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Asaf Avidan mit "Unfurl" "Seit dem 7. Oktober möchte ich 'die dritte Stimme' sein"

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Stets elegant und immer auch ein bisschen androgyn: Asaf Avidan.

Stets elegant und immer auch ein bisschen androgyn: Asaf Avidan.

(Foto: Faid A. Savant)

Geboren 1980 in Jerusalem ist Asaf Avidan heute das, was man wohl einen Weltbürger nennt. Aufgewachsen in Jamaika und mit Umwegen über New York und Berlin ist er inzwischen in Südfrankreich zu Hause. Musik macht er - zunächst mit The Mojos - schon seit mehr als 20 Jahren. Einem breiten Publikum bekannt wurde Asaf Avidan dann aber erst dank des Wankelmut-Remixes seines "Reckoning Song" 2012. Dabei ist er so viel mehr als diese eine Nummer. Seine philosophischen Lyrics und komplexen Kompositionen, die androgyne Falsett-Stimme und das elegante Auftreten machen ihn zu einem der außergewöhnlichsten Künstler unserer Zeit.

Jetzt veröffentlicht Asaf Avidan mit "Unfurl" sein fünftes Studioalbum als Solo-Künstler. Im Interview mit ntv.de spricht der 45-Jährige über seinen Umgang mit der aktuellen Weltlage, den Mangel an Menschlichkeit und wie ihn sein Leben mit geretteten Tieren im Hier und Jetzt beeinflusst.

ntv.de: Deine Posts und Teaser zu "Unfurl" wirken extrem filmisch. War dies das Konzept - weil ein Album für dich wie ein Film funktioniert?

Asaf Avidan: In gewisser Weise ja. Ein Album ist für mich allumfassend, jedes Detail erzählt eine Geschichte. Es ist keine narrative, sondern eine emotionale Story. Alles, was das Publikum in die Landschaft hineinzieht, die man erschafft, hilft. Dieses Album ist sehr stark vom Kino der 50er-Jahre beeinflusst - musikalisch und visuell. Komponisten wie Bernard Herrmann und John Barry, also die großen Soundtrack-Schaffenden für Hitchcock, James Bond, diese 50er/60er-Thriller, haben die Musik geprägt. Es ist eine Henne-Ei-Lawine: Das Kino beeinflusst die Musik, die Musik wird filmisch und beeinflusst wiederum mein filmisches Denken. Visionär geht es um eine träumerische, eher jungianische als freudianische Traumlandschaft, in der die Membran zwischen Bewusstem und Unbewusstem sich auflöst. Darum geht's auf dem Album.

Ist es eine Flucht in Vergangenes, weil die Realität gerade so furchtbar ist?

Egal, ob Philosophie, Biologie oder Psychologie - ich komme zur gleichen Antwort: Wir können das Äußere nicht wirklich diskutieren, nur unsere innere Interpretation. Es gibt keine objektive, nur subjektive Realität. Jedes Album ist für mich eine archäologische Ausgrabung des Selbst, Schicht für Schicht tiefer. Man hofft, so weit vorzudringen, dass die oberflächliche "Person" sich auflöst und etwas Universelles sichtbar wird - die Bausteine menschlicher Emotion, egal ob Berlin, Peking, Johannesburg oder New York. Deshalb lese ich Jung oder Joseph Campbell: die Kohärenzen der menschlichen Psyche. Das interessiert mich weit mehr als der aktuelle Diskurs, der Unterschiede betont - das ist gefährlich und kindisch. Über mich selbst zu sprechen, ist das Einzige, was ich ehrlich kann.

Haben sich die Emotionen in deinen Songs über die Jahre verändert? Du kamst ja einst über den Herzschmerz zur Musik ...

Asaf Avidan auf RTL+ Musik.
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(Foto: Faid A. Savant)

Hören Sie die Musik von Asaf Avidan auf RTL+ Musik.

Natürlich. Musik ist für mich ein Werkzeug, die brodelnden Wasser in mir auszudrücken. Mit 45 sehe und erlebe ich Dinge anders als mit 26. Mein Blick hat sich zum Glück verändert - genauso wie mein Umfeld und die Welt. Das Einzige, was ich bringen kann, bin ich selbst. Und ich habe mich verändert. Musik ist am Ende das Produkt all der inneren Kämpfe.

Wir leben in Krisenzeiten. Kannst du das im Studio ausschalten oder fließt es zwangsläufig mit ein?

