Aussetzer und Tattrigkeiten Die US-Politik ist eine Herrschaft der Alten
17.09.2023, 16:10 Uhr Artikel anhören
US-Präsident Joe Biden wäre am Ende einer zweiten Amtszeit 86 Jahre alt.
(Foto: REUTERS)
Während einer politischen Tour de Force zeigt US-Präsident Biden deutliche Konzentrationsschwächen. Der republikanische Senatsfraktionschef McConnell "friert ein". Auch Trump ist nicht der Jüngste. Die US-Wähler sehen das äußerst kritisch.
Vor ein paar Jahren, Donald Trump saß noch im Weißen Haus und Joe Biden war sein Herausforderer, nannte der Demokrat sich selbst einen "Übergangskandidaten". Es ging darum, den Republikaner loszuwerden und dann die politische Führung an eine neue Generation zu übergeben. Der Übergang zieht sich - womöglich noch bis 2029, sollte Biden für eine zweite Amtszeit gewählt werden. Biden wäre dann 86 Jahre alt, ein einsamer Rekord im Weißen Haus. Hielte er ein zweites Mandat durch? Muss irgendwann seine Vize Kamala Harris übernehmen? Was bedeutet das für die Sicherheit der USA? Für die Demokratische Partei? Die Wirtschaft? Die Gesellschaft?
Auch anhand dieser Fragen diskutieren US-Medien in ganzer Breite weiterhin den Gesundheitszustand ihres 80-jährigen Staatschefs. Bidens blooper, Versprecher und Verwechslungen, sind in der politischen Karriere des früheren Senators und Vizepräsidenten nichts Neues. Aber Aufnahmen aus dem Jahr 2019, als er um die Kandidatur der Demokraten kämpfte, zeigen Unterschiede zu aktuellen Schwächeerscheinungen. In manchen Momenten ist er eher Greis denn energiegeladener Staatschef einer Supermacht. Kurz gefragt: Ist Biden als ältester US-Präsident jemals womöglich eben dies: zu alt?
Für die Wähler ist die Sache sonnenklar. Ende August sagte eine überwältigende Mehrheit von nahezu drei Vierteln in einer Umfrage des "Wall Street Journal", Biden solle deshalb nicht wie angekündigt wieder antreten. Unter Demokraten waren es zwei Drittel. Biden selbst ist anderer Ansicht. Über Trump sagten zugleich 47 Prozent der US-Amerikaner, er sei zu alt für die Präsidentschaft. Die Befragung war umfassend, und zeigte: Biden wird als sympathischer und ehrlicher gesehen als sein voraussichtlicher Widersacher. Dessen Leistung als Präsident wird in der Rückschau besser bewertet als Bidens gegenwärtige Amtsführung.
Nun gab es erneuten Anlass für Fragen über Biden: Der Präsident war zum G20-Gipfel in Indien sowie nach Vietnam gereist; eine fünftägige Tour de Force, bei der laut US-Medien an Schlaf kaum zu denken war. Zum Reiseende hin, in Hanoi, kulminierte eine rund halbstündige Pressekonferenz des Demokraten voller Unkonzentriertheiten, Tatterigkeiten und seines Kommentars "Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich werde ins Bett gehen" in einem abrupten Abbruch. Die Pressechefin schnitt dem Präsidenten per Lautsprecher das Wort ab. Es wurde Musik eingespielt, Biden sammelte seine Notizen ein und ging.
Die Republikaner und Kritiker des Präsidenten sehen darin einen weiteren Beleg dafür, dass Biden das Amt abgeben und sich jemand anders um die Probleme des Landes kümmern müsse. Die Demokraten weichen dem Thema öffentlich größtenteils aus, denn es würde weitere unangenehme Fragen aufwerfen: Könnte jemand anderes gegen Trump, der aller Voraussicht nach für die Republikaner antreten wird, gewinnen? Biden hat ihn schon einmal geschlagen, als Amtsinhaber einen ungeschriebenen Anspruch auf die Kandidatur und läge laut aktuellen Umfrageergebnissen bei einem Wahlduell 2024 gleichauf mit Trump.
