Großvater, Suchender, Präsident Der unbekannte Nelson Mandela
15.07.2018, 18:47 Uhr
Nelson Mandela starb am 5. Dezember 2013. Am 18. Juli 2018 wäre er 100 Jahre alt geworden.
Als Nelson Mandela stirbt, trauert die ganze Welt um ihn. Südafrikas erster schwarzer Präsident wird nicht nur im eigenen Land fast wie ein Heiliger verehrt. Zu seinem 100. Geburtstag darf er wieder etwas mehr Mensch sein, mit Irrtümern und Fehlern.
Fünf Jahre nach dem Tod Nelson Mandelas ist der Mythos des ersten schwarzen südafrikanischen Präsidenten ungebrochen. Zu seinem 100. Geburtstag mischen sich jedoch zunehmend nachdenkliche und differenzierte Töne in das Bild des Mannes, der sein Land aus der Apartheid herausführte. Gleich mehrere Bücher sind in diesem Jahr erschienen und nähern sich Mandela auf unterschiedliche Weise an.
Den persönlichsten Blick auf "Madiba" (sein Clanname) oder "Tata" (übersetzt Vater) liefert Mandelas Enkel Ndaba. Der Sohn von Makghato Lewanika Mandela, der aus der ersten Ehe mit Evelyn stammt, zog als Elfjähriger zu Nelson Mandela. Offenbar hatte der Großvater das entschieden. Kurz darauf wurde Mandela südafrikanischer Präsident. Der Junge, dessen Eltern beide später an HIV sterben, gilt zu diesem Zeitpunkt als rebellisch und orientierungslos. Die mit ihrer Alkoholabhängigkeit ringenden Eltern können ihn in den Slums von Soweto kaum bändigen.
Beim Großvater erlebt Ndaba nach Jahren des Herumziehens einerseits Strenge, andererseits aber auch Wohlstand. In der Küche gibt es immer genug zu essen, er hat sein eigenes Zimmer. Dafür muss er dieses Zimmer peinlich in Ordnung halten, was der Großvater immer wieder kontrolliert. Ebenso wie Ndabas Schulnoten. Nelson Mandelas Botschaft an den Enkel ist klar: "Du bist ein Mandela. Die Leute erwarten von dir, dass du ein Anführer bist. Du solltest Klassenbester werden."
Mit diesen Anforderungen tut sich der Enkel lange schwer. Doch nach dem Tod der Eltern und weiteren Jahren der Suche fasst er schließlich Fuß. Heute setzt sich Ndaba Mandela mit seiner eigenen Stiftung für eine selbstbewusste Entwicklung des afrikanischen Kontinents und für den Kampf gegen HIV ein. "Du hast die Möglichkeit, anderen Menschen zu helfen - große Dinge zu bewirken -, du kannst deine Chancen aber auch über Bord werfen und die Menschen, die dich lieben und sich um dich sorgen, demütigen." Diese Worte von Nelson Mandela hat sein rebellischer Enkel nie vergessen.
Nelson Mandela verpasste durch die lange Gefangenschaft und durch seine Präsidentschaft das Aufwachsen seiner Kinder und Enkel, auch wenn niemand seine Rolle als Familienoberhaupt infrage stellte. "Mut zur Vergebung" ist deshalb weit mehr als nur die Geschichte von Großvater und Enkel. Ndaba Mandela erzählt aus der Innenperspektive der Mandela-Familie, in der viele der ANC-Freunde wie Onkel und Tanten sind, in der Ex-Frauen als Zweitmütter fungieren und zahlreiche Cousins und Cousinen wie Geschwister miteinander aufwachsen. Davon hat man bisher nur wenig erfahren.
Schattenseiten einer Ikone
Dem Menschen Nelson Mandela nähert sich auch Stephan Bierling in seiner umfassenden Biografie. Akribisch zeichnet er den Lebensweg des Häuptlingssohnes zu einer politischen Ikone des 20. Jahrhunderts nach. Allerdings lässt Bierling auch Raum für Mandelas Schattenseiten.
