Fußball

Was steckt hinter dem Mythos? Als im Ersten Weltkrieg das Weihnachtswunder die Zeit anhielt

Verbrüderung von deutschen und britischen Soldaten an Weihnachten 1914.

Verbrüderung von deutschen und britischen Soldaten an Weihnachten 1914.

(Foto: IMAGO/Gemini Collection)

Fußball an der Front? Vor genau 110 Jahren beschließen deutsche und britische Soldaten im Ersten Weltkrieg einen spontanen Weihnachtsfrieden. 1914 treffen sie sich im Niemandsland - und ein Fußball gibt verängstigten jungen Männern kurz das Gefühl, wieder Mensch zu sein.

Schützengräben, Panzer, Flugzeuge, U-Boote, Maschinengewehre, moderne Artillerie, Flammenwerfer und Giftgas. Das war der Erste Weltkrieg. Er bedeutete Angst, Horror und Tot für Soldaten und Zivilisten in Europa, Vorder- und Ostasien, Afrika und auf den Ozeanen. Mehr als neun Millionen Soldaten, Matrosen und Flieger starben. Schätzungen zufolge kamen weitere fünf Millionen Zivilisten durch Besatzung, Bombardierungen, Hunger und Krankheiten ums Leben.

Die Geschichte und das Leid dürfen nicht verklärt werden - und so ist die folgende Chronik, das nahezu romantische Bild von Feinden, die sich mitten im Niemandsland die Hand geben, nur ein winziges Fragment aus den Jahren des Gräuels: Dennoch ist eine der bekanntesten Geschichten über den Ersten Weltkrieg, eine positive, die des Weihnachtsfriedens von 1914. Als Soldaten beider Seiten, Deutsche, Briten und Franzosen, an verschiedenen Ort - hauptsächlich an der französisch-belgischen Grenze - spontan ihre Waffen niederlegten und zumindest für ein paar Stunden so taten, als würden sie nicht versuchen, sich gegenseitig in einem grausamen Krieg umzubringen.

Deutsche und britische Soldaten trafen sich 1914 im Niemandsland.

Deutsche und britische Soldaten trafen sich 1914 im Niemandsland.

(Foto: IMAGO/Gemini Collection)

Eine Rolle bei diesem Weihnachtswunder vor genau 110 Jahren soll auch der Fußball gespielt haben. Vor allem in England, aber in den vergangenen Jahren auch in Deutschland, hat sich diese besondere Geschichte ihren Weg in die Erzählung des Ersten Weltkriegs gebahnt. In Belgien gibt es gleich mehrere Denkmäler. Allerdings ranken sich verschiedene Mythen um das Ereignis - und ein richtiges Fußballspiel hat wahrscheinlich nie stattgefunden.

"Morgen schießt ihr nicht, wir schießen nicht"

Leben, kämpfen und sterben im schlammigen und von Krankheiten verseuchten Schützengraben prägte und schädigte Anfang des 20. Jahrhunderts eine Generation von jungen Männern in Europa. Raubte vielen von ihnen den Glauben an die Menschlichkeit. "Zehntausende Frontsoldaten im Niemandsland zwischen den feindlichen Linien waren namenlose Tote, in den Statistiken galten sie als 'vermisst'", schreibt das Deutsche Historische Museum auf seiner Homepage. "Ihre überlebenden Kameraden waren den psychischen und physischen Belastungen des Kriegs häufig nicht gewachsen. Viele verloren den Verstand, andere schreckten vor Selbstverstümmelung nicht zurück, um dem Tod oder schweren Verwundungen zu entgehen."

Der Bereich zwischen den Schützengräben der gegnerischen Armeen, der manchmal nur etwa 30 Meter maß, war aus gutem Grund als "Niemandsland" bekannt. Jeder fürchtete den Befehl, aus dem Graben heraus in Richtung feindliche Linie zu müssen. Dass an jenem Weihnachten 1914 Soldaten aus Deutschland und Großbritannien ihre Angst überwanden und sich in dieser Zone des Todes trafen, die Hände schüttelten und Kuchen, Zigaretten und Whisky teilten, was durch Briefe, Fotos und Zeitungsartikel zweifellos belegt wurde, ist für sich schon bemerkenswert. Ob mit oder ohne Fußball.

Darüber, wie sich die meist jungen Männer vor 110 Jahren zum friedlichen Stelldichein durchrangen, gibt es verschiedene Versionen. Die am weitesten verbreitete entspricht in etwa der vom britischen Private Leslie Walkinton, wie sie im Buch "The True Story of the Christmas Truce" (Die wahre Geschichte vom Weihnachtsfrieden) von Anthony Richards vom Imperial War Museum in London beschrieben wird:

"An Heiligabend hatten wir Weihnachtslieder gesungen ... die Deutschen hatten dasselbe getan. Und wir hatten uns gegenseitig zugerufen, manchmal unanständige Bemerkungen, häufiger nur scherzhafte Bemerkungen. Schließlich sagte ein Deutscher: 'Morgen schießt ihr nicht, wir schießen nicht.' Der Morgen kam und wir schossen nicht und sie schossen nicht und so begannen wir, unsere Köpfe über den Rand zu stecken und schnell hinunterzuspringen, falls sie schießen würden, aber sie schossen nicht."

"Sie schüttelten sich die Hände, lachten und scherzten"

Oberleutnant Johannes Niemann vom 9. Königlich Sächsischen Infanterieregiment Nr. 133 schrieb später in seinen Erinnerungen: "Und so kam es, dass sich der Krieg in die beschauliche Form eines Sängerwettstreites verwandelte und sich der kriegerische Geist hüben wie drüben in Weihnachtsstimmung verlor."