Alte Köpfe hat das Land
Falls Biden verzichten würde, bräche bestenfalls Hektik, schlimmstenfalls Chaos bei den Demokraten aus: hastig arrangierte TV-Debatten und in Windeseile gezimmerte Wahlkampagnen, Spendenwahnsinn. Die Demokraten würden eine Zeitenwende einläuten müssen. Die kommt so oder so, und geht über ihre Partei hinaus. Fragt sich nur, wann. Auch andere, die deutlich über ihren körperlichen Zenit hinaus sind, nehmen führende Positionen in der US-Politik ein.
Auf gewisse Weise sind die Vereinigten Staaten eine Gerontokratie, ein Herrschaftssystem der Alten. Das Durchschnittsalter im Kongress steigt schon lange und ist aktuell eines der höchsten seiner Geschichte. Im Senat liegt es bei 64 Jahren, im Repräsentantenhaus bei knapp 58 Jahren. Würde Trump für die Republikaner gewählt, wäre er am Ende seines Mandats 82 Jahre alt und würde so Biden als ältesten jemals amtierenden Präsidenten ablösen. Trump redet häufig in Satzfetzen, das tat er schon immer, zuletzt mit US-Moderator Tucker Carlson. Was davon altersbedingt oder Verwirrtheit ist, ist schwer auszumachen.
Nancy Pelosi, die steinerne Ex-Fraktionschefin der Demokraten im Repräsentantenhaus, kündigte zuletzt an, sie werde 2024 wieder antreten. Pelosi ist 83 Jahre alt, verließ ihren Führungsposten im vergangenen Jahr und steckt mit ihrem Nachfolger regelmäßig die Köpfe zusammen. Der Sprecher der republikanischen Fraktion im Senat, Mitch McConnell, sitzt seit 1985 für den Bundesstaat Kentucky im Senat. Er ist 81 Jahre alt, sein Mandat endet im Januar 2027. Zuletzt hatte McConnell zweimal längere Aussetzer, bei denen er öffentlich "einfror". Bei allem Respekt vor dem Alter: Beim zweiten Mal sah es so aus, als verstünde das Betriebssystem nicht, was von ihm verlangt wird, bliebe stehen und starte schließlich neu.
Ein politisches Küken im Vergleich zu McConnell ist Nikki Haley, unter Trump zeitweise Botschafterin der USA bei den Vereinten Nationen - und mögliche Präsidentschaftskandidatin der Republikaner, sollten Trumps Gerichtsprozesse die Ambitionen des Ex-Präsidenten beenden. Haley würde derzeit als einzige Republikanerin in einem Präsidentschaftsduell deutlich gegen Biden gewinnen, zeigt eine Umfrage. Vieles deutet darauf hin, dass dies auch mit ihrem Alter zu tun hat. Der Senat sei "das privilegierteste Altersheim des Landes", spottete die 51-Jährige, und sagte in Richtung McConnell: "Man muss erkennen, wann man zu gehen hat." Offenkundig ist das bei manchen nicht so. Eine Mehrheit der US-Amerikaner sagt in Umfragen, sie wollten Obergrenzen für Alter und Mandatsanzahl.
Ganz abgesehen von guter oder schlechter Arbeit hat jemand, der bereits im Amt ist, mehr Einfluss, ist bekannter als seine Herausforderer, wird deshalb häufig finanziell mehr unterstützt und kann so mehr für sich werben. Dieser Kreislauf führt zu parlamentarischer Stabilität, kann aber auch Frust auslösen. Dieser "Sumpf" in Washington, den Trump und seine Anhänger verfluchen, und zu dem auch Biden gehört, der wird so nicht trockengelegt. Bereits vor einem Jahr betitelte der "Business Insider" eine Serie von Artikeln, in Anlehnung an die Farben der US-Flagge, mit "Rot, Weiß und Grau": Darin beleuchten die Autoren das Altersphänomen in der US-Politik aus unterschiedlichsten Perspektiven.
