
Horst Seehofer und seine CSU wollen in der bayerischen Verfassung eine Leitkultur verankern.
(Foto: dpa)
Die Debatte kehrt immer wieder. Müssen sich Zuwanderer an deutscher Kultur orientieren. Die Mehrzahl der Deutschen sagt Ja. Die Verunsicherung ist trotzdem groß.
Reicht es, einen deutschen Pass zu besitzen und das Grundgesetz zu achten? Oder braucht es mehr, Herkunft- und Traditionsbewusstsein zum Beispiel, um ein "richtiger Deutscher" zu sein?
In der Bundesrepublik tobt wieder einmal eine Leitkultur-Debatte. Sie begann mit der Aussage des früheren Bundespräsidenten Christian Wulff, dass der Islam zu Deutschland gehöre. Sie weitete sich mit Pegida und der Flüchtlingskrise im vergangenen Sommer aus. Sie wird befeuert durch die Erfolge der AfD bei Landtagswahlen und bekommt zusätzliches Gewicht durch die CSU, die "eine Leitkultur" in der Bayerischen Verfassung verankern will.
Das Institut für Demoskopie Allensbach hat für die "Frankfurter Allgemeine" untersucht, wie die Deutschen zu einer Leitkultur stehen. Das Ergebnis ist eine Mahnung im doppelten Sinne.
- Zunächst einmal gehen 57 Prozent der Befragten davon aus, dass es so etwas wie einen "Nationalcharakter" gibt. Nur 26 Prozent bezweifeln das.
- 53 Prozent fürchten, dass dieser "Nationalcharakter" zusehends verloren geht. Nur 30 Prozent widersprechen.
- Ganze 76 Prozent der Befragten fordern daher, dass sich Ausländer, die in Deutschland leben, an der deutschen Kultur orientieren sollten.
Thomas Petersen von Allensbach, der die Ergebnisse in der "Frankfurter Allgemeinen" präsentiert, schreibt: "Die Ergebnisse zeigen, dass deutsch sein für eine klare Mehrheit etwas ist, was deutlich über die formelle Staatsbürgerschaft hinausgeht."
Damit sind wir bei der ersten Mahnung, die mit dieser Studie einhergeht. Petersen schreibt völlig zu Recht: "Wer solche Vorstellungen pauschal als völkisch diffamiert, verwässert damit nicht nur diesen Begriff, sondern er wird den Zuspruch der Menschen verlieren und sie nationalistischen Bewegungen in die Arme treiben."
In den Zeilen Petersens schwingt aber noch eine zweite Mahnung mit. Dass die Mehrheit der Deutschen an einen Nationalcharakter glaubt und von Zuwanderern eine Anpassung fordert, hat seiner Meinung nach nichts mit Chauvinismus oder Fremdenfeindlichkeit zu tun, sondern – und da klingt die zweite Mahnung durch – "ist Ausdruck eines meist nicht tiefer reflektierten, aber dafür umso tiefer im Unterbewusstsein verankerten Identitätsgefühls."
Pünktlich, fleißig und ordnungsliebend
Petersen hat nicht nur Antworten auf das "Ob" eines Nationalcharakters gesucht, sondern auch die Gretchenfrage der Leitkultur-Debatte gestellt: Was macht die Leitkultur aus?
Das Allensbach-Institut griff dabei unter anderem auf offene Fragestellungen zurück. Statt Antwortmöglichkeiten vorzugeben, sollten die Teilnehmer mit eigenen Worten formulieren, was typisch deutsch ist. Petersen stieß auf "auffallend plakative, klischeehafte" Antworten.
- 41 Prozent der Befragten nannten "Pünktlichkeit" als ausschlaggebend für den Nationalcharakter.
- 25 Prozent hielten "Ordnungsliebe" für typisch deutsch.
- 24 Prozent nannten "Fleiß".
- 19 Prozent machten "Zuverlässigkeit" als urdeutsch aus.