Die Rolle des Künstlers ähnelt der des Schamanen in anderen Kulturen - zwischen der Welt des Lebendigen und der "Geister" zu wandeln und zu vermitteln. Aber der Schamane ist kein Gott - am Ende ist er ein sensibler Mensch, der ins "Jetzt" zurückkehren muss, in eine Welt voller Politik, Kriege, Hunger, Drohnen, Populismus, Neo-Faschismus. Man kann keinen Teil von sich abschalten. Leonard Cohens "Who by Fire" - seine Yom-Kippur-Interpretation - zählt Arten zu sterben auf; am Ende bleibt die Endlichkeit unser stärkster gemeinsamer Nenner. Mich interessiert, was uns in dieser Endlichkeit menschlich macht.

Weil es das ist, was uns gerade fehlt? Die Menschlichkeit?

Ja. Das Leid der Welt zerreißt mich - jeden Tag Nachrichten zu lesen, bricht mir das Herz. Aber ob in Krieg oder Frieden, im Bett oder im Kerker, vor 10.000 Jahren oder gestern - wir alle erleben das Spektrum von Glück und Hoffnung bis Depression und Hoffnungslosigkeit. Diese Themen sind universell, ob Israeli oder Palästinenser, Ukrainer oder Russe, Republikaner oder Demokrat. Im Studio dissoziiere ich nicht, ich assoziiere maximal: Ich richte die Linse nach innen, suche ehrliche Emotionen und gehe ihren Wurzeln nach. Gesichter sind nicht wichtig, sondern was sie repräsentieren - deshalb kann man gleichzeitig persönlich und politisch sein.

Muss ein Künstler deiner Meinung nach seine Haltung zu den Dingen immer nach außen tragen?

Nein, vom Künstler wird erst mal nur verlangt, sich selbst treu zu sein. Er muss keine soziale oder politische Meinung äußern. Wenn er will, soll er das dürfen - wie jeder Bürger. Aber wir sollten es nicht einfordern. Ich selbst habe ein ambivalentes Verhältnis dazu. Oft empfinde ich solche Debatten als Selbstbespiegelung in Echokammern - man wiegt sein Gewissen in den Schlaf, betreibt Virtue Signaling, spricht zu ohnehin Wohlgesinnten. Im schlimmsten Fall fördert es Polarisierung und Hassrede, mit binärer Sprache: diese Seite oder jene. Seit dem 7. Oktober verspüre ich den Wunsch, die "dritte Stimme" zu sein: Grau, Nuance, Komplexität. Du musst nicht wählen, wer mehr leidet oder gerechter ist. Menschliches Leid ist an sich inakzeptabel - es darf nicht gegeneinander aufgerechnet werden. Ich vermisse Demos, die beide Fahnen zusammen hochhalten.

Oft ist es ja eine Ego-Show und es scheint dabei nicht immer tatsächlich um Frieden zu gehen.

Ich versuche, vorsichtig zu sein und Empathie zu haben.

Man hört, dass du vorsichtig bist.

Es ist auch leicht, zynisch zu werden - etwa wenn Greta Thunberg mit dem Boot nach Gaza fährt. Das wirkt megalomanisch und narzisstisch. Aber auch dafür versuche ich, Empathie zu haben: Vielleicht liegt ihr menschliches Leben wirklich am Herzen - dann muss man zeigen, dass jedes Leben gleich zählt. Es gibt nie Schwarz-Weiß. Menschen haben Angst, misstrauen, werden indoktriniert oder entmenschlichen andere. Wurzel vieler Kriege - nicht nur Israel/Palästina, auch Ukraine/Russland, Sudan - ist unsere Fähigkeit, Empathie zu unterteilen: eine Gruppe entmenschlichen, um eine andere zu vermenschlichen. Ich will zur Re-Humanisierung aller Menschen beitragen. Mir ist egal, wer angefangen hat - ich will Koexistenz. Und man kann mir "Elfenbeinturm Frankreich" vorwerfen, aber du musst meine Meinung nicht annehmen.

Wie drückst du diese dennoch öffentlich aus?

Es gibt im Levante-Raum Gruppen, die praktisch zusammenarbeiten: Bei meinen Konzerten liegen Flyer von "Combatants for Peace" (ehemalige Soldaten und Milizionäre beider Seiten, die einen anderen Weg gehen wollen) und einer Initiative von Hinterbliebenenfamilien aus, die den Rachekreislauf beenden wollen. Dialog, Respekt, gegenseitige Empathie für Hoffnungen, Träume, Ängste - das bringt Würde, Sicherheit und Frieden. Und noch etwas: Ich sehe mich weder primär als Israeli - ich lebe seit über einem Jahrzehnt nicht dort - noch als praktizierenden Juden. Ich bin in Jamaika aufgewachsen, meine Eltern lernten sich in New York kennen, ich lebte in Italien, Berlin, jetzt Frankreich. Meine Partnerin ist Italienerin aus einer katholischen Familie - wir feiern Weihnachten wie Chanukka. Diese Labels von außen will ich nicht zu meiner Identität machen lassen.

