
Spruchband der BFC-Fans im Berliner Fanblock beim Regionalligaspiel im April 2018 bei Chemie Leipzig.
(Foto: imago/opokupix)
Im Herbst 1990 liefern sich Hooligans und Polizei vor allem im Osten Deutschlands heftige Auseinandersetzungen. Am 3. November wird Mike Polley von einer Polizeikugel getötet. Unser Kolumnist erinnert sich an diese schwierige Zeit.
Als Ronny 1990 in unsere Schule kam, übte er eine gewisse Faszination auf uns aus. Ronny war wie ein exotisches Tier, das sprechen konnte. Er erzählte uns vom Leben im Osten, was man "drüben" für eine Musik hören würde und wie das ganz allgemein so mit den Mädchen liefe. Ronny war zweimal "kleben geblieben" und hatte ganz offensichtlich schon etwas Erfahrung. Der Junge aus Ost-Berlin trug seine Haare betont kurz, an den Füßen leuchteten zu den weißen Socken bunte Sportschuhe von Adidas und seinen Pullover von Chevignon steckte er stets mit viel Sorgfalt in die Jeanshose. Ronny wollte nicht mit uns Fußball spielen, aber er sang in den Pausen im Raucherraum mit Vorliebe Fußballlieder: "Wir singen und tanzen auf jedem Fußballplatz, ein Schuss, ein Tor, Dynamo, jajajaja, der BFC Dynamo".
Ronny war der erste Hooligan, den wir persönlich kennenlernen sollten. Jedenfalls sagte er, dass er einer sei. Und er sah ja auch ganz so aus, wie all die seltsamen Menschen, denen man seit einiger Zeit rund um das Ruhrstadion in Bochum begegnete und denen man besser nicht zu nahe kommen sollte, wie es hieß. Manchmal musste man zur Seite gehen, wenn sie in Horden durch die Straßen rannten. Man hörte, sie würden sich irgendwo zum Prügeln treffen. Dann sah man auch schon die Polizeiwagen, die mit Blaulicht und Sirene in dieselbe Richtung folgten. Was uns gleich am Anfang aufgefallen war, als plötzlich immer mehr dieser jungen Männer bei uns auftauchten: Auch an Tagen, an denen die Sonne von einem wolkenlosen Himmel brannte, hatten sie Regenschirme dabei.
Wir konnten uns darauf lange keinen Reim machen, bis zu dem Moment, als wir uns mit Ronny zu einem Spiel im Ruhrstadion verabredeten und er an diesem herrlichen Sommertag ebenfalls einen Regenschirm bei sich trug. Auf dem Weg zum Stadion skandierte Ronny dann auch erstmals freudestrahlend: "Wir sind keine Fußballfans, wir sind deutsche Hooligans!" Einige Tage später kamen unsere Freunde Jörn und Thomas ebenfalls mit bunten Sportschuhen an den Füßen und einem Marken-Pullover, der in der Hose steckte, in die Schule. Wochen später gingen wir erstmals getrennt zum Spiel unseres Vereins. Die beiden suchten im Stadion die Nähe zur Hooligan-Szene und wir standen weiter oben in der Kurve. Von nun an trennte uns viel mehr als nur ein paar Stufen in unserem Stadion.
Niemand wurde zur Rechenschaft gezogen
Jörn, Thomas und Ronny erzählten in den Pausen von ihren Erlebnissen. Es waren Geschichten aus einer anderen Welt. Wir hörten aufmerksam zu, vielfach wohl auch fasziniert. Die Augen der drei leuchteten, wenn sie von ihren aufregenden Wochenendstorys berichteten. Eines Tages jedoch war etwas anders. Jörn, Thomas und Ronny waren richtig wütend und redeten sich in Rage. Wir verstanden damals nur die Hälfte von dem, was sie erzählten. Allein einige Fetzen blieben hängen: Die Polizei habe einen von ihnen "abgeschlachtet". Der "Mord an Mike" würde gerächt werden. Von nun an gebe es "richtig auf die Fresse".
Ich erinnere mich daran, dass ich zu Hause die Zeitung vom Morgen noch einmal intensiver studierte, aber nichts fand, das mit den Worten der drei in Einklang zu bringen war. Erst viel später las ich einen Bericht über diesen 3. November 1990. An diesem Tag wurde der Berliner Mike Polley in Leipzig von einer Polizeikugel tödlich getroffen. Zuvor war es rund um das Spiel FC Sachsen Leipzig und dem FC Berlin zu schweren Ausschreitungen gekommen. Die Polizei, die hoffnungslos unterbesetzt war, bekam die Lage zu keiner Zeit unter Kontrolle. Als sich die Beamten schließlich am Leutzscher Bahnhof selbst in einer Notlage sahen, kam es zu einer folgenschweren Reaktion des Polizeieinsatzleiters Karl-Heinz Krompholz: "Da wir dann relativ eingeklemmt waren und uns keinen anderen Ausweg mehr wussten, habe ich den Befehl gegeben von der Schusswaffe Gebrauch zu machen." Eine dieser Kugeln traf den erst 18 Jahre alten Mike Polley, der noch am Tatort starb. Bis heute ist der genaue Hergang unbekannt. Niemand wurde zur Rechenschaft gezogen. Die Ermittlungen wurden ergebnislos eingestellt.
Dieses tragische Ereignis hatte nicht nur direkte Auswirkungen, der DFB sagte das für Mitte November 1990 geplante Vereinigungsländerspiel zwischen den Nationalteams der DDR und der BRD ab. Es setzte zudem unterschwellig Entwicklungen in Gang, die den Profifußball veränderten. Die stille Sympathie zwischen Hooligans und Teilen der normalen Fußballfans, die auch aus den nie aufgeklärten Ereignissen des 3. November resultierte, fand spätestens mit der brutalen Attacke auf den französischen Polizisten Daniel Nivel während der WM 1998 ihren Schlusspunkt.
Zu dieser Zeit war das Thema bei uns schon lange keines mehr. Jörn und Thomas hatten zwei Jahre vor unserem Abschluss ihre Liaison mit der Hooligan-Szene beendet. Techno war nun ihr Ding. Ronny hatte unsere Schule da schon länger verlassen. Bis zum Schluss jedoch war er seiner Linie treu geblieben. Auch wenn er seinen Exoten-Status eingebüßt hatte, so wird Ronny doch immer der erste Hooligan bleiben, den wir persönlich kennengelernt haben.
Quelle: ntv.de