Interview zur Ukraine "Die EU wird sie in diesem Zustand nicht aufnehmen"
11.03.2022, 12:06 Uhr
So schnell wird die Flagge der Ukraine nicht zu den 27 der EU-Mitglieder gehören.
(Foto: picture alliance / AA)
Mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine gibt es plötzlich auch eine Debatte um einen schnellen EU-Beitritt des Landes. Jedoch nimmt der EU-Gipfel in Versailles wieder Abstand davon. Warum das auch eine "große Überraschung" gewesen wäre, erklärt Dušan Reljić, Leiter des Brüsseler Büros der Stiftung Wissenschaft und Politik, im Interview mit ntv.de.
ntv.de: Vor zwei Wochen hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einen EU-Beitritt der Ukraine in Aussicht gestellt. Wenig später unterzeichnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenksyj bereits einen Eilantrag. Bei dem informellen EU-Gipfel im französischen Versailles ist von dem schnellen Beitritt keine Rede mehr. Waren die Worte von der Leyens also nur symbolisch gemeint?
Dušan Reljić: Es wäre eine große Überraschung gewesen, wenn die Mitgliedsstaaten der EU ihre Erweiterungspolitik umkehren und jetzt auf einmal die Tore zum Beitritt neuer Staaten weit aufmachen würden. In diesem Sinne waren die Äußerungen der Kommissionspräsidentin sicher eher rhetorisch gemeint. Solange ein Land in einem Konflikt mit einem anderen Staat steht, ist der EU-Beitritt ohnehin nicht möglich. Die einzige Ausnahme jemals wurde für das geteilte Zypern gemacht. Aber auch nur, weil Griechenland sonst der Aufnahme der osteuropäischen Staaten nicht zustimmen wollte. Seitdem hat es das nie wieder gegeben. Georgien, Moldau und die Ukraine haben in Kriegen Territorien verloren an Russland. Die EU wird sie in diesem Zustand nicht aufnehmen.
Es gibt zudem für Beitrittskandidaten eine Reihe von Kriterien, die passen müssen. Angefangen bei Rechtsstaatlichkeit bis hin zu einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft. Wie steht es in der Ukraine um diese Kriterien?
Die Europäische Union ist eine Konvergenzmaschine. Also ein großes Räderwerk, das die rechtlichen Bestimmungen, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und den Lebensstandard in den Mitgliedsstaaten allmählich angleichen soll. In der Ukraine, Georgien und Moldau wäre das besonders schwer. Zum einen hat jeder der drei Staaten seine territoriale Integrität in bewaffneten Konflikten mit Russland verloren. Das wäre schon ein großes politisches Hindernis. Zum anderen ist da noch der schwache Zustand der Wirtschaft und Rechtsstaatlichkeit in diesen Ländern. Dort sind sie noch weiter entfernt von den EU-Standards als die Beitrittskandidaten im westlichen Balkan. Es ist auch eine Frage, ob die 27 EU-Staaten bereit wären, jetzt sehr viel Geld für solidarische Maßnahmen in den drei osteuropäischen Ländern in die Hand zu nehmen. Angesichts der überall steigenden Energiepreise und Inflation ist es für mich schwer vorstellbar, dass auch eine große Welle der Solidarität in der Bevölkerung die politischen Führungen der Mitgliedsländer bewegen könnte, eine großzügige Erweiterungspolitik durchzuführen.
In einem offenen Brief forderten acht ost- und mitteleuropäische EU-Mitglieder aus "fester Überzeugung" eine "sofortige Beitrittsperspektive" für die Ukraine. Es scheint also einen politischen Willen zu geben.
Seit mehr als 20 Jahren gibt es einen Druck der osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten, auch im westlichen Balkan zu einer raschen Beitrittspolitik überzugehen. Das ist bisher an dem Widerstand der großen Länder wie Deutschland, Frankreich und den nordischen Staaten gescheitert. Diese Länder haben eine tiefe Abneigung dagegen, die EU mit mehr Beitritten noch empfindlicher für Streit und Heterogenität zu machen. Deswegen glaube ich nicht, dass die politischen Forderungen, die gerade aus Warschau und Prag kommen, in Berlin oder Paris auf offene Ohren stoßen werden.
Also stehen die Chancen für eine Aufnahme der Ukraine schlecht?
Derzeit kann ich mir das nicht vorstellen. Andererseits ist es so, dass der EU-Beitrittsprozess kein technischer Prozess ist, sondern ein politischer. Stellen Sie sich mal vor, man würde die heutigen Beitrittskriterien an das Nachkriegsdeutschland anlegen. Dann wäre es kaum vorstellbar, dass Deutschland der EU beitreten könnte. Ähnlich war das für Griechenland oder Spanien nach dem Fall der Diktaturen. Man hat sie ohne irgendwelche Beitrittskriterien schnell aufgenommen. Gleiches gilt für die Staaten aus dem Warschauer Pakt nach dem Fall der Sowjetunion. Da wurde die Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Ländern strategisch gedacht und schnell vollzogen. Außenministerin Annalena Baerbock hat jetzt auf ihrer Reise zum Westbalkan erklärt, dass es im strategischen Interesse Europas sei, den Westbalkan im Beitrittsprozess zu halten. Aber die Umsetzung ist ein großes Problem. Ich sehe nicht, dass in den Parlamenten, der politischen Klasse und der Bevölkerung der Wille vorhanden ist, auf einmal neun neue Mitglieder in die Europäische Union aufzunehmen.
