
Auflösen oder nicht? Bei unangemeldeten Demos steht die Polizei oft vor schwierigen Entscheidungen.
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Mit dem Virus haben sich auch die Proteste gegen die Corona-Politik geändert: Als Spaziergänger getarnt ziehen Zehntausende durch die Straßen - von Maske und Abstand oft keine Spur. Den Staat stellt das vor Probleme. Genau das wollen die Querdenker erreichen.
Einige kommen mit Fackeln, andere durchbrechen Polizeibarrikaden und die meisten halten nicht viel von Abstand und Maske: Immer wieder ziehen Zehntausende durch Städte wie Berlin, Oldenburg, Bautzen, Mannheim und Rostock, um ihrem Unmut über die Corona-Politik Luft zu machen. Diese Demonstrationen gibt es seit Beginn der Pandemie, doch mit dem Virus haben sich auch die Proteste geändert: Einerseits wird der Ton rauer, immer wieder kommt es zu Ausschreitungen und Gewalt. Andererseits werden die Gruppen dezentraler und damit unüberschaubarer. Denn statt in großen Demonstrationen ziehen die Teilnehmer immer häufiger als "Spaziergänger" durch die Straßen von Klein- und Mittelstädten. In Baden-Württemberg und Sachsen ist bereits von Montagsspaziergängen die Rede, in Bayern finden sie vorzugsweise mittwochs statt. Sie alle eint, dass die Proteste nicht angemeldet sind. Wird hier eine Lücke im Versammlungsrecht ausgenutzt?
Zumindest stiften die Spaziergänger Verwirrung und machen es der Polizei schwer, auf sie zuzugreifen, sagt Alexander Thiele ntv.de. Denn "wer kein Teil einer Versammlung ist, sondern nur irgendwo rumläuft, kann auch nicht gegen Versammlungsrecht verstoßen". Der Professor für Staatstheorie und Öffentliches Recht in Berlin merkt an: "Wenn sie dann zugeben, eine Versammlung zu sein, heißt es oft, man habe sich zufällig zusammengefunden." So werde versucht, die "offene Flanke der Versammlungsfreiheit" auszunutzen, denn auch Spontandemonstrationen sind durch das Grundgesetz geschützt. Für die Maßnahmen-Kritiker hat das einen entscheidenden Vorteil: Sie umgehen das Anmeldeerfordernis und mögliche Auflagen wie Maskenpflicht, Abstandsregeln oder eine begrenzte Teilnehmerzahl.
Denn grundsätzlich muss eine Demonstration mindestens 48 Stunden vorher angemeldet werden. "Das ist keine Schikane, sondern Ausdruck eines Kooperationsverhältnisses zwischen Staat und Demonstranten", sagt Thiele. Eine Versammlung braucht keine Genehmigung, vielmehr geht es um die Vorbereitung der Polizei. Schließlich müssen auch die Rechte von Unbeteiligten und Gegendemonstranten gesichert und für den Schutz der Demonstrierenden selbst gesorgt werden.
"Am Nasenring durch die Manege"
Unangemeldete Proteste führen dagegen zu Schwierigkeiten, wie das sächsische Innenministerium mitteilt: "Das Problem für die Polizei ist dabei nicht nur, dass die Corona-Spaziergänge den Behörden meist nicht angezeigt werden, sondern dass sie flächendeckend oft zur gleichen Zeit in ganz Sachsen stattfinden. Und die Polizei kann mit ihren Kräften nun mal nicht überall gleichzeitig sein." Das Ministerium liefert ein Beispiel mit: Am vergangenen Montag habe die Polizei 173 Versammlungen mit Corona-Bezug verzeichnet, bei denen rund 22.300 Menschen anwesend gewesen seien. "Demgegenüber waren 2550 Beamte im Einsatz." Somit entstehe ein Ungleichgewicht.
Handelt es sich bei den "Spaziergängen" überhaupt um spontane Versammlungen? "Vieles spricht dagegen", sagt Thiele. Dazu gehört die Regelmäßigkeit, die immer gleiche Form und Corona-Thematik. Manchmal sprechen sich die Demonstranten eher kryptisch über Facebook ab, manchmal aber auch ganz direkt. So heißt es in der Telegram-Gruppe der rechtsextremen Partei "Freie Sachsen" ganz offen: "Jeden Montag: Sachsen spaziert gegen den ganzen Wahnsinn, den uns die Blockparteien eingebrockt haben." Spätestens der damit verbundene Aufruf "Bist du auch dabei?" macht deutlich, dass es um geplante Demonstrationen geht - und die müssen angemeldet werden. Sonst können sie aufgelöst werden.
