Sind Streiks das neue Normal? "Der Gesetzgeber hat das Streikgeschehen verschärft"
07.02.2024, 19:23 Uhr Artikel anhören
"Wir können auch länger": Der Streik des Lufthansa-Bodenpersonals sorgt aktuell für Hunderte Flugausfälle. Wenn der Konzern sich nicht bewege, könne man den Streik auch ausweiten, so die Gewerkschaft Verdi.
(Foto: picture alliance / SvenSimon)
Bislang galten vor allem die Franzosen als besonders streiklustig. Gefühlt holen die deutschen Beschäftigten aber mit Macht auf. Stefan Greiner von der Universität Bonn erklärt im Gespräch mit ntv.de die Ursachen. Der Arbeitsrechtler spricht über den Profilierungsdruck der Gewerkschaften, eine "lauter gewordene Protestkultur" in Deutschland und Fehler der Politik, die korrigiert werden sollten.
ntv.de: Die Deutsche Bahn, die öffentlichen Verkehrsmittel, Lufthansa – gefühlt lösen sich die Streikenden in Deutschland per Handschlag ab. Wird mehr gestreikt als früher oder täuscht der Eindruck?
Stefan Greiner: Gefühlt mag das so sein, aber die nüchternen Zahlen des Statistischen Bundesamtes sagen etwas anderes. Die Zahlen der Streiktage pro 1000 Beschäftigte für die Jahre 2021 und 2022 liegen ungefähr auf dem Niveau wie vor der Pandemie. Das Gleiche dürfte für das Jahr 2023 gelten, hier liegen noch keine Daten vor. Das Streikgeschehen betrifft nicht die Breite der Wirtschaft. Es konzentriert sich vielmehr an bestimmten Punkten, etwa bei der Bahn oder in anderen Bereichen der öffentlichen Infrastruktur, wie jetzt bei der Lufthansa. Solche Arbeitskämpfe haben aber natürlich eine immense Außenwirkung und sehr viele Menschen fühlen sich massiv betroffen. Tatsächlich sind die Streiks von heute auch intensiver.
Es ist also mehr die Qualität als die Quantität, die die Streiks von heute auszeichnet? Warum werden Streiks heute intensiver geführt?

Stefan Greiner ist Professor für Arbeitsrecht, Bürgerliches Recht und Sozialrecht an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Seit 2018 ist er Direktor des dortigen Instituts für Arbeitsrecht.
(Foto: Stefan Greiner)
Das hängt damit zusammen, dass sich die Gründe etwas geändert haben. Handfeste ökonomische Ursachen sind immer schon ein wichtiger Grund für die Beschäftigten gewesen, auf die Straße zu gehen. Das galt früher, das gilt heute. Wir alle nehmen wahr, dass alles teurer wird. Das zieht selbstverständlich Forderungen nach höheren Löhnen nach sich. Ein wesentlicher Treiber des heutigen Streikgeschehens sind allerdings auch die neue Arbeitswelt und der demografische Wandel. Wir haben einen Arbeitnehmermarkt, also einen großen Bedarf an Arbeitskräften. Das sorgt dafür, dass qualitative Themen wie Arbeitszeitverkürzung in den Vordergrund rücken. Hier eine Einigung zu finden, ist weitaus schwieriger als bei Lohnverhandlungen. Deshalb wird hier auch mehr gerungen. Das ist die Intensität, die man derzeit wahrnimmt.
Der Drops Arbeitszeitverkürzung ist bei der Bahn nicht gelutscht. Aktuell herrscht Frieden, ab dem 3. März wird weiterverhandelt. Müssen wir uns auf den nächsten Streik vorbereiten?
Ja, die Gewerkschaften verharren bei dieser Forderung vehement auf ihrem Standpunkt. Während die Unternehmen sagen, dass kürzere Arbeitszeiten in einer Situation des Arbeitskräftemangels nicht infrage kommen. Bei der Bahn kommt erschwerend das Thema Gewerkschaftskonkurrenz hinzu. In welchen Bereichen ist die Bahn bereit, mit der GDL zu verhandeln? Auch das ist schwierig.
Ein Arbeitnehmermarkt bedeutet, dass die Streiklust weiter um sich greifen kann. Nach dem Motto: Wenn ich nicht jetzt für meine Interessen kämpfen, wann dann? Ist es das, was uns bevorsteht?
Das kann so sein. Das hängt davon ab, wie sich die ökonomischen Rahmenbedingungen verändern. Wenn eine große Wirtschaftskrise mit hoher Arbeitslosigkeit über uns hereinbrechen sollte, würden sich die ökonomischen Rahmenbedingungen für Tarifverhandlungen natürlich auf einmal ganz anders darstellen. Für mehr Streiks würde sprechen, dass die Gewerkschaften wegen großem Mitgliederschwund erheblich unter Profilierungsdruck stehen. Sie versuchen, sich dadurch sichtbar zu machen und so Mitglieder zu gewinnen. Für mehr Streiks würde noch etwas sprechen: Gesellschaftlich herrscht ein Klima der Verunsicherung. Es gibt neue Protestformen, wie die Klimakleber. Das ist wie eine neue Benchmark, an der sich die Gewerkschaften möglicherweise ausrichte, um in der lauter gewordenen Protestkultur überhaupt noch wahrgenommen zu werden.
