Panorama

Die Einsamkeit der Juden Das lauteste Schweigen aller Zeiten

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All I want for christmas is peace ...

All I want for christmas is peace ...

(Foto: dpa)

Wie geht man als deutscher Jude mit der aktuellen Welle von Antisemitismus um? Denn es herrscht eine merkwürdige, verstörende Stimmung aus Nicht-Reaktion, Nicht-Empathie und Aggression. In diesen Tagen wird Chanukka gefeiert. ntv.de hat sich umgesehen und -gehört.

Chanukka - in besseren Zeiten hat man "Weihnukka" gefeiert, bis der Arzt kam, weil diese beiden Feste nah beieinander liegen, und vor allem, weil die Menschen, die diese Feste feiern, sich total nah sind. Dieses Jahr aber ist alles anders. Dieses Jahr rät man einem Freund, einem jüdischen Galeristen, er möge doch lieber seine Israel-Fahne nicht ins Schaufenster hängen, wenn er weiterhin Wert auf sein Fensterglas legt.

Dieses Jahr sagt der jüdische Freund und Journalist Andreas Tölke, der auch das Restaurant "Kreuzberger Himmel" betreibt und unermüdlich in der Ukraine Menschen rettet, seinen syrischen Angestellten, sie sollen doch bitte die israelische Fahne einrollen, "ich weiß, ihr meint es gut, aber ich hab' keinen Bock auf Stress im Laden".

In diesem Jahr trägt Freundin M. zum ersten Mal ihren Davidstern unter dem Pullover, auch wenn ihr schon früher geraten wurde, das Symbol lieber nicht sichtbar in der S-Bahn oder auf der Straße zu tragen. Bisher hat sie gesagt, das sehe sie gar nicht ein. Jetzt sieht sie es leider anders. Muss es anders sehen.

Mesusa

Die Mesusa hängt in einem jüdischen Haus an der Eingangstür. Die Kapsel aus Metall oder Holz enthält ein kleines Stück Pergament mit Versen aus der hebräischen Bibel, um die Bewohner unter göttlichen Schutz zu stellen. Nimmt die Mesusa Schaden, ist der göttliche Segen ungewiss.

In diesem Jahr erzählt Freundin L.: "Ich habe überlegt, ob ich die Mesusa an der Eingangtür meiner Eltern abmache. Weil das vielleicht zu gefährlich ist. Das Gefährlichste daran ist aber, dass sie einen Herzinfarkt bekommen werden, wenn ich das tue, weil sie nicht fassen können, dass es nötig ist. Meine Eltern sind über 90." Die Familie feiert dieses Jahr nicht großartig: "Was sollen wir uns erzählen? Dass alles wieder gut wird? Das wird es, das sagen wir auch den Kindern, aber sicher nicht mehr dieses Jahr."

Antisemitismus gesellschaftsfähig?

Eine andere Freundin empfindet das Schweigen "der Deutschen" als schmerzhaft, zumal jetzt oft Juden und Israel gleichgesetzt werden. "Ja, die Bilder aus Gaza sind grausam", sagt S. am Telefon, "dennoch sind jede Woche 100.000 Menschen in Israel auf die Straße gegangen und haben gegen Netanjahu demonstriert. Das scheint vergessen." Sie betont: "Israel hat immer noch das Recht, sich zu verteidigen, und zwar alle Juden in dieser Welt, die sich unwohl fühlen, wo auch immer sie gerade leben." Sie glaubt, nach dem Krieg wird es einen jüdischen Exodus nach Israel geben, "weil Antisemitismus gesellschaftsfähig geworden ist."

Chanukka

Das jüdische Lichterfest erinnert an drei wichtige Ereignisse in der Geschichte des jüdischen Volkes, die von Selbstbehauptung und Bewahrung der Religion erzählen: von der Befreiung aus hellenistischer Herrschaft, der zweiten Weihe des Tempels in Jerusalem, und einem Lichtwunder, das acht Tage währte. In Erinnerung daran werden morgens in der Synagoge besondere Gebete gesprochen. An den Abenden treffen sich die Familien zu Hause und entzünden ein neues Licht an der Chanukkia - bis alle acht Kerzen brennen.

