Ulrich Tukur feiert musikalisches Jubiläum "Wir sind eine müde, bequeme und mutlose Gesellschaft"

Ulrich Tukur gehört seit Jahrzehnten zu den besten Schauspieler der deutschen TV-Landschaft. Aber auch als Musiker macht er sich bereits lange verdingt. Jetzt feiert er mit seinen Rhythmus Boys 30. Jubiläum. Ein Gespräch über Chaos, Veränderung und Endlichkeit.
Dem TV-Zuschauer ist Ulrich Tukur als Schauspieler ein Begriff. Nicht nur in seiner Rolle des Felix Murot im Wiesbadener "Tatort". Und der heute 68-Jährige hat neben der Schauspielerin noch ein weitere Leidenschaft, die er ebenfalls öffentlich auslebt. Gemeinsam mit den Rhythmus Boys unternimmt er musikalische Zeitreisen die 1920er- und 1930er-Jahre. Die Live-Shows sind ein bunter Reigen aus Klamauk und Songs aus jener Zeit.
Anlässlich des 30. Jubiläums von Ulrich Tukur & Die Rhythmus Boys geht es bald erneut auf Tour, dieses Mal unter dem sicherlich wieder passenden Titel "Tohuwabohu!". Mit ntv.de sprechen Tukur selbst so wie sein Kontrabassist Günther Märtens über Chaos, Veränderung und die eigene Endlichkeit.
Das neue Programm heißt "Tohuwabohu!". Wie viel Chaos, Improvisation und Dilettantismus stecken nach 30 Jahren tatsächlich noch in der Band und wie viel ist Show?
Ulrich Tukur: Es ist strukturierter, gepflegter Dilettantismus. Man braucht für eine neue Show immer auch einen Titel, unter dem sich alles Mögliche zusammenfassen lässt, auch Songs und Ideen, von denen man bis dato noch nichts weiß. Der Titel sollte also eine poetische Weite haben, und das althebräische „Tohuwabohu“ schien mir zu dieser, unserer Zeit sehr passend. Wir erleben gerade überall Chaos, und ich wollte etwas, das diesen Tatbestand widerspiegelt. In meinem Solo-Programm über Mark Twain, das mit der Schöpfung der Welt beginnt, habe ich schon einmal das Motiv des Ur-Anfangs benutzt. Das greifen wir nun wieder auf: Tohuwabohu ist das biblische Chaos – es entsteht die Welt vor den Augen und Ohren der Zuschauer, es erscheinen die Menschen und die Musik, die Instrumente, die Musikanten. Eine biblische Ouvertüre, kraftvoll und archaisch – nur müssen wir höllisch aufpassen, dass wir dann nicht abstürzen.
Tukur: Wir bestimmen gemeinsam. Wir sind Demokraten.
Günter Märtens: Eine demokratische Tanzkapelle!
Tukur: Genau – und am Ende entscheide ich (lacht).
Verstehe. Und wie läuft das praktisch ab, beispielsweise bei der Zusammenstellung der Setlist?
Tukur: Keiner von uns ist wirklich ein Profi auf seinem Instrument. Unser Schlagzeuger ist eigentlich Theologe, ich habe ein bisschen Klavierunterricht gehabt, aber nie Musik studiert. Günter kommt von der Gitarre und musste auf Kontrabass umsatteln – nur Hardy, unser neuer Gitarrist ist mit seinem Instrument einigermaßen vertraut. Aber dieses gehobene Amateurstum ist eben auch unser Stil. Und wir sehen dabei hervorragend aus. Wenn wir glauben, ein Song passt zu uns und unseren Stimmen, wird er in gemeinsamer Arbeit arrangiert. Am besten so, dass vom Original nicht mehr viel übrig bleibt. Wir zerlegen die Stücke und setzen sie dann wieder überraschend neu zusammen.
Märtens: Es stimmt übrigens nicht, dass unsere Stimmen klein wären – unsere Satzgesänge sind mittlerweile eins unserer Markenzeichen.
Welche Bedeutung hat so ein Jubiläum für Sie? Wie fühlt es sich an?
Märtens: Ganz ehrlich: überraschend. Wir hatten nie das Ziel, 30 Jahre zu schaffen. Es hat sich einfach so ergeben. Man denkt nicht darüber nach, man spielt, und plötzlich sind drei Jahrzehnte um.
Tukur: Für mich ging das tatsächlich rasend schnell. Ich mache ja mit Ulrich Mayer Musik, seit meiner Studienzeit, seit Ende der 70er Jahre. Ohne Musik wäre ich nie beim Theater gelandet. Sie war immer die Basis. Musik ist die unmittelbarste aller Künste – sie berührt Menschen direkt, egal aus welchem Kulturkreis sie kommen.
