Redelings Nachspielzeit

Redelings über Anti-Denken Warum die WM besser als ihr Ruf war

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War es die schlechteste, langweiligste und doofste WM aller Zeiten – wie man denken könnte, wenn man den Kommentaren in den sozialen Netzwerken Glauben schenken mag? Unser Kolumnist kann mit dieser Anti-Stimmung nichts anfangen!

Ich schätze den Mann auf vielerlei Ebenen – nicht nur sportlich, sondern auch als Typ und als jemanden, der gute Sachen sehr eloquent aussprechen kann. Aber als ich letzte Woche diesen Satz von Julian Nagelsmann las, habe ich mir an den Kopf gefasst und nur gedacht: OMG! Der Hoffenheimer Trainer hatte, obwohl er laut Selbstauskunft "nicht viele" Spiele gesehen hatte, ins allgemeine Wehklagen mit diesem Satz eingestimmt: "Ich hatte das Gefühl, dass eine WM immer ein bisschen etwas Freigeistiges ist, wo der schöne Fußball noch im Fokus steht und nicht dieser extreme Druck." Wow! "Freigeistiges"? "Ohne Druck"? "Schöner Fußball"? Da stellt sich die Frage: Hat er bei den letzten großen Turnieren in seinem noch jungen Leben auch immer "nicht viele" Spiele angeschaut? Oder war es tatsächlich die schlechteste, langweiligste und doofste WM aller Zeiten – wie offensichtlich sehr viele Menschen meinen, wenn man die Kommentare im Internet liest?

"Ein Tor würde dem Spiel gut tun"

Ben Redelings ist "Chronist des Fußballwahnsinns" (Manni Breuckmann) und leidenschaftlicher Anhänger des VfL Bochum. Der Autor, Filmemacher und Komödiant lebt in Bochum und pflegt sein Schatzkästchen mit Anekdoten. Seine kulturellen Abende "Scudetto" sind legendär. Für n-tv.de schreibt er stets dienstags die spannendsten und lustigsten Geschichten auf. Sein Motto ist sein größter Bucherfolg: "Ein Tor würde dem Spiel gut tun".

Ganz ehrlich: Mir geht diese allgemeine Anti-Stimmung gegen alles und jeden langsam auf den Geist. Ohne Differenzierung wird einfach mal mit dem Vorschlaghammer auf ein komplettes Turnier eingedroschen, nur weil jeder Miesepeter im Zeitalter der "sozialen Medien" mehr Gehör und vor allem "Gefällt mir"-Klicks und Herzen bekommt als jede Stimme, die sorgsam Für-und-Wider gegeneinander abwägt. Die Welt ist sicherlich nicht einfacher geworden in den letzten Jahren. Im Grunde genommen war sie wahrscheinlich noch nie so kompliziert wie heute. Jeden Tag aufs Neue stellen sich einem die immer gleichen und so schwer zu beantwortenden Fragen: Wem soll man noch glauben? Wem kann man noch trauen? Wer möchte einen nicht verarschen? Und wer ist eine ehrliche Haut? Das hat erst einmal nix mit dem Fußball im Speziellen zu tun – und am Ende doch so viel.

Denn wie soll man mit voller Vorfreude einer Weltmeisterschaft begegnen, die in einem Land stattfindet, das – um es vorsichtig zu formulieren – im Moment öffentlich nicht gerade gut dasteht. Hacker, Syrien, Einschränkungen von Pressefreiheit und Menschenrechten – um nur drei Themen wahllos und ungeordnet aus dem prall gefüllten Kübel der schlechten Nachrichten herauszugreifen. Und wie soll man sich auf eine WM freuen, die von einer Organisation veranstaltet wird, die ein Ansehen hat wie ein Mann, der kleine Kinder und Oma und Opas ausgeraubt hat? Um es mal milde und wertfrei zu formulieren. Natürlich, um es abzukürzen, kann sich kein normaler Mensch auf so ein Turnier unbefangen freuen. Das ist einfach unmöglich - selbst wenn sein Gemüt sehr schlicht und sein Denkhorizont nur bis zur eigenen Nasenspitze reicht. Die Grundstimmung ist verständlicherweise also von Anfang an erst einmal negativ gewesen.

