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Gamification und KI Die Holocaust-Erinnerung muss mit der Zeit gehen

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Die Internationale Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem wird mittlerweile in Minecraft nachgebaut.

Die Internationale Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem wird mittlerweile in Minecraft nachgebaut.

(Foto: AP)

Die heute noch lebenden Opfer des Holocaust sind durchschnittlich 86 Jahre alt. Gespräche mit ihnen als Form der Erinnerungskultur wird es bald nicht mehr geben. Es braucht neue Wege - dort, wo sich junge Menschen aufhalten: in Games, im Netz, in sozialen Medien.

Nur noch 14.200 Holocaustüberlebende gibt es heute in Deutschland. Als Kinder und Jugendliche waren sie Zeugen und Opfer des dunkelsten Kapitels der Menschheitsgeschichte: der systematischen Ermordung von mehr als sechs Millionen Jüdinnen und Juden. Die Eltern, Geschwister und Freunde der Überlebenden sind in den Gaskammern deutscher Vernichtungslager ermordet worden. Sie wurden zu Opfern eines jahrhundertealten Vernichtungswahns gegen Juden, der in der Shoah kulminierte. Allein im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau wurden bis zur Befreiung durch Soldaten der Roten Armee am 27. Januar 1945 mehr als eine Million Menschen umgebracht.

Die Zahlen, Daten und Statistiken zum Holocaust sind allgemein bekannt. Sie werden in deutschen Schulen unterrichtet, in Medienberichten zitiert und künstlerisch verarbeitet. Warum also ist es so wichtig, dass auch 79 Jahre später am Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust wieder an dieses schreckliche Verbrechen erinnert wird?

Weil die 14.200 Holocaustüberlebenden und alle Jüdinnen und Juden in Deutschland derzeit erleben müssen, wie der Antisemitismus erneut Hochkonjunktur in unserem Land hat. Seit dem Pogrom der Hamas gegen die israelische Bevölkerung am 7. Oktober vergangenen Jahres haben Übergriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen dramatisch zugenommen. Die geschichtsrevisionistische AfD erhält in den einschlägigen Umfragen Zustimmungswerte von mehr als zwanzig Prozent. Und selbst in einem vermeintlich liberalen Umfeld wie an deutschen Hochschulen müssen jüdische Studierende wieder Angst davor haben, sich offen zu ihrem Glauben zu bekennen.

Gamification und Künstliche Intelligenz

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist Bundesjustizministerin a.D., Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen und stellvertretende Vorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist Bundesjustizministerin a.D., Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen und stellvertretende Vorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung.

(Foto: Rolf Vennenbernd/dpa/Archivbild)

Der Antisemitismus war nie weg und immer tödlich, wie der Anschlag auf eine Synagoge in Halle an Jom Kippur 2019 gezeigt hat. Im vergangenen Jahr wurde jedoch einmal mehr deutlich, wie erschreckend groß das Ausmaß antisemitischer Denkmuster in allen Bereichen unserer Gesellschaft noch immer ist. Das ist traurig und beschämend. Es zeigt auch, dass der Kampf gegen den Antisemitismus nicht so erfolgreich ist, wie oft angenommen wird. Wir haben keinen Grund, uns zufrieden zurückzulehnen. Im Gegenteil: Die jüngsten Entwicklungen zeigen, dass wir neue Wege im Kampf gegen Antisemitismus einschlagen müssen.

Die Auseinandersetzung mit Antisemitismus hängt eng mit dem Vermitteln historischer Lehren und Erfahrungen zusammen. Nur wer versucht, die Vergangenheit zu verstehen, wird daraus Konsequenzen für die Gegenwart und Zukunft ziehen. Es ist daher erschreckend, wie lückenhaft das Wissen um den Holocaust gerade unter jüngeren Menschen der Millennials und der Generation Z laut Studien ist. Wenn wir diese Zielgruppen nicht verstärkt adressieren, wird die Erinnerungskultur weiter verblassen.

