Redelings Nachspielzeit

Dramatisches Karriereende Jürgen "Fußballgott" Kohlers letzte Grätsche

Der letzte Moment einer langen Karriere.

Der letzte Moment einer langen Karriere.

Denkwürdiger kann eine so ereignisreiche Karriere eigentlich nicht zu Ende gehen. Vor 20 Jahren stand der BVB im UEFA-Pokal-Finale gegen Rotterdam. Klar war schon vorher, dass es Jürgen Kohlers letztes Spiel seiner Karriere sein würde. Doch dann wurde es dramatisch wie tragisch.

"In seinem letzten Spiel. Das ist bitter!" ARD-Kommentator Heribert Faßbender fasste die entscheidende Szene an diesem 8. Mai 2002 im Rotterdamer Stadion De Kuip recht sachlich und nüchtern zusammen - wenn man bedenkt, dass ein Drehbuchschreiber diesen Moment nicht besser hätte inszenieren können. Knapp 20 Jahre zuvor hatte Jürgen Kohler bei Waldhof Mannheim seine Karriere begonnen und nun war plötzlich von einem Augenblick zum nächsten alles vorbei. Später sollte der BVB-Präsident Gerd Niebaum sagen: "Der Schiedsrichter hätte bedenken können, dass ein Fußballgott Abschied nimmt. Das haben wir vergessen, ihm zu sagen."

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"Schauen Sie in das Gesicht von Jürgen Kohler. Er weiß, was das bedeutet", redete Heribert Faßbender weiter - und man sah auf dem Platz, auf dem gerade das Finale des UEFA-Pokals zwischen Feyenoord Rotterdam und Borussia Dortmund stattfand, einen Mann herumirren, der sichtlich um Fassung rang. Eben erst war innerhalb von Sekunden eine denkwürdige Fußballer-Laufbahn dramatisch zu Ende gegangen. Beim Stand von 0:0 hatte Lars Ricken seinen Mitspieler mit einem Rückpass völlig unnötig in Bedrängnis gebracht. Und dann hatte Jürgen Kohler auch noch für sich selbst entschieden, den Ball nicht einfach ins Aus zu zimmern, sondern versucht, spielerisch eine Lösung zu finden. Das ging fatal daneben!

Gegen Kohler trafen nur Marsmenschen

Die Kugel rutschte dem "Vorstopper der Nation" ("FAZ") über den Spann - und rollte Richtung Jens Lehmann zum Tor des BVB. Der Däne in Diensten von Feyenoord, Jon Dahl Tomasson, schaltete blitzschnell und jagte dem Ball hinterher. Jürgen Kohler natürlich auch, aber in dieser Situation machte sich sein fortgeschrittenes Alter bemerkbar. Der 36-jährige Dortmunder Verteidiger wusste sich im Strafraum nur mit einer Grätsche zu helfen. Wie so viele Male zuvor in seiner Karriere. Doch diesmal traf Kohler dabei alles - aber leider nicht den Ball. Schiedsrichter Vítor Melo Pereira aus Portugal hatte gar keine andere Wahl, als auf Elfmeter für Rotterdam zu entscheiden - und nur einige Sekunden später dem Mann, den sie in Dortmund "Fußballgott" tauften, auch die Rote Karte zu zeigen. Pierre van Hooijdonk ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen und verwandelte zum 1:0 für Feyenoord. Am Ende dieses ereignisreichen Fußballabends gewann Rotterdam den UEFA-Pokal mit einem hart erkämpften 3:2-Sieg.

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Tomassons Landsmann Preben Elkjær Larsen hat einmal über Jürgen Kohler gesagt: "Gegen den macht höchstens ein Marsmensch ein Tor." Und der "Kicker" hatte über den Weltmeister die folgenden weihevollen Worte verfasst: "Da steht Jürgen Kohler, der Münchener Manndecker, spannt seinen Oberkörper wie ein Fangnetz unter der Zirkuskuppel und fängt das Leder mit der Brust. Wie Obelix den Hinkelstein auf dem Rücken, hat Kohler in diesen Sekunden den Ball auf der Brust. Wie festgeklebt, das Leder fällt nicht runter."

Ein "Fußballgott" wird geboren

In Italien hatten sie Jürgen Kohler einst "Massino" getauft, was so viel bedeutet wie bissiger Hund oder auf den Fußball übertragen "Wadenbeißer". Der Verteidiger genoss seine Zeit bei Juventus Turin damals sehr: "Hier in Italien werde ich noch abgezockter, kann noch mehr auf die Socken hauen - ohne dass es jemand merkt." Die Spielweise der Italiener passte zu der alten Devise des Mannes, der aus der berühmten Waldhöfer Verteidiger-Schule stammte: "Der Stürmer muss das Hecheln im Ohr haben. Das kann sehr unangenehm sein." Sein damaliger Teamkollege bei Juve, Angelo Peruzzi, meinte nach einem Spiel über ihn: "Zu sehen, wie er seinem Gegner folgte, war traumhaft und gruselig zugleich. Er hat ihn regelrecht aufgefressen." Jürgen Kohler ("Zu viel Denken ist immer schlecht") als beinharten Verteidiger zu beschreiben, wäre wohl untertrieben. TV-Kommentator Jörg Dahlmann meinte einmal hörbar beeindruckt: "Kohler köpft alles weg, der würde sogar eine Kiste Bier aus dem Strafraum köpfen."

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Doch sein Markenzeichen war die Grätsche. Und eine dieser unzähligen, gezielten Attacken auf Ball und Gegner machte ihn in Dortmund unsterblich. Damals im Halbfinale der Champions League 1997 in Manchester war Jürgen Kohler ins Straucheln geraten und lag am langen Pfosten bereits am Boden, als Eric Cantona die Kugel eigentlich nur noch über die Linie hätte bringen müssen. Doch der BVB-Verteidiger schob in einer irren Aktion noch seine Fußsohle vor den Ball, den Cantona direkt vor ihm aufs Tor ballerte. Es sollte Kohlers Meisterstück werden. An diesem Abend wurde bei der Borussia ein neuer "Fußballgott" geboren. Und in Manchester verabschiedete sich nur zehn Tage später Eric Cantona vorzeitig in den Ruhestand. In Dortmund munkelt man noch heute, dass ein gewisser Jürgen Kohler daran nicht ganz unschuldig gewesen sein soll.

Zwei Tage vor dem Finale in Rotterdam hatte der "Kicker" dem scheidenden Weltmeister eine Story mit dem Titel "Die letzte Grätsche" gewidmet. Nun war die allerletzte Aktion des Jürgen Kohler als Profi auf dem grünen Rasen tatsächlich eine Grätsche gewesen. Und was für eine! Der Fußball schreibt eben manchmal die sonderbarsten Geschichten - die selbst ein Drehbuchautor nur selten so unglaublich faszinierend und dramatisch inszenieren könnte.

Quelle: ntv.de

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