Denn der Mandela, der er nach den insgesamt 27 Jahren politischer Haft war, war ein anderer als der Mandela der jungen Jahre. Bierling lässt kaum Zweifel daran, dass Mandelas erste Ehe mit Evelyn von häuslicher Gewalt überschattet war. Ein eitler Frauenheld, bildungshungrig und statusbewusst, das ist Nelson Mandela in dieser Zeit. Auch die spätere Überzeugung, dass sich Südafrika gewaltfrei transformieren muss, hatte der junge Mandela keineswegs. Sabotage, bewaffneter Kampf, Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei: Mandela hatte vor seiner Inhaftierung Züge, wie man sie später an Fidel Castro oder Robert Mugabe wiederfinden konnte. Von beiden distanzierte er sich übrigens nie oder viel zu spät.
Doch während der Haftjahre entwickelt Mandela die Strategien, die ihn später auszeichnen werden: Freundlichkeit und Respekt, die Fähigkeit zuzuhören, der unbedingte Wille, im Gegenüber den Menschen zu sehen und Loyalität. Vor allem Letzteres macht Mandela in seinem politischen Ämtern später Probleme, als er beispielsweise lange zögert, seine zweite Ehefrau Winnie Mandela aus ihren Ämtern zu entlassen.
An dieser Ehe wird auch der Preis überdeutlich, den Mandela als Privatperson für seine politischen Überzeugungen gezahlt hat. Er wird kurz nach der Eheschließung mit Winnie inhaftiert und schreibt ihr jahrelang überschwängliche Liebesbriefe. Doch nach der Freilassung ist von der Ehe nichts mehr übrig, Winnie hat ihre Liebhaber, die Kinder sind ohne den Vater herangewachsen und haben sich mit seiner fernen Autorität eingerichtet. Mandela tut sich schwer mit dem präsidialen Alltagsgeschäft, er ist oft einsam.
In seiner Regierungszeit werden zwar viele Schulen und Krankenhäuser gebaut, es fehlt allerdings an ausgebildetem Personal, diese auch zu betreiben. Seine Aids-Politik ist halbherzig, erst nach dem Tod seines Sohnes Makghato Lewanika Mandela wandelt sich das. "In der Außenpolitik stellte Mandela ideologische Motive und die Loyalität mit alten Bundesgenossen bisweilen über proklamierte Werte und nüchtern kalkulierte Interessen", schreibt Bierling außerdem. Frühere Kampfgenossen versorgte er mit gut bezahlten Posten, auch als deren Nicht-Eignung längst erwiesen war, und öffnete damit Korruption und Amtsmissbrauch Tür und Tor.
Um den Greis Mandela entbrennt schließlich ein Machtkampf in der eigenen Familie. Wer kann, versucht vom Ruhm der Anti-Apartheid-Ikone finanziell zu profitieren. Lediglich seine dritte Ehefrau Graça Machel wahrt ihre und seine Würde, sogar als sie von seinem Sterbebett ferngehalten wird.
Der lange Weg geht weiter
Machel kümmert sich auch darum, dass Mandelas biografische Skizzen über seine Präsidentschaft posthum erscheinen. Er selbst hatte zunehmend das Interesse daran verloren, den Text über den Wandlungsprozess in Südafrika fertigzustellen. Seine Witwe und Ko-Autor Mandla Langa konnten für "Wage nicht zu zögern - die Präsidentenbiografie" jedoch auf etwa zehn Kapitel zurückgreifen, die Mandela selbst mit Füllhalter oder Kugelschreiber zu Papier gebracht hatte.
Auch wenn dieser autorisierte Text als zweiter Teil von Mandelas legendärem Buch "Der lange Weg zur Freiheit" gesehen werden kann, ist er doch sehr geprägt von der Innensicht auf das Alltagsgeschäft eines Regierenden. Nur selten blitzen Mandelas Geist und Schärfe auf. Trotzdem ist es spannend, Mandelas eigenen Einschätzungen zu verfolgen. Beispielsweise wird so der Mythos ausgeräumt, warum Mandela von seinen ursprünglichen Plänen abrückte, große Teile der südafrikanischen Wirtschaft zu verstaatlichen. Anders als vermutet überzeugten ihn nicht die großen Wirtschaftsführer 1992 auf dem Weltwirtschaftsreffen in Davos. Sondern es war Chinas Premierminister Li Peng, der ihn eindringlich davor warnte.
Das Buch endet mit Mandelas Abschiedsrede vor dem Parlament, in der er seine Nachfolger eindringlich mahnt, keinen blutigen und zerstörerischen Rassenkrieg zuzulassen und das Erbe von Armut, Teilung und Ungleichheit zu überwinden. Dann spürt man: Der Traum von der Regenbogennation hat nichts von seiner Faszination verloren.
Quelle: ntv.de