2000, 2016, 2024? Cornel West kann Biden gefährlicher werden als Trump


Cornel West bei einer Veranstaltung von "Black Lives Matter" im Juli.
(Foto: AP)
Ein abtrünniger Unterstützer der Demokraten könnte Donald Trump zum Sieg über US-Präsident Biden verhelfen: Cornel West. Der politische Intellektuelle schimpft auf beide. Bei den Demokraten werden unangenehme Erinnerungen wach.
Mehr als ein Jahr lang ist es noch hin bis zu den US-Präsidentschaftswahlen, aber auf dem potenziellen Kandidatenfeld tummelt sich noch mehr als nur Amtsinhaber Joe Biden und die Bewerber, die ihn für die Republikaner herausfordern wollen. Einer davon ist der bekannte linke Intellektuelle Cornel West, der für die US-amerikanischen Grünen, die Green Party, eine dritte Option werden will. Im politischen Zentrum kündigt sich mit "No Labels" sogar eine vierte an.
Beide werden kaum eine Siegchance haben. Doch insbesondere für die Demokraten erhöht zusätzliche Konkurrenz die Gefahr, am Ende den Schlüssel für das Weiße Haus wieder in Trumps Hände legen zu müssen. Sollte der Ex-Präsident nicht Kandidat werden, könnte Biden es trotzdem einem Republikaner überlassen müssen - wenn ihm Stimmen fehlen, die ein Kandidat wie West auf sich vereinen würde.
Umfrageergebnisse vom 28. August legen dies nahe. Da kommt West in einer möglichen Dreierkonstellation auf 4 Prozent der Stimmen, Biden auf 39 Prozent, und Trump gewönne mit 44 Prozent. Bei einem erneuten Duell Biden gegen Trump lägen beide innerhalb der Fehlertoleranz, also nahezu gleichauf. Die Chancen auf eine zweite Amtszeit Bidens wären demnach in einem Zweikampf mit seinem politischen Antagonisten wesentlich höher.
Als West im Juni öffentlich seine Absicht erklärt, macht er dies eindringlich, nahezu exzentrisch. "Ich begebe mich auf die Suche nach der Wahrheit, nach Gerechtigkeit, und die Präsidentschaft ist nur ein Vehikel, um sie zu verfolgen - was ich schon mein gesamtes Leben versucht habe", kündigte der Professor und Philosoph an. "Keine der Parteien will die Wahrheit über die Wall Street, die Ukraine, das Pentagon oder Big Tech aussprechen." Ex-Präsident Donald Trump sei ein Neofaschist, und Joe Biden, der aktuelle, ein "mittelmäßiger, neoliberaler Angsthase".
Der Ton des 70-Jährigen ist seither nicht freundlicher geworden: Die Demokratische Partei wolle nicht die Armut beenden, nicht die Rolle der Finanzindustrie verändern oder Arbeiter besser behandeln, kritisierte er vor wenigen Wochen. Das Magazin "Politico" schreibt, die Demokraten seien insbesondere besorgt, dass West ihnen junge und schwarze Wähler abspenstig mache. Beide Wählergruppen waren 2020 ein Schlüssel zu Bidens Erfolg. Doch der ist bereits jetzt der älteste je amtierende US-Präsident, was nicht wenige als Problem betrachten. Bidens Beliebtheit ist ohnehin niedrig, trotz erfüllter Wahlversprechen wie Infrastrukturgelder, Subventionsprogrammen für einen grünen Umbau der Wirtschaft sowie einer beruhigten Jahresinflation von 3,2 Prozent im Juli.
Lektionen der Vergangenheit
Die Vorwahlen der beiden großen Parteien beginnen im Januar, die Kandidaten werden offiziell Mitte des Jahres gekürt und im November stimmen die US-Amerikaner ab. Die Entscheidung über den kommenden US-Präsidenten ist also noch lange hin, viele US-Medien und Umfrageinstitute greifen mit ihren Fragen und Szenarien weit vor. Doch dass ein dritter Kandidat wie West oder sogar ein vierter das Zünglein an der Waage sein wird, ist nicht bloß Angstmacherei.