Für eine offene Fragestellung sind dies hohe Werte. Deutsch sein ist also in den Augen vieler genau das, was zum großen Teil die bekannten "preußischen" oder genauer "deutschen Tugenden", die auf das 18. und 19. Jahrhundert zurückzuführen sind, ausmacht. Aber sind es wirklich Fragen der Ordnungsliebe und Pünktlichkeit, die eine verpflichtende Leitkultur für die erfolgreiche Integration von Ausländern erforderlich machen? Auch, dass für 97 Prozent der Befragten "Weihnachtsmärkte" zu Deutschland gehörten, für 95 Fußball und für 94 Prozent eine große Auswahl von Brot- und Wurstsorten scheint am integrationspolitischen Kern der Debatte vorbeizugehen.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass für 79 Prozent Pizzerien und zu 57 Prozent Dönerbuden dazugehören, Moscheen aber nur für 19 Prozent der Befragten. Auch etliche andere Studien belegten bereits eine große Skepsis der Deutschen, wenn es um den Islam geht.
Das Doppelleben der Deutschen
Abgesehen von der Bedeutung vieler Vorstellungen von einer Leitkultur für die Integrationsdebatte, ist fraglich, inwiefern diese "Klischees" des Deutschseins von den Deutschen tatsächlich auch selbst gelebt werden. Vor allem in den vergangenen Jahren ist immer wieder von der Generation Y die Rede gewesen, die den Sinn ihres Lebens nicht mehr in pflichtbewusster alltäglicher Arbeit, Karriere und dem Anhäufen materieller Besitztümer versteht, einer Generation, für die ihr Arbeitgeber nicht mehr identitätsstiftend wirkt, sondern die nach einer umfassenderen Form der Selbstverwirklichung strebt. Und diese Generation steht nur sinnbildlich für eine offensichtliche Diskrepanz.
Die klassischen Tugenden, die angeblich so deutsch sind, beschrieb der Psychologe und Buchautor Stephan Grünewald ("Deutschland auf der Couch") basierend auf diversen Interviews bereits vor einigen Jahren als nicht mehr zeitgemäß. Seine These: Die Deutschen führen ein Doppelleben, nehmen jene Tugenden zwar als urdeutsch wahr, messen ihnen für ihr eigenes Leben mittlerweile aber keine allzu große Bedeutung mehr bei. Zur Not nimmt man Pünktlichkeit und Ordnungsliebe nicht ganz so ernst.
In dem Beitrag, den Petersen für die "Frankfurter Allgemeine" verfasst hat, kommen oft Worte wie "Verunsicherung" und "Hin- und Hergerissenheit" vor. Viele der Befragten scheinen nicht zu wissen, was über besagte Klischees hinaus eigentlich deutsch ist. Zur Verunsicherung trägt offensichtlich auch bei, dass in Deutschland mittlerweile jeder fünfte Bewohner einen Migrationshintergrund hat. 42 Prozent halten den Sohn von Italienern, der in Deutschland geboren und aufgewachsen ist eher für einen Deutschen, 30 für einen Italiener.
Überträgt man diese allgemeine Verunsicherung auf den Wunsch der CSU, eine Leitkultur in der Verfassung zu verankern, lässt sich erahnen, worauf das hinaus läuft. In einem Positionspapier beschreibt die CSU diese so: "Leitkultur ist die identitätsbildende Prägung unseres Landes. Sie umfasst die bei uns geltende Werteordnung christlicher Prägung, unsere Sitten und Traditionen sowie die Grundregeln unseres Zusammenlebens. Leitkultur ist das Gegenteil von Multikulti." Einige Menschen mag diese Feststellung schon beruhigen. Nur wer es gern etwas spezifischer hätte, wird auf Probleme stoßen – es sei denn, er gibt sich damit zufrieden, dass auch der Reichtum an verschiedenen Brot- und Wurstsorten auf Verfassungsebene verankert wird.
Quelle: ntv.de