1914 rechneten alle Seiten noch mit einem schnellen Sieg. Weder die Befehlshaber und die Soldaten noch die Zivilbevölkerung der Krieg führenden Nationen waren auf die Länge und Brutalität des Kriegs vorbereitet. Wahrscheinlich war auch dies ein Grund für den spontanen Weihnachtsfrieden, der keine organisierte Sache war, sondern eine Reihe von "Mini-Waffenruhen", die sich entlang der Frontlinien verteilten, und der sich in den kommenden Kriegsjahren bis zum Ende im November 1918 nicht wiederholte. Dennoch erlebten auch 1914 bereits Tausende einen Winter gezeichnet von Leid und Not.

Britische Soldaten posieren mit Geschenken, die ihnen deutsche Soldaten gemacht haben.

Britische Soldaten posieren mit Geschenken, die ihnen deutsche Soldaten gemacht haben.

(Foto: IMAGO/Gemini Collection)

Weiter heißt es in Richards' Buch, dass die Briten plötzlich einen Deutschen sahen, "der aufstand und mit den Armen fuchtelte". Nachdem an dieser Frontlinie niemand schoss - ein paar Kilometer wurde weiter gekämpft -, standen mehrere auf und trauten sich, herumzulaufen. Schließlich hätten sich ein Engländer und ein Deutscher auf halbem Weg durch das Niemandsland getroffen, "sie schüttelten sich die Hände, lachten und scherzten und winkten ihren Begleitern zu, sich ihnen anzuschließen."

Plötzlich taucht ein Fußball auf

Dann kam tatsächlich ein Fußball ins Spiel. Das Lieblingssportobjekt für so viele Menschen auf der Welt, damals wie heute. Mit keinem Gegenstand geht Verbrüderung und Völkerverständigung wohl. Fotos gibt von den Fußball-Szenen nicht, dafür verschiedene und voneinander unabhängige Berichte. Ein berühmtes Bild von Soldaten, die Fußball spielen, wurde fälschlicherweise der Verbrüderung von 1914 zugeschrieben, aber in Wirklichkeit zeigt es britische Soldaten, die ein Jahr später in Griechenland spielten.

"Irgendwoher und irgendwie tauchte dieser Fußball auf", erzählte Ernie Williams, ein damaliger 19-jähriger englischer Soldat, der in den Schützengräben in Belgien kämpfte, dem Imperial War Museum. "Der Ball kam von ihrer Seite", erinnerte sich Williams, "sie schossen und ein Kamerad ging ins Tor. Es war ein richtiger Fußball und dann haben wir alle gespielt, aber keine Mannschaft gebildet. Es war kein richtiges Mannschaftsspiel, es war so, wie ich Fußball in den Straßen von Hill Gate gelernt habe ... es war ein Kicken, jeder hat mitgemacht. Vielleicht 200 Soldaten."

Ein richtiges Fußballspiel hat es auf dem hartgefrorenen Niemandsland-Acker also wohl nicht gegeben. Aber das Gekicke bestätigen vielen Quellen. Leutnant Niemann berichtete allerdings, dass der Ball von der anderen Seite kam und hielt in seinen Erinnerungen fest: "Plötzlich brachte ein Schotte einen Fußball an und begann mit dem Kicken."

Dieses Bild stammt aus Griechenland und wurde etwa ein Jahr nach dem Weihnachtsfrieden aufgenommen.

Dieses Bild stammt aus Griechenland und wurde etwa ein Jahr nach dem Weihnachtsfrieden aufgenommen.

(Foto: imago/United Archives International)

Wieder andere meinten, dass es eigentlich gar keinen echten Ball gab. "Wir haben einen Sandsack mit einer Schnur zusammengebunden und ihn herumgetreten", sagte George Ashurst dem Imperial War Museum. In einem Brief eines Soldaten, der am 31. Dezember 1914 in der britischen Zeitung "Guardian" veröffentlicht wurde, stand, dass einige Soldaten statt eines echten Fußballs eine "Rinderhaut" kickten.

Weihnachtsfrieden sorgt nur für kurze Menschlichkeit

Genau solche Briefe und die Fotos von Verbrüderungsszenen passten den Befehlshabern in Deutschland und England überhaupt nicht. Schlecht für Motivation und Moral, so das Urteil. Die Propaganda vom Feind als Monster sollte hüben wie drüben aufrechterhalten werden, da passt ein Sport wie Fußball, der den Gegner vermenschlichte, schon gar nicht in die Pläne. Weil die Befehlshaber auf beiden Seiten harte Strafen für jeden ankündigten, der erneut die Waffen niederlegen würde, und weil sich der Krieg in den kommenden Jahren deutlich verschlimmerte, kämpften die Soldaten an den drei Kriegsweihnachten nach 1914, anstatt zu kicken.

Mit welcher Art von Fußball und mit welchem Ausmaß auch immer: Der Weihnachtsfrieden vor 110 Jahren gab den verängstigten, müden und jungen Soldaten, die oftmals noch fast Kinder waren, für einige Momente die einmalige Möglichkeit, die Hölle des Kriegs zu vergessen und herumzurennen und Spaß zu haben.

Es war ein Augenblick der Freude, Ruhe und der Verbrüderung, der die Zeit anhielt. Kurz regierten Normalität und Menschlichkeit. Anschließend vier weitere Jahre Leid und Tod.

Quelle: ntv.de

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