Im Jahr 2000 vereinte der Grünen-Kandidat Ralph Nader in Florida wesentlich mehr Stimmen auf sich, als dem Demokraten Al Gore fehlten, um gegen den Republikaner George W. Bush die Wahl zu gewinnen. Auch 2016, beim jüngsten Trauma der Demokraten, war die Green Party beteiligt: Hillary Clinton schien nahezu unschlagbar, nachdem sich die Republikaner für Trump als Kandidaten entschieden hatten. Doch die Umfrageinstitute lagen weit daneben, zudem holte Jill Stein 1,1 Prozent für die Green Party und auch ein Libertärer sammelte Stimmen ein. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass Clinton ohne die anderen Kandidaten gewonnen hätte, aber möglich.
Stein hat auch aktuell wieder ihre Finger im Spiel: als Wahlkampfmanagerin für West. Der steht mit seinen Ansichten links des Großteils der Demokraten, hat ein Leben als politischer Aktivist für Bürgerrechte (sowie Gastauftritte in zwei "Matrix"-Filmen) vorzuweisen und präsentiert sich so als Kandidat lebenslanger Prinzipien und Streiter der Benachteiligten. 2016 und 2020 hatte der progressive Senator Bernie Sanders diese Rolle eingenommen, konnte sich in den Vorwahlen der Demokraten aber jeweils nicht durchsetzen. West unterstützte Sanders bei beiden Wahlen.
Biden schaffte es 2020 nach seinem Erfolg gegen Sanders, den progressiven Flügel und die jungen Wähler für sich zu gewinnen. Aber nicht, weil sie so fasziniert von ihm gewesen wären, sondern insbesondere, weil er das Mittel zum Zweck war, um Trump loszuwerden. Biden gewann mit einer Rekordzahl an Stimmen. Im kommenden Jahr müssen sich die Wähler womöglich erneut für Biden entscheiden, um Trumps Rückkehr zu verhindern. Doch es gehen wesentlich weniger Spenden bei Bidens Wahlkampfteam ein, was darauf hindeutet, dass die Wahlbeteiligung geringer werden könnte.
Biden sei schlicht "besser als Faschismus" gewesen, "und eine faschistische Katastrophe ist schlimmer als ein neoliberales Desaster", sagt West im August zu seinen Gründen, 2020 für den Demokraten gestimmt zu haben. Aber: "Jetzt müssen wir uns mit dem neoliberalen Desaster auseinandersetzen." Die Demokratische Partei sei "nicht zu retten", schimpft er. Sanders und die populäre Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez seien "im schlimmsten Fall nur Schaufensterdekoration". West lehrte an den Elite-Universitäten Yale, Stanford und Harvard, hat eine Vielzahl von Büchern veröffentlicht. Er nennt sich selbst einen Sozialisten und "radikalen Demokraten", der "skeptisch gegen jede Form von Autorität" sei.
"Liebe in der Öffentlichkeit"
Der Boden für weitere Kandidaten ist fruchtbar: Ende August sagten nur 24 Prozent der US-Amerikaner, sie wollten Biden erneut als Kandidaten sehen, und nur 30 Prozent sagten dies über Trump. Über beide sagte eine Mehrheit, sie würden sie nur widerwillig unterstützen. Von der Wählergruppe der Demokraten unter 30 Jahren wollten schon im vergangenen Jahr 9 von 10 einen anderen Kandidaten als Biden sehen.
Für manche könnte West dieser Kandidat sein, auch wenn er für die Grünen antritt. Der wirbt für eine stringent soziale Agenda: für bessere Löhne, bezahlbaren Wohnraum, das Recht auf Abtreibung, eine öffentliche Krankenversicherung für alle, den Kampf gegen den Klimawandel und, etwas kryptisch, gegen "die Zerstörung der amerikanischen Demokratie". Sein Wahlslogan: "Gerechtigkeit ist, wie Liebe in der Öffentlichkeit aussieht."
