1930 im Hungerheer der Millionen "Blutsbrüder" kämpfen ums Überleben
26.01.2014, 06:30 Uhr
15.000 obdachlose Jugendliche sollen in Berlin zu Beginn der 1930er Jahre in Cliquen zusammengelebt haben.
Sie sind ständig auf der Flucht, schlafen zwischen Lumpen, saufen sich in Spelunken ihr Elend schön und verkaufen für die nächste Suppe auch mal ihren Körper. Anfang der 1930er Jahre ziehen zahlreiche Jungs-Cliquen durch Berlin - darunter auch die "Blutsbrüder".
Die Alexanderquelle in der Berliner Münzstraße ist Anfang der 1930er Jahre ein "unappetitlicher Laden, aber immer gerammelt voll". Hier treffen sich die Randgestalten der Gesellschaft, "Cliquenjungens aller Jahrgänge, Prostitution der letzten Kategorie, Penner, Bettler und Bettlerinnen. Sie alle sorgen für die Wohlpoliertheit der Glatze des Wirtes, der den Pestgestank seines Lokals nicht mehr atmen kann und vor der Tür steht".

1932, kurz nach der Weltwirtschaftskrise: Essensraum in einem Obdachlosenasyl im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg.
(Foto: Wikipedia / Rast67)
Im Inneren des Gastraumes quetschen sich auch Jonny, Ludwig, Fred und ihre Leidensgenossen an einen der Tische. Bei einigen Gläsern Koks (Rum mit einem Stückchen Zucker) versuchen sie, ihr Elend zu vergessen. Die acht jungen Männer im Alter zwischen 16 und 21 Jahren sind obdachlos und schlagen sich gemeinsam durch die Unterwelt der Millionenstadt. Sie nennen sich "Blutsbrüder" und sind in einer der unzähligen Jungengruppen organisiert, die in den Großstädten der Weimarer Republik tagtäglich ums nackte Überleben kämpfen.
Ihnen widmete Ernst Haffner 1932 seinen Roman "Jugend auf der Landstraße Berlins", der von den Nazis als "schädlich und unerwünscht" verbrannt wurde und 80 Jahre lang in Vergessenheit geriet. Jetzt hat der Metrolit Verlag das Buch unter dem Titel "Blutsbrüder. Ein Berliner Cliquenroman" neu aufgelegt und kann sich damit eine lesenswerte literarische Wiederentdeckung auf die Fahne schreiben.
Über den Autor des Buches ist nicht viel bekannt. Haffner lebte offenbar ab 1925 in Berlin, Ende der 1930er Jahre verliert sich seine Spur. In Berlin soll er als Journalist gearbeitet haben. Die Schicksale aus dem "Hungerheer der sechs Millionen" Erwerbslosen in der Zeit kurz nach der Weltwirtschaftskrise scheint er aber im Zuge seiner Tätigkeit als Sozialarbeiter näher studiert zu haben und verarbeitet sie in seinem Buch, das sich fast wie eine Sozialreportage liest und irgendwo zwischen Milieustudie und Abenteuerroman angesiedelt ist.
Massenelend und Gewalt
Die Jungen, die Haffner beispielhaft porträtiert, sind aus ganz unterschiedlichen Gründen auf der Straße gelandet: Die meisten von ihnen kommen aus Familien, die der Erste Weltkrieg komplett zerrüttet hat, Heinz läuft vor seiner Mutter davon, die Nacht für Nacht ihre Freier mit in das einzige Zimmer der Familie bringt, Fred nimmt Reißaus vor seinem Vater, der ein Meister im Prügeln ist. Ein großes Thema sind für Haffner die fragwürdigen Erziehungsmethoden der Fürsorgeanstalten, vor denen Willi flüchtet. Auf die Radachse eines Zuges geklemmt, riskiert er acht Stunden lang sein Leben, um an sein Ziel zu gelangen: Berlin.
Dort schließt er sich den "Blutsbrüdern" an, die durch die verrufenen Spelunken, modrigen Hinterhöfe und Wärmehallen zwischen Alexanderplatz und Schlesischem Tor strolchen. Ihre Gemeinschaft ist aus der Not heraus entstanden, sie bietet ihnen ein wenig Schutz und Sicherheit inmitten von Massenelend und Gewalt. Vor allem aber geht es den Jungen darum, gemeinsam den Tag zu meistern. Sie arbeiten als Laufburschen und schippen im Winter Schnee, um sich für ein paar Groschen eine Erbsensuppe, einige Zigaretten und eine meist verlauste, schimmlige Schlafgelegenheit leisten zu können. Kommt es hart auf hart, werden sie zu Langfingern oder gehen auf den Strich.
Als die Gruppe unter ihrem "Cliquenbullen" Jonny immer krummere Dinger dreht und mehr und mehr zu einer Bande von Kriminellen wird, haben der aus der Fürsorge geflohene Willi und sein Kumpel Ludwig, der gerade erst Gefängnisluft schnuppern musste, die Nase voll. Sie wollen ihr Geld auf anständigem Weg verdienen. Aber auch das funktioniert nicht ohne Probleme und Rückschläge.
Ein Roman wie ein Film
Haffner scheint ein guter Beobachter gewesen zu sein, eindringlich schildert er die Zustände am unteren Rand der Gesellschaft in den frühen 1930er Jahren und folgt den Jungen mit einer filmischen Erzählgenauigkeit in die dunklen Ecken Berlins. Er berichtet, wie die "Blutsbrüder" zusammenhalten, wenn es darum geht, sich nicht von der Polizei schnappen zu lassen, wie sie rivalisierende Gruppen vermöbeln und die eine oder andere raue Orgie feiern, bei der sie auch mal ihr letztes Geld für eine 40-jährige, brüderlich geteilte Hure raushauen.
Den Jungen und ihren nicht immer legalen Überlebensstrategien begegnet Haffner mit viel Verständnis, greift dabei trotzdem nicht zum Weichzeicher, mag allerdings auf den einen oder anderen moralisierenden Kommentar nicht verzichten - vor allem dann, wenn es um die nur einen Steinwurf entfernte Gegenwelt zu Berlins proletarischem Osten geht: den bürgerlichen Westen mit seinen Amüsiermeilen, palastähnlichen Läden, pelzbemäntelten Herrschaften und Lackschühchen tragenden Hunden.
So ist der Roman am Ende auch nicht nur eine fesselnde Lektüre, die den Blick auf eine Generation von verlorenen Jugendlichen zwischen zwei Weltkriegen richtet, sondern auch eine Zeitreise in ein vergangenes Berlin, an Orte, die heute verschwunden sind - wie die Alexanderquelle in der Münzstraße.
Quelle: ntv.de