Streik ist eine scharfe Waffe, sagt das Bundesarbeitsgericht. Was ist, wenn diese Waffe inflationär benutzt wird? Das wäre weder für die Gesellschaft noch für die Wirtschaft förderlich. Braucht eine neue Protestkultur gegebenenfalls auch einen neuen Gesetzesrahmen?
Zunächst einmal ist das Streikrecht ein hohes Gut und grundrechtlich zu Recht sehr stark geschützt. Andererseits muss sich das Streikrecht aber auch einfügen in das Gesamtkonzept der Freiheitsrechte in unserem Grundgesetz. Insbesondere in den Bereichen der sogenannten öffentlichen Daseinsvorsorge, also etwa im Verkehrsbereich, ist der Konflikt zu den Freiheitsrechten von Betroffenen natürlich stark ausgeprägt. Gemeint sind die Bürgerinnen und Bürger, die Verkehrsmittel nutzen, um von A nach B zu gelangen, und die auf den Streik und eine Tarifeinigung überhaupt keinen Einfluss nehmen können. In diesem Konflikt von Freiheitsgrundrechten könnte der Gesetzgeber durchaus die Leitplanken für Streiks verändern und auch eingrenzen.
Sie würden es also für sinnvoll halten, das Streikrecht in Deutschland zu reformieren?
Ja, es ist in der Tat bedauerlich, dass sich der Gesetzgeber in einer starken Wirtschaftsnation wie Deutschland sehr vornehm zurückhält - auch im Unterschied zu der Politik in vielen anderen europäischen Ländern. Das Streikgeschehen wird hierzulande nicht gesetzlich begleitet. Der Gesetzgeber überlässt das Feld stattdessen in weiten Teilen der Rechtsprechung, die sich dann auf den verständlichen Standpunkt stellt, dass zunächst einmal das Grundrecht auf Streik das Geschehen bestimmt. Der Gesetzgeber könnte hier mehr machen.
Was denn zum Beispiel?
Der Gesetzgeber könnte Leitplanken einziehen: Gerade in jenen Bereichen, in denen wir diese starke Betroffenheit haben, könnte er verpflichtende Schlichtungsverfahren vorsehen. Er könnte auch Abkühlphasen vorsehen. Er könnte das Ultima Ratio-Prinzip im Arbeitskampf stärker ausformulieren. Durchaus könnte er an echten Schlüsselpositionen über eine Rückkehr zum Beamtenstatus nachdenken. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat kürzlich erst bestätigt, dass der Ausschluss des Streikrechts bei Beamten menschenrechtskonform ist. Man darf das also so machen.
Aber statt das Streikgeschehen zu entschärfen, hat der Gesetzgeber das Streikgeschehen verschärft. Wir sehen das bei der Deutschen Bahn. Das Tarifeinheitsgesetz von 2015 sorgt dafür, dass die Gewerkschaften - insbesondere bei der Deutschen Bahn - in einen Kampf um die Mehrheiten in den Betrieben eintreten, weil nur die Mehrheitsgewerkschaft Gestaltungsmacht hat. Die Politik hat damit den Profilierungsdruck, der ohnehin schon auf den Gewerkschaften lastet, noch einmal deutlich verschärft. Die Politik hat es also durchaus in der Hand, die äußeren Rahmenbedingungen im Tarifrecht zu gestalten, ohne wirklich an die Substanz des Streikrechts zu gehen.
Und wird sie das Ihrer Ansicht nach zeitnah tun?
Das bezweifle ich, weil es gesellschafts- und sozialpolitisch ein heißes Eisen ist. Die Politik ist bislang immer zurückgeschreckt, hier Regulierungen vorzunehmen. Der Handlungsdruck scheint dafür immer noch nicht groß genug zu sein.
Das heißt, wir brauchen erst einmal französische Verhältnisse?
Nein, da setzt die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung dann doch deutliche Grenzen. Es gibt zwei markante Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich: Zum einen ist in Deutschland der sogenannte politische Streik, mit dem die Regierung zum Handeln veranlasst oder unter Druck gesetzt werden soll, unzulässig. Und zum anderen dürfen Streiks in Deutschland nur auf den Abschluss von Tarifverträgen ausgerichtet sein. Insofern wäre in Deutschland auch ein Generalstreik nach französischem Muster nicht rechtmäßig vorstellbar. Ein weiterer Punkt ist, dass ein Druckmittel wie die Entführung von Managern, wie es in Frankreich in der Vergangenheit schon praktiziert wurde, in Deutschland auch klar die Verhältnismäßigkeitsgrenzen verletzen würde. Arbeitsgerichte würden das strikt unterbinden.
Mit Stefan Greiner sprach Diana Dittmer
Quelle: ntv.de