"Wie soll ich weiterkommen, wenn sie wegsterben?"
Manche US-Medien ziehen Vergleiche zur Sowjetunion der 1970er und 1980er Jahre, die sich im Griff einer alternden kommunistischen Garde befand, bevor Michail Gorbatschow Staatschef wurde. "Die Gerontokratie in der Sowjetunion ist gesund und munter", schrieb die "New York Times" etwa im Jahr 1976 über den Parteitag der Kommunisten in Moskau: "Die Clique älterer regierender Herren behält die Kontrolle", heißt es über den damaligen Parteichef Leonid Breschnew und andere, die auf einen Altersschnitt von über 70 Jahren kamen.
Als Gorbatschows Vorgänger Konstantin Tschernenko 1985 stirbt, wird der damalige US-Präsident Ronald Reagan mitten in der Nacht informiert. "Wie soll ich mit den Russen weiterkommen, wenn sie mir ständig wegsterben?", fragt er seine Frau Nancy. Tschernenko war 74 Jahre alt und der dritte verstorbene Oberste Sowjet in drei Jahren. Reagan war bis Biden selbst der älteste amtierende US-Präsident. Am Ende seiner beiden Amtszeiten war der Republikaner 77 Jahre alt.
Bidens Problem und damit das der Demokraten ist auch, dass die Diskussionen und Sorgen um sein Alter seine politische Arbeit überdecken. Dabei kann Biden eher gute als schlechte Jahre vorweisen. Das Infrastrukturpaket, historisch große Investitionen in die US-Wirtschaft und nach Verlusten bei den Reallöhnen in den vergangenen Jahren aktuell wieder Zugewinne, nachvollziehbare Linien bei der Außenpolitik: Der Präsident kann sich einiges auf die Fahnen schreiben.
Doch rund 60 Prozent sind mit Bidens Wirtschafts- und Anti-Inflationspolitik nicht einverstanden. Nur knapp über 40 Prozent der US-Wähler sind mit ihm als Staatschef insgesamt zufrieden. Das ist ein etwa identischer Anteil wie bei Trump zum vergleichbaren Zeitpunkt, aber deutlich weniger als bei Bill Clinton und Barack Obama. Die beiden Demokraten wurden wiedergewählt. Trump verlor. Biden wandert also auf einem Grat, den in den USA noch nie zuvor jemand betreten hat. Ein dritter Kandidat wie Cornel West und womöglich auch ein vierter, links und rechts von ihm, könnten den Demokraten zu Fall bringen, indem sie ihm entscheidende Stimmen abgraben.
Positiv stimmt die Demokraten, dass sie bei den Kongresswahlen im vergangenen Jahr ein exzellentes Ergebnis erzielten. Auslöser dafür war vor allem der Kulturkampf um Schwangerschaftsabbrüche. Viele wollten sich nicht vorschreiben lassen, ob sie abtreiben dürfen oder nicht und gaben deshalb den Demokraten ihre Stimme. Ein US-Präsident soll jedoch aus Sicht der US-Wähler nicht nur Freiheiten verteidigen, sondern auch körperlich und mental ausdauernd sein, widerstandsfähig, entscheidungsfreudig, hellwach, muss positive Wirtschaftsbedingungen schaffen und außenpolitische Krisen im Sinne der USA bewältigen. Kurz: Er muss ein starker Anführer sein, ein strong leader.
Bis zu den Präsidentschaftswahlen dauert es noch ein Jahr. Zeigt Biden jetzt bereits Schwäche, so wie in Hanoi, kann sich das im Wahlkampf, der für die Demokraten noch gar nicht begonnen hat, zum monumentalen Problem auswachsen. Rund die Hälfte der Demokraten-Wähler hätte ohnehin lieber einen anderen Kandidaten als Biden. Eine Mehrheit der Wählerschaft wünscht sich einen Präsidenten in seinen 50ern und will auch kein erneutes Duell Biden gegen Trump. Trotzdem ist es derzeit das wahrscheinlichste Szenario für 2024.
Quelle: ntv.de