Trotzdem sei eben nicht ausgeschlossen, dass es auch mal eine Spontanversammlung gebe, mahnt Thiele. "Im Versammlungsrecht ist es schwierig, aus der Vergangenheit Schlüsse auf die Gegenwart zu ziehen." Jede Demonstration müsse einzeln bewertet werden. Genau das machen sich Impfgegner, "Querdenker" und auch Rechtsradikale zunutze, denn sie "wollen den Staat ja gerade an der Nase herumführen und am Nasenring durch die Manege ziehen", so der Jurist. Sie lösen das Kooperationsverhältnis gewissermaßen einseitig auf. "Sie wollen nicht spazieren. Sie wollen uns verarschen", hatte es ein Beamter in Münster in einem Filmausschnitt auf den Punkt gebracht, der in den sozialen Medien kursiert. Die Folge sind wöchentlich neue Bilder von Gewalt zwischen Demonstranten und Polizisten.
Städte versuchen sich zu wehren
Die Reaktion der Länder und Kommunen auf diese Entwicklung gleicht einem Wimmelbild. Einen besonders harten Ton schlagen Bayern und Baden-Württemberg an. Mittels einer Allgemeinverfügung hat München bestimmte "Spaziergänge" im Vorhinein verboten, um "einem Wildwuchs an in keiner Weise vertretbaren Demos mit zum Teil gewaltbereiten Teilnehmern vorzubeugen". Mehrere Städte, darunter Karlsruhe, Stuttgart und Mannheim, haben die nicht angemeldeten Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen bis zum 31. Januar "zum Schutz der öffentlichen Ordnung" per se untersagt, um "ein frühzeitiges Einschreiten der Polizei" zu ermöglichen.
Ein solches Verbot im Vorhinein schließen Berlin und Nordrhein-Westfalen vorerst aus. Auch Würzburg und Magdeburg nutzen die Allgemeinverfügung - allerdings nicht für ein Verbot, sondern um die "Spaziergänge" schon im Vorhinein auf einen Ort zu beschränken und mit Auflagen zu belegen. Wieder einen anderen Weg gehen Bremen und Schleswig-Holstein. Hier gibt es zwar keine Allgemeinverfügungen, aber haben die Regierungen offiziell erklärt, die "Spaziergänge" als Demonstrationen einzustufen und mit strengen Auflagen zu belegen.
Auch in Sachsen gibt es keine Allgemeinverfügungen. Allerdings sieht die Sächsische Corona-Notfall-Verordnung bereits weitgehende Einschränkung vor, wonach Versammlungen ausschließlich ortsfest zulässig und auf maximal zehn Teilnehmer begrenzt sind. Der stellvertretende Geschäftsführer des sächsischen Städte- und Gemeindetags, Ralf Leimkühler, teilt auf Anfrage mit, dies werde "in erster Linie von der Polizei vollzogen, die bei Verstößen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit auch unmittelbaren Zwang anwenden kann".
Das eigentliche Problem
Genau darin liege auch der Kern der Problematik, sagt Thiele. Egal, ob strenges Versammlungsrecht in Sachsen, Einstufung in Bremen oder Verbot in Karlsruhe - zum Schutz der öffentlichen Sicherheit sei im Vorfeld vieles möglich. Auch, wenn es nicht notwendig wäre. Denn wenn sich Demonstranten nicht an das Infektionsschutzgesetz halten, kann die Polizei ohnehin eine Auflösungsverfügung der Versammlung erlassen - egal, ob sie sich Demonstration oder Spaziergang nennt.
"Das eigentliche Problem ist doch, dass sich keiner daran hält", sagt der Staatsrechtler. Die Allgemeinverfügungen seien "nur Verschärfungen dessen, was sowieso schon gilt". Wenn jedoch plötzlich Hunderte Menschen ohne Abstand auf der Straße stehen, sei die Frage, gegen welches Recht sie gerade verstoßen, hinfällig. "Ab dann beginnt das Recht, das bereits gebrochen wurde, der Polizeitaktik zu weichen." Löst man die Demonstration auf, um die Corona-Maßnahmen durchzusetzen, oder lässt man es? Wann tut man es und mit welchen Mitteln?
Eins machen die "Spaziergänge" sehr deutlich, so der Jurist: "Im Kern ist das Recht eben darauf angelegt, freiwillig befolgt zu werden." Es ständig mit Zwang durchzusetzen, überfordere den Rechtsstaat. "Da setzt auch eigentliche Ziel vieler Demonstranten an", sagt Thiele. Sie verstoßen gegen Regeln, die sie selbst ablehnen. "Das ist direkter ziviler Ungehorsam. Im Gegenzug bekommen sie vom Staat zu spüren, dass das nicht geht." Viele Querdenker behaupten, Deutschland werde durch die Corona-Politik zur Diktatur, allerdings "wissen sie ganz genau, dass kein Polizist auf sie schießen wird, weil sie ihre Maske nicht tragen oder an einer unangemeldeten Demonstration teilnehmen". In einer wirklichen Diktatur würden sie das nicht wagen, so der Jurist. "Oder eben nur einmal."
Die "Spaziergänger" nutzen also keine Lücke im Versammlungsrecht aus, sondern Sicherheiten, die ein Rechtsstaat bietet. "Der Staat gibt seine Kooperationsbereitschaft niemals auf", sagt Thiele. "Das ist seine Stärke und seine Schwäche." Das ist das Dilemma, mit dem hier gespielt wird.
Quelle: ntv.de