Deutsche Ökonomen wüten Schaden die europäischen Landwirte der EU und sich selbst?


Die französischen Landwirte äußerten ihren Unmut besonders radikal. Dabei kam es auch zu tödliche Unfällen.
(Foto: picture alliance/dpa/MAXPPP)
Deutschland, Frankreich, Belgien, Polen, Rumänien, Spanien, Portugal - europaweit lassen Landwirte ihrer Wut freien Lauf. Hohe Kosten sind ein Problem, niedrige Preise im Supermarkt auch. Doch manche Befindlichkeit ist sehr speziell. Ökonomen warnen.
Die ganz großen Proteste der deutschen Landwirte sind abgeebbt, doch ihre Wut über die inzwischen beschlossene Abschaffung des Agrardiesels hält an. Noch immer blockieren sie Straßen oder die Lager von Supermärkten. Sie sprechen von einem verzerrten Wettbewerb in Europa, in dem sie nicht länger bestehen können.
Inzwischen gehen allerdings auch Landwirte in Belgien, Frankreich, Griechenland, Polen, Portugal oder Spanien auf die Barrikaden, die Ähnliches behaupten. Auch sie protestieren gegen Dieselpreise und einen unfairen Wettbewerb. Die drohende Gefahr wird je nach Land, Betrieb und Anbauprodukt global ganz unterschiedlich verortet.
Den radikalsten Protest gab es in den letzten Wochen in Frankreich. Wütende Landwirte kippten unter anderem in Toulouse im Südwesten des Landes Gülle und verrottete Lebensmittel auf die Straßen. Eine Landwirtin starb in der Region, als ein Autofahrer eine Straßensperre durchbrechen wollte.
Frankreich gegen Marokko und Südamerika
Grundsätzlich erhält kein anderes EU-Land so viele EU-Agrarsubventionen - neun Milliarden Euro - im Jahr. Dennoch beschweren sich französische Landwirte über unlauteren Wettbewerb. Unter anderem kritisieren sie den Kampf ihrer Regierung gegen Inflation und zu hohe Lebensmittelpreise. Sollten diese sinken, würden sie zu wenig verdienen, heißt es. Zum Symbol des Protests sind Tomaten aus Marokko geworden, die landesweit auf Parkplätzen von Supermärkten abgeladen wurden, weil sie angeblich zu günstig sind.
Die ersten Etappensiege konnten die französischen Landwirte bereits verbuchen. Zwei wichtige Gewerkschaften riefen dazu auf, die Proteste vorerst zu beenden, nachdem die französische Regierung Zugeständnisse ankündigte: Sie will mehr finanzielle Unterstützung anbieten und keine Produkte mehr importieren, bei denen in der EU-verbotene Pestizide eingesetzt wurden. Das soll Dumpingpreise verhindern und die Einkommen stabilisieren.
Vor allem aber hat die französische Regierung vergangene Woche erklärt, das Freihandelsabkommen Mercosur mit Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela blockieren zu wollen: Französische Landwirte behaupten, sie könnten gegen südamerikanische Rindfleischimporte nicht bestehen, weil dort weniger strenge Umwelt- und Tierschutzauflagen gelten.
Deutsche Ökonomen wüten
Die französische Ankündigung traf einen politischen Nerv, denn sie erfolgte ohne Rücksprache mit Brüssel und Berlin: Mercosur könne die "Wachstumsperspektiven unseres Kontinents verbessern", sagte Olaf Scholz am Montag bedient bei einem Termin mit dem französischen Premierminister. Die Verhandlungen hätten schon vor 20 Jahren begonnen, erinnerte der Kanzler. Es wäre wünschenswert, wenn sie bald zum Abschluss kämen.
Noch deutlicher wurde das Institut der deutschen Wirtschaft (IW): "Es kann nicht sein, dass die Partikularinteressen eines einzigen Mitgliedstaates in so fundamentaler Art die übergeordneten EU-Interessen torpedieren", schrieben die deutschen Ökonomen in einer Stellungnahme. Es gebe keinen statistischen Beleg für die Sorge der französischen Landwirte. Stattdessen sei das Mercosur-Abkommen auch deshalb wichtig, weil es hilft, unabhängiger von China zu werden. Die Forderung der Ökonomen ist klar: Die EU-Kommission muss ein Machtwort sprechen und notfalls das Abkommen ohne französische Zustimmung beschließen.
EU-Kommission gibt nach
Die EU-Kommission allerdings ist aktuell ebenfalls um Schadensbegrenzung bemüht, denn die Proteste richten sich explizit auch gegen Umweltauflagen und Umweltabgaben aus Brüssel, die - so lautet der Vorwurf der Landwirte - vorwiegend Zeit und Geld fressen. Während des EU-Sondergipfels zur Ukraine blockierten daher primär belgische Bauern mit 1300 Traktoren ihre Hauptstadt und zündeten Reifenstapel an, obwohl die EU-Kommission zu diesem Zeitpunkt bereits nachgegeben hatte: Die Landwirte müssen in diesem Jahr nicht wie vorgesehen vier Prozent ihres Ackerlandes brachliegen lassen, damit sich die Natur erholen kann. Zudem zog Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ein Gesetz für die Verringerung des Pestizideinsatzes in der EU zurück. Bis Ende des Monats soll zudem ein Plan für Bürokratieabbau in der Landwirtschaft erstellt werden.
Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Alle Folgen von "Wieder was gelernt" finden Sie in der ntv-App, bei RTL+, Amazon Music, Apple Podcasts und Spotify. Für alle anderen Podcast-Apps können Sie den RSS-Feed verwenden.
Auch polnische, spanische, portugiesische und rumänische Landwirte kritisieren eine "erdrückende Bürokratie" und EU-Umweltauflagen. Die osteuropäischen Landwirte wehren sich zudem wie die französischen gegen günstige Importe aus dem Ausland, allerdings nicht aus Marokko oder Südamerika: Polnische, rumänische und andere osteuropäische Bauern stören sich an günstigen, weil zollfreien Einfuhren aus der Ukraine. Diese würden den Markt für osteuropäische Bauern verzerren, heißt es.
Die zollfreie Einfuhr war 2022 nach dem russischen Angriff erlaubt worden, um die ukrainische Wirtschaft zu stärken. Derzeit ist geplant, sie noch bis Juni 2025 zu erlauben. Die EU-Kommission hat allerdings auf die Proste der osteuropäischen Landwirte reagiert und im Januar Schutzmaßnahmen für "empfindliche" Agrarbereiche vorgeschlagen: Für Zucker, Eier und Geflügel ist eine "Notbremse" vorgesehen, falls die Einfuhren aus der Ukraine den Schnitt der Jahre 2022 und 2023 übersteigen. In diesem Fall dürfen Zölle wieder eingeführt werden. Das aber könnte dazu führen, dass die EU die ukrainische Wirtschaft anderweitig unterstützen muss.
"Das haben viele Politiker nicht verstanden"
Die Probleme der europäischen Landwirte sind vielfältig. Agrarökonom Sebastian Lakner von der Universität Rostock glaubt allerdings nicht, dass die EU der richtige Ansprechpartner für die wütenden Proteste ist. Er zweifelt auch daran, dass die jüngsten Zugeständnisse von Brüssel die Lage nachhaltig verbessern werden. "Ich habe den Eindruck, man sucht eher einen Buhmann, gegen den man gemeinsam demonstrieren kann", sagte er im Interview mit der taz. "Es ist, als ob die Titanic untergeht und die Kommission wirft zwei Rettungsringe hinterher."
Der Agrarökonom kann nachvollziehen, dass die Landwirte frustriert sind von innereuropäischen Wettbewerbsverzerrungen sowie Bürokratie. Das aber seien hausgemachte Probleme, sagte er bereits Mitte Januar auf dem Höhepunkt der deutschen Proteste in einem Interview mit ntv.de. Denn einzelne EU-Länder wie Frankreich nutzen Förderprogramme der EU ausschweifender als andere, wie zum Beispiel Deutschland. Diese Förderung trage dazu bei, dass der Markt mit bestimmten Erzeugnissen geflutet werde, wodurch die Preise der Lebensmittel im Supermarkt fallen.
Gleichzeitig werden durch diese Subventionen Betriebe künstlich am Leben erhalten, die schon lange nicht mehr wettbewerbsfähig seien, sagte Lakner. Das sei bitter, aber die Wahrheit: In der Landwirtschaft finde bereits seit vielen Jahrzehnten ein natürlicher Strukturwandel statt. "Es gibt immer weniger Betriebe und die werden immer größer. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben 25 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft gearbeitet, aktuell sind es etwa 1,5 Prozent." Das sei ein kontinuierlicher Prozess, den die Agrarpolitik weder beeinflussen noch stoppen könne, betont der Ökonom. "Das haben viele Politiker nicht verstanden", sagt Lanker: Es sei fruchtlos, dem politischen Gegner die Schuld für das Höfesterben zu geben.
Ähnlich fruchtlos ist die Blockade von Umwelt-, Tier- und Klimaschutzmaßnahmen. Die sind teuer und für viele Betriebe schmerzhaft, aber auch im Interesse der Landwirte. Denn abgesehen von der Tatsache, dass die Landwirtschaft einer der größten Verursacher des Klimawandels ist, ist sie auch das erste Opfer: Keine andere Branche sei so stark vom Wetter abhängig, betont selbst der Deutsche Bauernverband. Längere Trockenzeiten und Dürren verursachen magere Entern; Stürme und Starkregen verwüsten die Felder. Zu milde Winter ohne harten Frost ziehen Schädlinge und Krankheiten an. Diese Entwicklung lässt sich nicht durch Proteste stoppen.
Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?
"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige. Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein wenig schlauer.
Alle Folgen finden Sie in der ntv-App, bei RTL+, Amazon Music, Apple Podcasts und Spotify. Für alle anderen Podcast-Apps können Sie den RSS-Feed verwenden.
Sie haben eine Frage? Schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an podcasts@ntv.de
Quelle: ntv.de