Das Ende der Kirchturmpolitik

Und dann scheidet auch noch die eigene Nationalmannschaft auf diese erschütternd-ernüchternde Art und Weise aus. Vollkommen zurecht kommen im Anschluss endlich auch einmal Themen auf den Tisch, die wahrscheinlich elementar nichts oder nur wenig mit dem katastrophalen Abschneiden von "Die Mannschaft" zu tun haben, aber die schon lange überfällig waren. Die Verwerfungen der Kommerzialisierung und die "Entfremdung" der Stars von den Fans (und den Medien) sind Themen, denen der deutsche Fußball sich schon viel früher und entschiedener hätte stellen müssen. Die Blase wird in Deutschland auch nach dieser WM nicht platzen, aber es war an der Zeit, dass Luft aus ihr gelassen wird. Die Abschottungs- und Kirchturmpolitik des DFB wird in Zukunft so nicht mehr weitergehen können. Und das ist gut so.

Doch kommen wir endlich auf die Weltmeisterschaften in Russland an sich zu sprechen. War tatsächlich alles so schrecklich und langweilig? Oder kann man nicht sogar Dinge, die mit der Negativ-Brille auf der Nase als blöd bewertet werden, unter dem Aspekt der Unterhaltung als positiv ansehen? Ist eine schillernde Figur wie Neymar, die uns durch sein Verhalten reichlich Stoff für Diskussionen liefert, nicht überaus unterhaltsam? Gerade seine zutiefst beschämenden und zu kritisierenden Eskapaden auf dem Platz werden in unserem kollektiven Gedächtnis bleiben. Noch in vielen Jahren werden wir uns schmunzelnd daran erinnern. Und in Kneipen wird noch manch einer nach einem kurzen Ziehen am feinen Hemd wie der Brasilianer theatralisch zu Boden gehen. Und jedermann wird sofort wissen: Ach, guck mal, da macht er den Neymar!

Aber kommen wir zum Ende noch einmal auf Julian Nagelsmann und seine Idee von Weltmeisterschaften als Ort für "freigeistigen", "schönen Fußball ohne Druck" zu sprechen. Das ist ein Satz, der sicherlich Klickrekorde im Internet beschert hat, weil er die Grundstimmung von ganz vielen Fußballfans einfängt und widerspiegelt. Von "Antifußball" war häufig zu lesen. Exklusiv, erstmalig und nur bei dieser WM.

"Setzen sehr hohe Maßstäbe"

Stefan Reinartz, der Ex-Profi von Bayer Leverkusen und "Packing"-Erfinder, hat in einem Interview mit der "Süddeutschen" gegen die allgemeine Grundstimmung angesprochen: "Wir setzen in Deutschland schon sehr hohe Maßstäbe an den Unterhaltungswert eines Spiels. Der Debatte um ‚Anti-Fußball’ kann ich überhaupt nichts abgewinnen. Wie die Abwehr steht, mit welcher Power N’Golo Kanté und Paul Pogba spielen, wie Antoine Griezmann mit nach hinten arbeitet, das spricht natürlich für eine defensive Ausrichtung, aber daran sollte man sich erfreuen können."

Die Worte von Stefan Reinartz drehen die Perspektive einmal um. Endlich. Und das Allerbeste an seiner Analyse: Er hat sie schon vor dem spektakulären Finale geäußert. Denn wer auch nach diesem Endspiel (sportlich) noch immer nicht mit der WM versöhnt war, der war wahrscheinlich wie Julian Nagelsmann 1994 noch zu jung, um das Finale zwischen Brasilien und Italien zu verfolgen. Damals sprach TV-Kommentator Marcel Reif von einer tollen Partie für alle "Taktikfreunde". Nur zur Erinnerung: Nach Verlängerung stand es an diesem 17. Juli 1994 immer noch 0:0. Von einem freigeistigen, schönen Fußball ohne Druck war an diesem Tag leider nichts zu sehen. Aber damals war immerhin der Ruf des Veranstalterlandes und sogar des Organisators (noch) etwas besser.

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Quelle: ntv.de

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