Vielleicht liegt das Geheimnis des langen Bestehens der Band auch darin, dass alle noch andere Dinge machen?
Märtens: Wahrscheinlich. Wir sind keine Band, die sich jeden Tag sieht. Jeder hat andere Projekte, und wenn wir uns treffen, ist es immer Freude, nie Verpflichtung.
Tukur: Ja, und für mich ist es jedes Mal eine Erholung. Auch wenn die Tourneen anstrengend sind – das Zusammenspielen lädt mich auf. Nach zwei Tagen am Klavier bin ich wieder voller Energie.
Märtens: Das stimmt. Oft kommt Ulrich erschöpft von Dreharbeiten, und nach zwei Tagen Probe ist er dann wie ausgewechselt.
Tukur: Musik ist kein Beruf für uns, sondern Leidenschaft. Wenn das Publikum etwas davon spürt, hat sich alles gelohnt.
Es gibt einen neuen Gitarristen. Ulrich Mayer geht, Hardy Kayser kommt. Macht das noch mal etwas mit der Band?
Tukur: Hardy Kayser ist eine ganz andere Persönlichkeit. Ich bedauere Uli Mayers Weggang sehr, der wollte einfach Pause machen, aufhören und ein bisschen privatisieren, die Zeit mit seiner Frau verbringen. Die Reiserei war ihm zu anstrengend. Der neue Gitarrist ist ein hervorragender Musiker und bringt natürlich auch als Typ eine ganz andere Note mit. Im Gegensatz zu Uli mit seinem schwäbischen Humor ist er die norddeutsche, holsteinische Variante. Die haben einen anderen, trockeneren Humor, obwohl das Meer ganz in der Nähe ist. Bin gespannt, wie sich das musikalisch niederschlägt.
Märtens: Hardy war uns nicht unbekannt. Ich kenne ihn seit 30 Jahren, und es war fast naheliegend, ihn zu fragen.
Aber es ist für jemanden, der in ein bestehendes Konstrukt kommt, sicher auch nicht ganz einfach. Wie hat er sich eingefügt?
Tukur: Super. Er ist sozial kompatibel, wie man so sagt.
Märtens: Ich hatte schon ein bisschen Angst, ob das funktioniert. Von der Zusammenstellung, das weiß man vorher ja nie. Ob die bisherige Chemie, die so eine Selbstverständlichkeit geworden war, auch erhalten bleibt. Zeitgleich hat auch unser langjähriger Tourbegleiter nach 20 Jahren aufgehört. Wir haben also jetzt auch einen neuen Tourbegleiter dabei. Das war schon ein Eingriff in die ganze Gruppe.
Ihre Musik ist sehr analog. KI wird aber ein immer größeres Thema. In der Musik, im Film … beunruhigt Sie das?
Tukur: Natürlich. Wir Menschen sind auf dem besten Weg, uns selbst abzuschaffen. An Dummheit nicht zu überbieten, aber man kann die Entwicklung nicht mehr aufhalten.
Dann ist die Kunst das, was bleibt?
Tukur: Den Freiraum suchen. Ich glaube, dass alle reproduzierbaren Künste, also Film, Fernsehen, Konservenmusik, das wird alles verschwinden in der Form, wie wir es kennen. Bleiben wird das nicht Reproduzierbare, das Lebendige, Einmalige, der archaische Raum des Theaters, der Konzertraum, die Oper. Nischen, in denen der Mensch nicht wegzudenken ist. Alles andere wird gehen.
Märtens: Das stimmt auch nicht mehr ganz. In London machen sie ein Abba-Musical mit Hologrammen, die über die Bühne tanzen.
Tukur: Aber trotzdem. Ich meine, Menschen gehen doch nicht ins Theater, weil sie Avatare sehen wollen, sondern weil dort echte Menschen sind.
Ich denke, wenn man ein Theaterstück mit Avataren machen würde, gingen die Leute schon rein – allein aus Neugier. Aber ob das auf Dauer funktionieren würde …
Tukur: Wenn der Mensch transhuman wird … da geht es ja hin. Wenn er sich chippen lässt, wenn er das alles freiwillig und gerne mitmacht und immer mehr zum Roboter wird, dann wird er das alles am Ende auch ganz anders empfinden. Das Unwirkliche wird wirklich, diese ganze KI wird etwas sehr Normales sein. Die Menschen verändern sich mit diesen Technologien und ihrer rasanten Entwicklung und werden zu etwas Anderem. Das werden neue Wesen. Ich glaube, wir erleben da den Beginn eines fundamentalen zivilisatorischen Paradigmenwechsels.
