
"Zoff! Bumm! Bämm!"
(Foto: IMAGO/Offside Sports Photography)
Es gibt Fußball-Spiele, die geraten nach wenigen Sekunden in Vergessenheit. Die Fußball-Flut der Moderne spült sie einfach fort in das Meer aus Daten. Dann gibt es Spiele, die niemand vergisst. Weil etwas passiert, was nie mehr wiederkommen wird. Das Spiel zwischen Everton und Liverpool ist so eine Partie.
Am Mittwoch endet das Nachholspiel der englischen Premier League zwischen Everton und Liverpool mit 2:2 (1:1). Die Gäste bleiben auf Meisterkurs, das Heimteam entfernt sich weiter von den Abstiegsrängen. Die Tore für Everton erzielten der bisherige Transferflop Beto (11. Minute) und der 32-jährige James Tarkowski (98.).
Für Liverpool trafen der argentinische Weltmeister Alexis McAllister (16.) und der ägyptische Superstar Mo Salah (73.). Nach Abpfiff des Spiels sahen Evertons Abdoulaye Doucouré und Liverpools Curtis Jones nach einem Handgemenge die Gelb-Rote-Karte. Schiedsrichter Michael Oliver zeigte zudem Reds-Trainer Arne Slot und dem Co-Trainer Sipke Hulshoff die Rote Karte. Das bestätigte die Liga in einem Statement.

Ein letztes Mal pilgern die Fans zum Goodison Park. Sie werden sich für immer an diesen Tag erinnern.
(Foto: IMAGO/Offside Sports Photography)
Der Fußball aber hat eine Seele. Er geht über die bloßen Fakten hinaus. Deswegen lieben ihn die Menschen. Diese Seele wohnt nicht in den Spielern, nicht in den Verbänden und nicht in den Wettbewerben. Sie wohnt in den Herzen der Fans und sie wohnte in den Stadien dieser Welt. Anders lassen sich die letzten Minuten im letzten Derby zwischen Everton und Liverpool im Goodison Park nicht erklären. Das 120. Derby im Goodison Park war im Dezember aufgrund heftiger Orkanböen abgesagt worden. Am 12. Februar 2025 nun sollte es nachgeholt werden. Es würde das letzte Derby im Goodison Park für immer sein. Ab der nächsten Saison werden die Toffees ihre Heimspiele in einer neuen Hightech-Arena austragen.
Ein Tor, das nie hätte fallen dürfen
Etwas kam zu einem Ende. Und wie. Fünf Minuten Nachspielzeit waren angezeigt. Die waren abgelaufen. Dann brach es aus dem Stadion heraus. Die lange Derby-Geschichte endete mit einer stilvollen Kneipenschlägerei auf dem Platz. Denn als das Spiel eigentlich schon beendet war, hatte Everton-Spieler Tarkowski nach einem letzten verzweifelten langen Schlag in die Hälfte Liverpools, einem seltsamen Abpraller und einer letzten verzweifelten Hereingabe vom Flügel den seit gefühlten Minuten im Strafraum hin- und herspringenden Ball unter die Latte des Tors von Liverpool gedroschen -2:2 mit der letzten Aktion des Spiels.
Es war ein Tor, das beim Blick auf alle jemals erhobenen Daten dieser neuen Fußballwelt nie hätte fallen dürfen. Es war ein komplett aus der Zeit gefallenes Tor. Niemand aber dachte in diesem Moment darüber nach. Die Fans rasteten aus. Sie sprangen auf den Platz und feierten mit den Spielern, die sich an der Eckfahne in einem Haufen übereinander türmten.
Doch was war das? Ein Foul? Abseits?
Der Trainer ist ein Prophet
David Moyes hatte es kommen sehen. Der 61-jährige Schotte ist zu lange im Geschäft, um nicht zu wissen, welch ungeheure Seele in einem Stadion wohnt. Er ist zu lange im Geschäft, um nicht zu wissen, dass ein altes Gemäuer sich in seinen letzten Momenten bemerkbar machen wird. Auch in Deutschland ist das lange - spätestens seit den epochalen vier Minuten im Mai im letzten Spiel im Gelsenkirchener Parkstadion im Jahr 2001 - bekannt.
"Dieses Derby gibt es seit 130 Jahren. Alle Spiele wurden im Goodison Park oder Anfield ausgetragen", hatte Moyes vor seinem 23. Derby gesagt. Er hatte sein erstes im Jahr 2002 erlebt, war dann als Nachfolger von Sir Alex Ferguson 2013 zu Manchester United weitergezogen. Jetzt war er wieder zurückgekehrt. Erst im Januar. Mit grauen Haaren und einem mystischen Verständnis für die Seele des Spiels. "Es ist unglaublich, dass dieses Spiel das letzte im Goodison sein wird. Wird es deswegen wilder, wird es deswegen schwerer? Ich glaube nicht, aber das Stadion hat eine große Rolle gespielt, dieses explosive Derby zu entwickeln."
Ein Stadion wehrt sich gegen den VAR
Die von Moyes vorhergesehene Explosion war eine Detonation von gigantischer Natur. Tarkowski war außer sich. Der Rest der Everton-Spieler auch. Die Fans sowieso. Tarkowski feierte mit den Fans und musste dann bangen. Weil sein Tor zwar aus der Zeit gefallen, aber dies hier immer noch der moderne Fußball war.