Baerbock sagte auch, die Ukraine sei ein Teil des europäischen Hauses. Es gibt bereits ein Assoziierungsabkommen. Wie eng ist die EU mit der Ukraine, Moldau und Georgien schon verbunden?
Sicherlich hat sich in den vergangenen Jahren ein Teil der wirtschaftlichen Flüsse der Ukraine gedreht und dieses Land betreibt nicht mehr vor allem mit Russland Handel. Gerade im Bereich der Energie wendet sich die Ukraine langsam den EU-Staaten zu. Aber das reicht nicht, um in Georgien, Moldau und der Ukraine auch einen inneren Wandel zu bewerkstelligen - also ohne Oligarchen und mit rechtsstaatlichen Verhältnissen. Die Menschen verstehen, dass sich ihr Lebensstandard zu Hause nie dem angleichen wird, was es in Deutschland oder Österreich gibt. Deswegen, weil der Wohlstand nicht zu ihnen kommt, ziehen die Menschen dorthin, wo der Wohlstand ist. Es gibt einen Massenexodus aus dem Westbalkan, und auch von den vielen Geflüchteten aus der Ukraine werden nicht viele von diesen Menschen bereit sein, wieder zurückzukehren. Denn sie werden in der Europäischen Union ein Zuhause finden und dort ein besseres Leben führen. Für die zentraleuropäischen Staaten ist das gewissermaßen ein Segen, denn das, was sie gerade am meisten brauchen, sind qualifizierte Arbeitskräfte und junge Menschen.
Einige Staaten auf dem Westbalkan warten seit 20 Jahren, der EU-Beitritt von Kroatien 2013 hat über zehn Jahre gedauert. Wie wird dort die Debatte um einen EU-Beitritt der Ukraine wahrgenommen?
Man versteht in Südosteuropa, dass man wegen des Kriegs derzeit in eine emotionsgeladene politische Rhetorik geraten ist. Und dass man vielleicht in diesen Augenblicken dazu bereit ist, mehr zu versprechen, als später in der politischen Realität möglich sein wird. Die sogenannten Westbalkan-Länder haben verstanden, dass sie zwar längst wirtschaftlich in die EU integriert sind. Der Außenhandel dieser Regionen läuft zu über 75 Prozent mit der EU, vor allem mit Deutschland und Italien. Aber die Konvergenz funktioniert nicht. Zum einen, weil es bei ihnen schlechte Regierungsführung und Korruption gibt. Zum anderen, weil die ökonomischen Verhältnisse zwischen dem Kern der EU und den europäischen Peripherie-Ländern so gestaltet sind, dass ein wirtschaftlicher Aufholprozess für die Westbalkanstaaten ohne große finanzielle Solidarität aus der EU nicht geschehen kann.
Gegner einer EU-Ausweitung sagen zudem, dass die EU erst die eigenen Probleme klären sollte, bevor sie neue Mitglieder aufnehmen sollte. Da gibt es einige, angefangen von Migration bis hin zur Rechtsstaatlichkeit einzelner Mitglieder.
Das ist die Linie, die besonders vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron verfolgt wird. Wenn man sich aber auf der anderen Seite die Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz anschaut, gibt es da ein, zwei Sätze, in denen er sich ausdrücklich für einen beschleunigten Beitrittsprozess ausgesprochen hat, auch für den Westbalkan. Zumindest in der politischen Rhetorik waren die Sätze von Scholz und Baerbock viel eindeutiger als das, was die Bundesregierung in den vergangenen Jahren gesagt hat. Aber das sind auch nur Worte. Daraus lässt sich nicht auf einen beschleunigten Beitrittsprozess schließen. Wahrscheinlich wird die EU über wirtschaftliche Förderung versuchen, Länder wie die Ukraine und den Westbalken langfristig beitrittsfähiger zu machen.
Könnte die EU auch deshalb zögern, weil die Aufnahme von der Ukraine, Moldau und Georgien auch vom russischen Präsidenten Wladimir Putin als Provokation gewertet werden könnte?
Angeblich soll Stalin gefragt haben, wie viel Divisionen der Vatikan eigentlich aufbringen könne. Ähnlich sind für Putin die Beziehungen der EU zu den Ländern der sogenannten östlichen Partnerschaft immer nur ein Nebenschauplatz gewesen. Dem Kreml ging es in den vergangenen 30 Jahren allein um das Kräftemessen mit den USA und der NATO, die von Russland nur als verlängerte Hand der Amerikaner betrachtet wird. Das weiß man auch hier auf dem Schuman-Platz in Brüssel.
Mit Dušan Reljić sprach Sebastian Schneider
Quelle: ntv.de