich besonders in den ersten 20 Minuten zu einfach überspielen.
Die italienischen Gegenstöße funktionieren überhaupt nicht. England schafft es, sofort Überzahl zu kreieren. Der Squadra Azzurra fehlt die Durchschlagskraft, das Tempo und die Tiefe. Ohne die Umschaltmomente haben die Italiener gegen die kompakte englische Defensive aber kaum eine Chance.
Was war gut, Halbzeit II?
Italien. Endlich zeigt die Mannschaft, was sie im Turnier ausgemacht hat. Italien nimmt nach der Pause Fahrt auf und agiert von Beginn an vorne viel druckvoller und kombinationssicherer. Das variable Positionsspiel, das die Italiener stark gemacht hatte während der gesamten EM, bringt das Team nun wieder auf den Platz. Die starken Offensivkräfte, der Mut, der Wille Fußball zu spielen sind zurück.
Kleine Umstellungen im System und Wechsel kurz nach der Pause zeigen direkt große Wirkung: Die Squadra Azzurra baut nun zu dritt auf, steht höher und postiert mehr Spieler um den zugestellten Strafraum der Engländer. Vor allem hauen die Italiener sich nun mit viel Herz in jeden Ball und kämpfen sich dadurch zurück ins Spiel. Der Teamgeist der Mannschaft beeindruckt wieder einmal. "Chemie der Mannschaft muss stimmen", sagt Mancini über seine Elf. Die zweite Hälfte liefert ihm den Beweis, dass sein Team ihn erhört hat.
Was war schlecht, Halbzeit II?
Nach der Pause agiert England viel zu passiv und steht zu tief. Offensivaktionen oder - impulse finden überhaupt nicht mehr statt. Die Akkus wirken leer. Erst nach dem italienischen Ausgleich wachen die Three Lions wieder auf.
Was war gut, Verlängerung?
Die Spannung. Der Kampf. Die absolute Dramatik.
Was war gut, Elfmeterschießen?
Die Torhüter und der auf Emotionen und Sensation stehende Fußballgott. Englands Jahre des Schmerzes gehen ausgerechnet wegen eines Elfmeterschießens weiter. Italien weint Tränen der Freude.
Wie war der Schiedsrichter, Herr Feuerherdt?
In seinem bereits neunten (!) internationalen Finale zeigte Björn Kuipers eine herausragende Leistung, findet unser Schiedsrichter-Experte Alex Feuerherdt von "Collinas Erben". Angemessen großzügig bei der Zweikampfbewertung, damit ganz auf der Linie des Turniers. Der 48-jährige Niederländer ließ sich von diversen leichten Fallern, insbesondere von Sterling, nicht ins Bockshorn jagen und blieb unbeeindruckt bei seiner Auslegung. Besonders stark war das in der 48. Minute, als Sterling von Bonucci und Chiellini im italienischen Strafraum leicht gehalten wurde, zudem an Bonuccis Bein hängen blieb und zu Boden ging. Eine Situation, bei der sich vermutlich viele an das Halbfinale zwischen England und Dänemark erinnert fühlten, in dem Sterling in einer ganz ähnlichen Situation einen höchst umstrittenen Strafstoß zugesprochen bekam. Kuipers entschied anders und lag damit goldrichtig, denn die Körperkontakte gegen Sterling in dieser Situation waren nicht ursächlich für dessen Sturz.
Geradlinig und konsequent bei den persönlichen Strafen, auch Gelb statt Rot gegen Jorginho in der 113. Minute geht in Ordnung: Weil der Italiener bei seinem Tackling unglücklich vom Ball abrutschte, war der anschließende Tritt auf Grealishs Oberschenkel eher ein Unfall als ein brutaler Körpereinsatz. Sehr fokussiert und mit klarer Körpersprache, lag in einer fordernden und intensiven Partie in sämtlichen spielentscheidenden Situationen richtig. Die Krönung einer großartigen Karriere.
Quelle: ntv.de