Israelische Künstler werden aktuell wieder ausgeladen. Bands boykottieren Israel, indem sie ihre Musik dort nicht mehr zur Verfügung stellen ...

Kulturelle Boykotte sind selbstzerstörerisch. Meist trifft es genau jene Künstler, Filmschaffenden, Wissenschaftler, die Pluralismus und Koexistenz vertreten. Man kappt Kommunikation zu denen in Israel, die man eigentlich erreichen will. Es ist eine weitere Form des Verstummens - kontraproduktiv.

Du lebst heute in Frankreich, bist vegan, rettest Tiere. Weil sie die "besseren Menschen" sind?

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Genau (lacht). Vegan seit etwa zehn Jahren, Vegetarier praktisch, seit ich fünf bin. Der Schritt von vegetarisch zu vegan war ideologisch: Auch Milchproduktion verursacht viel Leid, teils schlimmer als die Fleischindustrie. Tiere sind für mich ein leichter Kanal für Empathie und Mitgefühl. Wir müssen unseren Empathie-Kreis für Menschen erweitern - das ist schwer, ein Muskel, der Training braucht, sonst rutscht man in ein kindliches Wir-gegen-Sie. Bei Tieren fällt mir Mitgefühl leicht. Ich bin nicht spirituell, aber jede Unze Liebe, die ich hineingieße, kommt unendlich verstärkt zurück. In den schwierigen letzten zwei Jahren sind meine besten Erinnerungen Momente mit den Tieren. Sie fordern wenig, geben viel. Vor allem aber: Jedes fühlende Lebewesen mit der Fähigkeit zu Angst, Leid, Hoffnung, Freude verdient Respekt - ob Mensch oder Tier, nicht auf verschiedenen Stufen. Und: Auf dem Hof vergesse ich leicht, dass ich die gleiche Anstrengung an Empathie auch Menschen gegenüber üben muss - das rufe ich mir bewusst in Erinnerung.

Du bist in den sozialen Medien sehr aktiv, machst immer wieder auch Q&As. Wie wichtig ist dir der Kontakt zu den Fans?

Eine Lebensader - die Nabelschnur, die mich weitermachen lässt. Es gibt beim Machen eines Albums viele albtraumhafte Momente. Ich mache es für mich - aber zu sehen, dass es andere berührt, dass die Bausteine, für die ich mich abmühe, in anderen resonieren, bestätigt meine These von der gemeinsamen Seele. Social Media ist oft Monolog oder pseudo-dialogisch und narzisstisch. Deshalb setze ich bewusst eine Stunde hier und da für echte, möglichst aufrichtige Gespräche. Es ist keine perfekte Kommunikation - meine Position ist anders -, aber eine Annäherung daran. Es gibt das Gefühl einer Gemeinschaft, in der ich selbst nicht wichtig bin; es könnte jeder an meiner Stelle sein. Ich liebe es einfach, mit Menschen über Dinge zu reden, Ähnlichkeiten zu finden - das hält mich am Leben.

Lass uns zur Musik und Tour kommen. Deine Tour startet bald. Was erwartet deine Fans live?

"Unfurl" ist voll orchestriert - sehr reich, viele überlagerte Harmonien und Melodien. Das war Teil der Botschaft. Als unabhängiger Künstler kann ich nicht mit Orchester touren, also habe ich das Album in eine bescheidenere Live-Version übertragen und doch versucht, die Neuheit des Sounds zu bewahren. Wir sind eine Band aus mir und vier Musikern und Musikerinnen. Zwei spielen Keys: einer eher pianistischer, der andere übernimmt viele der orchestralen Melodie-Ideen. Ich habe nie Computer auf der Bühne - keine Album-Strings aus der Dose. Es sind Interpretationen des Albums, plus ein paar neue Stücke nach dem Album und eine zweite Hälfte aus älteren Songs - keine "Best of", aber eine Mischung aus "Hits".

Interpretierst du deine Songs also auf der Bühne immer ein wenig anders?

Ich versuche nie, das Lied von "gestern" zu singen. Ich singe, was ich in diesem Moment fühle. Auf dem Album ist alles sehr spezifisch - live wird der Song zur Hülle, in der das Publikum sich findet, und ich mich auch, jeden Abend neu. Du wirst jemanden sehen, der ringt, seine Emotionen zu interpretieren.

Das Album "Unfurl" ist ab dem 10. Oktober überall erhältlich.

Quelle: ntv.de

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