Das Internet hat den Menschen auch schon verändert …
Märtens: Seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert haben sich die Menschen stetig verändert, es geht nur jetzt so rasend schnell.
Tukur: Ja, aber das gab ja immer noch Räume, wo du dich verstecken konntest, die nicht auffindbar waren. Du findest jetzt keinen Raum mehr, wo du nicht mehr sichtbar bist. Das ist dann schon ein entscheidender Unterschied, finde ich.
Sie sind ein Fan der 20er- und 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Sehen sie Parallelen zu den aktuellen 20ern?
Tukur: Es gibt einen Unterschied. Damals brach mit der Monarchie eine Ordnung zusammen, die Jahrhunderte gehalten hatte. Nach 1918 hatten die Menschen in Deutschland ihre Orientierung verloren und wussten nicht mehr, wo oben und unten war. Die Inflation von 1923, ein Brot für ein paar Milliarden Reichsmark, das war dann wie ein kollektiver Nervenzusammenbruch. Heute stehen wir nicht so am Abgrund, auch wenn vieles unsicher wirkt. Die Demokratie ist im Gegensatz zu Weimar akzeptiert. Wir leben immer noch in einer abgesicherten, reichen Gesellschaft. Die Deutschen vor einhundert Jahren hatten aber viel mehr Kraft, weil sie arm waren und kämpfen mussten. Wir sind heute eine müde, bequeme und mutlose Gesellschaft. Und das ist eine tödliche Befindlichkeit.
Es scheint, als hätten sich die Fronten seit Corona verhärtet. Das war auch wieder in den Kommentarspalten am 9. November zu sehen. Der Antisemitismus steigt …
Tukur: Ich begreife das nicht. Es gibt bei uns kaum jüdisches Leben, das wurde ja fast völlig ausgelöscht – und trotzdem flammt dieser Hass wieder auf. Das scheint sehr tief verankert. Meine Mutter hat mir als Kind erzählt, die Araber wären gefährlich und tränken ihre Suppe aus Tellern. Ich weiß natürlich, dass das Unsinn ist – aber es hat sich mir als Bild eingebrannt. Ich will damit sagen, dass sich falsche Informationen hartnäckig halten, wenn sie früh in die Seele der Menschen eingeprägt werden.
Märtens: Und man muss auch klar sagen: Nicht jede Kritik an Israel ist Antisemitismus. Aber wer Menschen wegen ihrer Herkunft beschimpft oder angreift, das ist blanker Rassismus.
Tukur: Jeder Mensch ist erstmal ein Mensch. Alles andere – Religion, Herkunft – kommt lange danach. Dass das wieder infrage gestellt wird, ist erschreckend.
Märtens: Ich hoffe trotzdem, dass unsere Gesellschaft stabil bleibt – trotz allem, was gerade passiert.
Tukur: Solange Menschen noch Sehnsucht nach etwas Schönem empfinden, solange sie noch Musik hören, die nach Handarbeit, nach Körper klingt, ist nicht alles verloren.
Märtens: Man sieht das gerade schön an dem Lied „In meinem Garten“ von Reinhard Mey, das von dem Deutschrapper „Haftbefehl“ in seiner Doku sehr rührend erwähnt wird. Dass so ein Song plötzlich wieder so viele Menschen bewegt, zeigt doch, dass die Sehnsucht nach etwas Echtem, Unverstelltem nach wie vor vorhanden ist.
Tukur: Ja. Das ist ein geradezu biedermeierliches Bild, aber es berührt. Wir sind eben alte Wesen und leben erst seit kurzer Zeit in komplexen Massengesellschaften. Die Sehnsucht nach menschlicher Nähe, nach haptischer Betätigung, steckt tief in unserer DNA. Wenn Menschen mit elektronisch generierten Bildern zugeschüttet werden, ohne eigene mehr zu entwickeln, verkümmert ihre Phantasie. Und wenn die einschläft, wird sich auch keine echte, unabhängige Persönlichkeit entwickeln. Dann haben die Autokraten leichtes Spiel.
Märtens: Genau. Junge Menschen wollen gefordert werden. Wenn wir in unseren Konzerten etwas fordern, nämlich Aufmerksamkeit, freuen sie sich darüber.
Wie sieht denn Ihr Publikum heute aus? Sind alle Generationen vertreten?
