Früher war mehr Sex und Koks Der schnelle Abstieg von Vernon Subutex
15.10.2017, 08:21 Uhr
Die Party ist vorbei oder wird anderswo gefeiert.
(Foto: imago/Pacific Press Agency)
Ihr Film "Baise-moi" wird einst zum Skandal, jetzt beschreibt Virginie Despentes in ihrem großartigen Roman "Das Leben des Vernon Subutex", was im Zeitalter von Digitalisierung, Rechtsruck und Islam-Angst aus der Bobo-Gesellschaft geworden ist.
So tun, als wäre nichts. Das ist der Grundsatz, an den sich Vernon angesichts der Katastrophe hält. Schließlich sind noch genügend Platten aus seiner Geschäftsauflösung zum Verkauf auf eBay übrig, kommt er auch mit weniger Zigaretten aus und sind so viele Freunde zuletzt gestorben, dass er keine Lust zum Ausgehen hat. Doch als ihm die Stütze gestrichen wird und sein Freund, der berühmte Sänger Alex Bleach, ihm nicht mehr mit der Miete helfen kann, weil er tot in der Badewanne aufgefunden wird, wird es eng für Vernon.
Mit einer Notlüge schwindelt er sich erstmal auf die Sofas von alten Freunden und in die Betten einstiger Schönheiten. Doch nostalgische Erinnerungen an seinen Plattenladen, schöne Augen und ein Talent als DJ reichen nicht, um einen fast Fünfzigjährigen ohne Geld und Wohnsitz vor dem Absturz zu bewahren. Sein einziger wertvoller Besitz sind die wenige Tage vor Bleachs Tod im Koksrausch aufgenommenen Bänder – für die sich Drehbuchautoren, ein Filmproduzent, ein ehemaliger Pornostar und eine auf digitalen Rufmord spezialisierte Hyäne interessieren.
Schlechte Zeiten für Tagträumer
Schon mal überlegt, was aus dem netten Typen aus Nick Hornbys Roman "High Fidelity" nach der Party, auf der der Plattenladenbesitzer als DJ auflegt und seine Freundin zurückgewinnt, geworden ist? Die französische Schriftstellerin Virginie Despentes gibt in "Das Leben des Vernon Subutex" eine niederschmetternde Antwort darauf: Die coole Gang der 1990er ist nicht vorbereitet auf das mittlere Alter. Darauf, dass man am Tag nach der Party das Handy ein Stück weit weghalten muss, um die SMS vom gestrigen Fick zu lesen. Dass man ohne Geld, Job oder reiche Ehefrau nicht mehr unbedingt irgendwie durchkommt, sondern tatsächlich mitsamt seinem iPod auf der Straße landen kann.
Die 1969 geborene Despentes erzählt von einer Welt, in der Plattenladenbesitzer dank der Digitalisierung nie wieder einen Job finden werden, Dealer ihren Job wechseln und lukrativen Rufmord im Internet betreiben, die Töchter von Pornostars den Islam entdecken und die Söhne von linken Bohémiens nach Rechts rutschen. Kurz: Sie erzählt von Frankreich, wie es heute ist.
Despentes Debütroman "Baise-moi" ("Fick mich") und dessen Verfilmung, in dem sie ihre eigene Vergangenheit als Vergewaltigungsopfer und Prostituierte verarbeitete, sorgte 1994 für einen genüsslichen Skandal. Nun hat sie sich erneut umgeschaut in ihrem Leben, unter ihren Freunden. Die vielen Figuren ihres neuen Romans sind ebenfalls mittlerweile zwischen 40 und 50 Jahre alt. Sie verströmen die Wehmut einer Generation, deren Adoleszenz sich lange hinzog, die noch hedonistischer, noch sicherer, als alle Generationen vor ihr war, dass ihr Ruhm und Reichtum zusteht. Für diese Menschen war früher alles besser - der Sex, die Drogen, die Kunst. Man traute den Medien und gab seine Meinung nur am Tresen wieder, nicht in Hasskommentaren.
Modernes Sittengemälde
In Frankreich führte das Buch nach seinem Erscheinen 2015 wochenlang die Bestsellerlisten an und wurde für zahlreiche Preise nominiert. Kritiker verglichen es mit der "Menschlichen Komödie" von Balzac. Auf der Frankfurter Buchmesse wird es als gleichwertige Literatur zu Michel Houellebecq gefeiert. Tatsächlich hat Virginie Despentes einen Gesellschaftsroman geschrieben, in dem sich heute wahrscheinlich weitaus mehr Leute wiederfinden und amüsieren, als zwischen den Seiten eines Balzac-Buchs. Das Universum von Vernon Subutex besteht aus einem schillernden Netzwerk an Leuten, denen man als Leser nachsichtiges Verständnis entgegenbringen kann. Egal, ob es sich um ein reaktionäres Arschloch, ein Pornosternchen, das lieber als Mann weiterleben möchte, eine brasilianische Transsexuelle, einen dicken, erfolglosen Drehbuchautor, einen prügelnden Ehemann oder eine lesbische Hyäne handelt. Sie alle versuchen am Ende nur, in dieser neuen Welt zurechtzukommen.
Dass die Autorin ihr umfangreiches Personal im Griff hat und es immer wieder aus dem Blickwinkel neuer Protagonisten zeigt, macht diesen politischen Roman auch zur guten Unterhaltung. Da lässt sich auch die eine oder andere etwas zu langatmige Tirade über das Internet und die soziale Medien oder die Spielereien mit Namen – Subutex ist etwa der Name einer Entzugsdroge - verzeihen. Was soll man von diesen Bobos, diesen bourgeoisen Bohémiens, mittleren Alters auch erwarten?
Am Ende des 400-Seiten-starken Bands ist Vernon Subutex ganz unten angelangt. Ein Penner auf einer Bank hoch oben auf einem Hügel in Paris. Aber entgegen der Erwartungen noch am Leben. Denn "Das Leben des Vernon Subutux" ist der Auftakt zu einer Trilogie. Teil zwei wird im Frühjahr 2018 bei Kiepenheuer & Witsch erscheinen. Man kann nicht anders, als auf eine Auferstehung von Vernon und seinen Freunden zu hoffen.
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Quelle: ntv.de