US-Amerikaner sehen die Inflation und Gesundheitskosten als die beiden größten Probleme des Landes. Haushalte von Schwarzen haben wie Latinos ein niedrigeres Durchschnittseinkommen als die anderer ethnischer Bevölkerungsgruppen. In keiner anderen Gruppe ist die Arbeitslosenrate höher, und ein Viertel von ihnen sagte im Februar, sie nähmen ihre Hautfarbe als Nachteil an ihrem derzeitigen Arbeitsplatz wahr.
Vor 2008 hatte West den späteren Präsidenten Barack Obama im Wahlkampf unterstützt, aber nachdem die Finanzkrise nur geringe regulatorische Folgen hatte und die Regierung die Kosten der Bankenrettung vergemeinschaftet hatte, wandte er sich ab. "Er ist ein schwarzes Maskottchen von Wall-Street-Oligarchen und eine schwarze Handpuppe von Konzernplutokraten", schimpfte West. Vor der Wahl 2012 tourte er durch die USA, um auf die "Not der Armen" aufmerksam zu machen, die sowohl Obama als auch der republikanische Kandidat Mitt Romney ignorieren würden. "Er ist ein Kriegsverbrecher", schimpfte er zudem über den Präsidenten.
Bei einer Demonstration von Occupy Wall Street wurde West verhaftet, er demonstrierte gegen die Freigabe der Wahlkampfunterstützung durch Super-PACs, wodurch Geld noch wichtiger im US-Wahlkampf wurde. Über den Whistleblower Julian Assange, der in den USA mehrfach angeklagt ist, aber noch in Großbritannien in Haft sitzt, sagte West, dieser habe "nur einige der Verbrechen und Lügen des amerikanischen Imperiums offengelegt". Den Krieg in der Ukraine nannte er einen "Stellvertreterkrieg des amerikanischen Imperiums und der Russischen Föderation".
"Kämpfend und mit Stil untergehen"
Es wird also im kommenden Jahr wohl einen Dreikampf oder einen Vierkampf geben. Die "No Label"-Zentristen um den gemäßigten Republikaner Larry Hogan wollen weitere Wähler anlocken, die sich weder mit Biden noch den republikanischen Bewerbern anfreunden wollen. Mögliche Präsidentschaftskandidaten der Zentristen sind Logan selbst, der Demokrat Joe Manchin, Senator aus West Virginia, oder die parteilose Kyrsten Sinema, Senatorin aus Arizona. In einer Umfrage im Juni bewertete eine deutliche Mehrheit der US-Amerikaner, sowohl Demokraten als auch Republikaner, die fehlende Fähigkeit zur Zusammenarbeit der beiden Lager als "sehr großes Problem" des Landes.
Für einen einigermaßen vergleichbaren Vierkampf muss man lange zurückblicken. Da war Biden sechs Jahre alt, Trump ein zweijähriges Kleinkind und der Präsident hieß Harry Truman. Der Demokrat war vor der Wahl 1948 nicht besonders beliebt, weshalb links von ihm der frühere Vizepräsident Henry Wallace für die Progressive Party und rechts von ihm Strom Thurmond für die Dixiecrats kandidierten. Truman gewann die Wahl gegen den Republikaner Thomas Dewey trotzdem komfortabel.
Danach sieht es diesmal nicht aus, schon 2020 entschied Biden trotz Wechselstimmung die Bundesstaaten Arizona, Georgia und Wisconsin nur äußerst knapp für sich. West und ein "No Labels"-Kandidat sind also ein handfestes Problem für die Demokraten. "Manche von uns werden kämpfend untergehen; schunkelnd untergehen, mit Stil und einem Lächeln", sagte West am Ende bei seiner Ankündigung. Für ein Ende der Regierung Biden und eine weitere Amtszeit Trumps könnte das schon reichen.
Quelle: ntv.de