"Galgen" und "Sprossen in Aspik" Was Fenster über Gebäude verraten
13.01.2019, 10:04 Uhr
In den 1980er-Jahren waren "ironische Formate" angesagt. (im Bild: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WBZ)
Neues Bauen, Hightech oder Brutalismus? Wer ein Gebäude einer bestimmten Epoche zuordnen möchte, der sollte den Blick zu den Fenstern schweifen lassen. Denn dort gibt es von "gelutschten Ecken" bis hin zu "Sprossen in Aspik" einiges zu entdecken. Aber Achtung: Es droht die Neo-Falle.
Ein Haus sieht aus, als sei es aus riesigen Bauklötzen zusammengesetzt, ein anderes ziert ein bunt eingerahmtes Eckfenster und ein weiteres erinnert optisch an einen Bunker. Das kann man schön finden. Muss es aber nicht. Doch aus welcher Epoche stammen Gebäude mit diesen Merkmalen eigentlich? Wer sich eine solche Frage auf dem Weg zur Arbeit oder während des Sonntagsspaziergangs schon einmal gestellt hat, der ist bei Turit Fröbe richtig.
Die Architekturhistorikerin und Urbanistin hat mit "Alles nur Fassade?" ein übersichtliches, lehrreiches und handliches "Bestimmungsbuch für moderne Architektur" zusammengestellt, das sich mit den Bauphasen ausgehend vom Jugendstil bis heute beschäftigt. Fröbes Botschaft: Es ist ganz einfach, ein Gebäude einem bestimmten architektonischen Zeitraum zuzuordnen. Jedenfalls dann, wenn man weiß, wohin der Blick schweifen muss.
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts lassen sich Bauwerke vor allem anhand ihrer Dekoration klassifizieren. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts fällt die Ornamentik immer häufiger weg und ein anderes Element übernimmt stattdessen die Funktion eines eigenständigen Gestaltungsmittels: das Fenster. Da sich in fast jeder Dekade spezielle Vorlieben für Fenster entwickelt haben, werden sie bei Fröbe zum Ausgangspunkt für die Bestimmung des Baustils.
Formen, Materialien, Dächer
Und so startet das Buch auf 12 Seiten mit Fotos, die unterschiedliche Formate und Sonderformen von Fenstern zeigen sowie ihre vielfältigen Varianten durch Sprossenaufteilung und Anordnung an der Fassade. Unter jedem Bild führt ein Vermerk zu einer oder gleich mehreren infrage kommenden Epochen. In den 16 reich bebilderten Kapiteln zu den einzelnen Stilen gilt es nun, anhand weiterer Details zu Fenstern, Materialien und Gebäudeformen die getroffene Wahl zu verifizieren - oder zu korrigieren.
Hin- und herblätternd nähert man sich so langsam dem Haus an, das man bestimmen möchte. Hat es vorwiegend quadratische und querrechteckige Fenster? Wurden Fliesen und Glasbausteine verarbeitet oder das Ganzen mit einem "Flugdach" gekrönt? Dann steht man höchstwahrscheinlich vor einem Bau aus den 1950er-Jahren. Sind hingegen nicht nur die Fenster, sondern das gesamte Gebäude plus Details wie Blumenkästen abgeschrägt oder gerundet, handelt es sich mit ziemlicher Sicherheit um die "rundgelutschten Ecken" der 1970er-Jahre.
Allerdings kann man auch in die "Neo-Falle" tappen. Denn nicht immer ist alles so offensichtlich, wie es scheint. Nach 15 bis 25 Jahren fielen architektonische Moden "nahezu zwangsläufig in Ungnade", schreibt Fröbe. Eine gewisse Karenzzeit später könnten sie jedoch ein Comeback erleben. Häuser, die nach Reformarchitektur aussehen, müssen also nicht unbedingt in den 1920er-Jahre erbaut worden sein. Und dann kann es für ArchitekturbestimmerInnen richtig knifflig werden. Aber natürlich verrät Fröbe einige Tricks, um auch "Retro-Stile" zu entlarven.
Spielplatz für Architekturfans
Zur Veranschaulichung der einzelnen Epochen zeigt und beschreibt Fröbe am Ende jedes Kapitels eine baugeschichtliche "Ikone" - zum Beispiel das Jüdische Museum in Berlin (Dekonstruktivismus) oder die Elbphilharmonie in Hamburg (Gegenwart). Aber im Gegensatz zu herkömmlichen Architekturführern steht bei ihr nicht das "Herausragende und Besondere, sondern das Alltägliche im Mittelpunkt". Also genau das, was jeder in seiner unmittelbaren Nachbarschaft entdecken kann.
Und deswegen geht man plötzlich auch mit ganz anderen Augen durch die urbane Welt, schaut genauer hin als sonst. Und beginnt beim Blick durch die eigenen "Kreuzstockfenster" zu rätselt, ob die durch Sprossen T-förmig unterteilten "Galgenfenster" am Haus gegenüber nun ein Merkmal des Jugendstils oder doch der Konservativen Moderne sind. Kurz gesagt: Das Buch macht richtig viel Spaß und ist ein echter Gewinn für Architektur-Begeisterte.
Die lernen nebenbei auch noch jede Menge interessante Fakten kennen. Zum Beispiel, dass in den 1950er-Jahren die horizontal und vertikal gliedernde "Rasteritis" grassierte; dass schmale Stegen zwischen Isolierglasscheiben, die das Fensterputzen erleichtern sollen, abwertend als "Sprossen in Aspik" bezeichnet werden; oder wie Verfechter von Flach- beziehungsweise Satteldach im "Zehlendorfer Dächerstreit" aufeinandertrafen.
Die Antwort auf die Eingangsfrage lautet übrigens: Postmoderne (1980er-Jahre), Neues Bauen (1920er-Jahre) und Brutalismus, ein von Le Corbusier geprägter Rohbeton-Stil, der in den 1960er-Jahren zur Blüte gelangte. Und gegenwärtig kurz davor stehe, sein Revival zu feiern, so die Trendprognose von Fröbe.
Quelle: ntv.de