Wie es die Unart des modernen Fußballs ist, mischte sich deswegen bald schon Schiedsrichter Michael Oliver mit seiner Truppe aus VAR-Mitarbeitern ein. Sie wollten vielleicht etwas gesehen haben, die wilde Ekstase im Goodison Park so zumindest nicht stehen lassen. Sie wollten sich ebenfalls verewigen. So überprüften sie das Tor auf Abseits und ein mögliches Foul im Vorfeld. Zumindest Letzteres hatte es auch gegeben. Denn Beto hatte, während der Ball durch den Strafraum hüpfte, Ibrahima Konaté mit einem kleinen Schubser aus dem Tritt gebracht.
Aber was sollte Schiedsrichter Oliver schon tun? Der Goodison Park war längst zum Tollhaus geworden. Eine Entscheidung gegen Everton war schlichtweg nicht möglich. Diesen Moment hier wollte sich niemand von profaner Technik zerstören lassen. Der Treffer war unerklärlich in seiner Entstehung. Er hatte sich sofort in die große Erzählung dieses Derbys eingebrannt. Es gibt Situationen im Leben eines Schiedsrichters, die Augenmaß erfordern. In denen der Schiedsrichter schauen muss, wer hier in der Überzahl ist. Und das waren die Toffees, die Blauen.
Spieler raufen sich mit großer Euphorie
Die Toffees, die, nachdem der Treffer zum 2:2 nun stand und das Spiel wenig später beendet war, zur Feier des Abends eine Kneipenschlägerei auslösten. Evertons Abdoulaye Doucouré hatte sich zum Jubel ausgerechnet vor den Gästefans eingefunden. Doucouré legte seinen Finger auf den Mund, bedeutete den Reds zu schweigen. Die schäumten.
Die Anhänger der Reds hatten Minuten vorher noch "Wir haben im Goodison Park die Liga gewonnen" gesungen und waren dann verstummt. Doucouré provozierte derart, dass Spieler Curtis Jones sich genötigt sah, seine Farben zu verteidigen. Er rauschte heran, um dem Everton-Mann mit schlagenden Argumenten zu erklären, was von einem derartigen Jubel zu halten sei. Mit großer Euphorie stürmten bald zahlreiche Spieler herbei.

Seit 30 Jahren hat Everton keine Trophäe gewonnen. Die Liverpool-Fans freut es.
(Foto: IMAGO/Offside Sports Photography)
Die Auseinandersetzung erinnerte in Gestalt und Intensität an einen Rauferei-Knäuel in einem Comic-Band. Von der Seitenlinie stürmten orange und gelbe Ordner herbei. Aus einer anderen Richtung scharwenzelte Liverpools Trainer Arne Slot mit gespielter Gelassenheit. Seine polierte Glatze verriet ihn. Er wollte sich das mal anschauen. Die Ordner wollten die Ordnung wiederherstellen. Und noch einer war an Ordnung interessiert.
"Tarky hat's gemacht"
Schiedsrichter Michael Oliver hatte die Situation genau im Blick. Mit großer Präzision bediente er sich seiner Karten. Gelb-Rot für Doucouré und Jones. Rot für Slot, der es wohl bei seiner Verabschiedung von Oliver mit Worten etwas übertrieben hatte. Liverpools Kapitän Virgil van Dijk war nicht glücklich. "Doucouré wollte unsere Fans provozieren, Curtis fand das nicht so richtig", erklärte der Niederländer. "Ich glaube, der Schiedsrichter hatte das Spiel nicht unter Kontrolle. Das habe ich ihm auch gesagt. Aber es ist, was es ist. Wir nehmen den Punkt und schauen nach vorne."
Weniger nüchtern ging es auf der anderen Seite zu. "Hört euch den Lärm auf den Tribünen an, das ist unglaublich. Sie werden sich daran erinnern", sagte Torschütze Tarkowski, als sich der Staub der Schlägerei gelegt hatte. An der Ausgangslage in der englischen Premier League hat das Spiel hingegen kaum etwas geändert. Everton hat nun zehn Punkte Vorsprung vor den Abstiegsrängen und vorne baute Liverpool den Abstand zu Arsenal auf sieben Punkte aus. Nach menschlichem Ermessen dürfte Everton in der Liga bleiben und dürften die Reds im Jahr eins nach Jürgen Klopp die englische Meisterschaft feiern. Doch das war an diesem Abend beinahe egal.
Schon weit weniger egal war, dass Tarkowskis Tor für immer für ausgeglichene Verhältnisse sorgte. 120 Spiele zwischen Everton und Liverpool wurden nun im Goodison Park ausgetragen. Beide Klubs konnten dabei 41 Siege erringen. In 38 Partien gab es keinen Sieger. Das ganz große Debakel konnte verhindert werden, wenn auch die Kräfteverhältnisse da oben an der Mersey längst zementiert scheinen. "Was für ein fantastisches Ende für uns. Es fühlt sich so passend an, dass wir das letzte Merseyside-Derby im Goodison Park mit einem Ausgleich in der letzten Sekunde beenden", sagte Moyes. "Tarky hat's gemacht. Ein großartiges Tor. Eines, an das wir uns erinnern werden."
Quelle: ntv.de