Tukur: Früher kamen viele, die die Musik der Vorkriegszeit noch aus ihrer Jugend kannten. Jetzt sind es gemischte Altersgruppen. Wir haben manchmal auch12-Jährige im Publikum – die hören das alles natürlich ganz neu und zum ersten Mal. Das finde ich wunderbar. Ich wünschte mir, dass alle Generationen an so einem Abend zusammenkämen, wie auf einem italienischen Dorffest. Aber der Durchschnitt liegt wohl doch eher bei über 50 (lacht).
Märtens: Wir hatten tatsächlich Jugendliche, die nach dem Konzert direkt wiederkommen wollten. Ich glaube, das liegt auch daran, dass unsere Konzerte lebendig sind – nicht digital, sondern voller Bewegung, Witz, Musik, Theater.
Tukur: Wir nennen das „optische Tanzmusik“. Wir haben immer besser ausgesehen, als wir spielen konnten (lacht). Inzwischen ist das wohl umgekehrt.
Märtens: Und es gibt immer etwas zu sehen. Kostüme, kleine Showeinlagen, Theater. Wir machen Unterhaltung – aber im besten Sinne.
Tukur: Unterhaltung heißt nicht, dass es seicht wird. Gute Unterhaltung ist das Größte. Sie darf poetisch, traurig, böse, auch albern sein – aber sie muss immer verzaubern.
Märtens: Und diesmal sogar Bauchtanz.
Tukur: Ja – Günter ist der Oktopus und Kalle, unser Schlagzeuger, die Feuerqualle (lacht).
Tukur: Nein, aber es kommt auch kein Tier zu Schaden.
Das ist beruhigend.
Märtens: Es geht ja um Spaß. Und darum, dass echte Menschen Musik machen. Und dass es für alle etwas zu gucken gibt.
Tukur: Genau. Unsere Zuschauer sollen größer hinausgehen, als sie hereingekommen sind.
Über die Autorin
Sie haben einmal gesagt, Sie hätten in Ihren Fünfzigern zum ersten Mal wirklich begriffen, dass Sie sterblich sind. Hat da etwas verändert?
Tukur: Ja, das stimmt. Man weiß natürlich immer, dass man sterben muss - aber es ist ja lange eine eher theoretische Information. Irgendwann zwischen fünfzig und sechzig kommt der Moment, in dem man sinnlich spürt: Auch du bist irgendwann dran. Das ist dann schon ein ganz gehöriger Schreck.
Märtens: Man sollte den Tod nicht verdrängen. Wenn man ihn von Anfang an mitdenkt, kann er einen auch nicht mehr so überraschen.
Tukur: Genau. Ich habe keine Angst davor, aber Respekt. Nur eins will ich nicht: verbrannt werden. Ich mag den Gedanken nicht, dass mein Körper in einer Flammenhölle explodiert. Ich will in die Erde. Am liebsten auf einem kleinen Friedhof im südlichen Italien - zwischen Pinien, Zypressen und verwitterten Grabsteinen, in einem düsteren Park wie auf einem Gemälde von Böcklin. Still, schön und dunkel.
Märtens: Ich halte Friedhöfe ja eigentlich für Platzverschwendung.
Tukur: Mag sein, aber ich will trotzdem da liegen (lacht).
Märtens: Wobei … sie haben natürlich auch etwas Tröstliches für die Hinterbliebenen.
Tukur: Ich mochte Friedhöfe schon als Kind. Für mich waren das nie gruselige Orte, eher beschaulich und beruhigend. Ich finde den Gedanken schön, dass dann Ruhe ist. Dass alles aufhört.
Der Tod kann ja auch eine Erlösung sein.
Tukur: Vielleicht. Aber weil er nun mal ante portas steht, wissen wir, was im Leben zählt. Und Musik hilft sehr dabei. Sie ist da, dann ist sie weg - und trotzdem bleibt etwas zurück.
Um nicht mit dem Tod auch dieses Interview zu beenden … worauf sollen sich die Leute, die zu ihren Konzerten kommen, also einstellen?
Märtens: Auf einen Abend voller Musik, Witz, stampfenden Rhythmen und einer großen Portion Leben. Einfach zwei Stunden gute Unterhaltung.
Tukur: Auf das Leben! Auf echte Musik, handgemacht, analog, spritzig, nicht perfekt - und deshalb lebendig. Wenn die Leute am Ende hinausgehen und sagen: „Das hat mir gutgetan“ - dann hat es sich auch für uns gelohnt.
Mit Ulrich Tukur und Günter Märtens sprach Nicole Ankelmann
Die Tour zu "Tohuwabohu!" startet am 27. November und führt unter anderem nach Frankfurt, Hamburg, Berlin, Dresden, Dortmund und Magdeburg. Alle Termine gibt es hier.