Eine der wirkungsmächtigsten Maßnahmen zur Förderung von Erinnerungskultur sind seit jeher Gespräche mit Holocaustüberlebenden an deutschen Schulen. Überall im Land diskutieren sie mit jungen Menschen über ihre Erfahrungen aus dem Nationalsozialismus und dem hasserfüllten, rassistischen Antisemitismus. Die persönlichen Berichte der Zeitzeugen schaffen nahbare und emotionale Momente. Doch angesichts des Alters der verbliebenen Überlebenden von durchschnittlich 86 Jahren werden solche Veranstaltungen immer seltener und schließlich enden. Da die Lehren der Vergangenheit eindrücklicher durch lebendige Erzählungen als durch trockene Geschichtsbücher vermittelt werden können, entfällt künftig eines der erfolgreichsten Mittel der Aufklärung über Antisemitismus und seine Folgen. Unser kollektives Gedächtnis verliert einen unersetzlichen Wert an persönlichen Zeugnissen, die das Bewusstsein für die Schrecken des Holocausts lebendig halten.

Organisationen wie die Shoah Foundation arbeiten daher unermüdlich daran, möglichst viele Gespräche mit Holocaustüberlebenden aufzuzeichnen, um deren Erinnerungen für die Nachwelt zu bewahren. Museen und Forschungseinrichtungen, Stolpersteine, Dialogveranstaltungen, Gedenkstättenbesuche, Bücher und Filme werden auch weiterhin eine wichtige Rolle bei der Vermittlung von Erinnerungen spielen. Doch sollten diese klassischen Mittel stärker ergänzt werden, um dem Verlust an authentischen Berichten und Wissen über den Holocaust entgegenzuwirken. Dafür müssen wir junge Menschen dort erreichen, wo sie sich aufhalten: in Games, im Netz, in sozialen Medien. Gamification und Künstliche Intelligenz sollten verstärkt in der Erinnerungskultur eingesetzt werden.

Erinnerungskultur muss mit der Zeit gehen

Erste erfolgreiche Ansätze gibt es bereits. In "The Light in the Darkness" des britischen Spieleentwicklers Luc Bernard erlebt der Spieler, wie eine jüdische Familie im Paris des Jahres 1940 zunehmender Diskriminierung und Verfolgung ausgesetzt ist - bis die Familienmitglieder schließlich nacheinander deportiert werden. Bernard, der das Spiel ohne Fremdfinanzierung über fünfzehn Jahre in Eigenregie produziert hat, zeigt sich auch verantwortlich für die Entwicklung des digitalen Holocaust-Museums im weltweit erfolgreichen Videogame Fortnite. Ein Team aus israelischen und deutschen Entwicklern und Spielern arbeitet daran, die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem originalgetreu in der Welt des enorm populären Spiels Minecraft nachzubauen. Auch in Deutschland gibt es einige zaghafte Versuche, sich dem Thema Holocaust und Nationalsozialismus abseits der üblichen Weltkriegssimulationen zu nähern, beispielsweise mit "The Darkest Files".

Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz zur Bewahrung von Erinnerungen kann ebenfalls sinnvoll sein. Einzelne Projekte, hauptsächlich in Israel und den USA, zeichnen Interviews mit Holocaustüberlebenden auf, um diese Daten - basierend auf über 2000 gestellten Fragen - für virtuelle Gespräche mit den computersimulierten Abbildern der Überlebenden nutzen zu können.

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Natürlich schrillen beim Klang von Künstlicher Intelligenz und Gamification im Zusammenhang mit Holocaust und Erinnerungskultur bei kritischen Beobachtern sämtliche Alarmglocken. Der Umgang mit Erinnerungskultur, insbesondere im Zusammenhang mit dem Holocaust, wirft stets ethische Fragen auf. Diese müssen intensiv diskutiert werden - doch dürfen sie nicht den Blick darauf beschränken, dass auch die Erinnerungskultur mit der Zeit gehen muss, um wirkungsvoll zu sein und ihr Ziel zu erfüllen: Das Bewusstsein für die Schrecken des Holocaust zu schärfen und sicherzustellen, dass sich solche Verbrechen nie wieder ereignen.

Erinnerungskultur muss gelebt und erlebt werden. Computerspiele bieten dafür gute Voraussetzungen. Sie sind unter jungen Menschen das meistgenutzte Unterhaltungsmedium. Oft blockiert die Angst vor einem PR-Fiasko mutige Initiativen und kreative Ideen. Doch dieses Risiko müssen wir eingehen. Schwindendes Wissen über den Holocaust beinhaltet viel schwerwiegendere Risiken für unsere Gesellschaft.

Quelle: ntv.de

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