Und sie formuliert, was sich wahrscheinlich viele Juden (in Deutschland) gerade wünschen:

  • Ich wünsche mir, als Jüdin, für alle Jüdinnen und Juden der Welt, endlich mal wirklich in Freiheit leben zu können.
  • Ich wünsche mir als deutsche Jüdin, meinen Stern an der Kette zu zeigen. Jetzt kann ich es nicht, weil ich Angst davor haben muss, bedroht zu werden.
  • Ich wünsche mir bei einem türkischen oder arabischen Gemüse-, Blumen- oder Obsthändler einkaufen zu können. Ich tue das nicht, weil ich nicht weiß, ob er ein Erdogan- oder Hamas-Anhänger ist. Ich habe nicht das Bedürfnis, deren Familien mit meinen Einkäufen zu unterstützen.
  • Ich lebe in Deutschland nicht mehr frei.
  • Ich bin dankbar, dass meine Eltern diese Situation nicht mehr erleben müssen.
  • Ich wünsche mir, dass der Krieg aufhört.
  • Ich wünsche mir, dass die Israelis und die Palästinenser nebeneinander in Freiheit und ohne Angst leben können.
  • Ich wünsche mir, dass wir Juden endlich damit aufhören können, in unserer DNA zu haben, überleben zu müssen. Dazu werden wir nicht erzogen, das ist in unserer DNA. Ich wünsche mir, dass das nicht immer so sein muss!
  • Als Migrantin und Jüdin wünsche ich mir, dass Menschen in dieses Land Deutschland kommen, die Respekt und Achtung vor diesem grundsätzlich tollen Land haben. Ich sehe aber, dass es sehr viele Menschen gibt, die hier leben und von diesem Land profitieren und diese Werte nicht respektieren. Sie im Gegenteil sogar verachten.
  • Dass sich das ändert, das wünsche ich mir, als Deutsche.

Es war doch mal gut?!

Ob prominent oder privat - die Stimmen und die Stimmungen ähneln sich, denn auch prominente Juden reden über das Gefühl, sich allein zu fühlen, ihren Schmerz über die nicht vorhandenen oder kühlen Reaktionen in der Gesellschaft - wenn es überhaupt Reaktionen gibt. Margot Friedländer, 102 Jahre alt, geboren in Berlin, kehrte vor mehr als zehn Jahren in ihre Heimat zurück, mit dem Gedanken, dass alles gut sei.

Das ist es, spätestens seit dem 7. Oktober 2023, nicht mehr: "Ich bin entsetzt, was sich jetzt aufgetan hat", sagt sie bei ihren Auftritten, die sie unbeirrt weiterhin wahrnimmt. Und findet treffende Worte bei einem Konzert im Berliner Ensemble: "Es gibt kein christliches, muslimisches oder jüdisches Blut. Wir sind alle Menschen. Wir müssen achtsam sein. Wir müssen menschlich sein. Seid Menschen." Das Publikum erhob sich und klatschte minutenlang.

Igor Levit spricht bei der Kundgebung "Fridays for Israel".

Igor Levit spricht bei der Kundgebung "Fridays for Israel".

(Foto: Britta Pedersen/dpa)

Organisiert wurde dieser Abend vom Pianisten Igor Levit: Er fragte sich nämlich, wo Empathie und Solidarität gegen Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft geblieben sind. Ja, es seien einige vorbeigekommen bei ihm, hätten angerufen, aber witzigerweise oft die, mit denen er am wenigsten gerechnet hatte. Die, von denen er es mehr oder weniger erwartet hatte, waren erstaunlich still.

Er wolle nicht pauschalisieren, so Levit im RBB, aber er vermisse große Aktionen wie die zum russischen Angriffskrieg oder zur Unterstützung der Solidarität mit den iranischen Frauen. Er verspüre "eine Explosion von Antisemitismus" und beklagt ein weitverbreitetes Schweigen in der Kulturszene. "Ich könnte lachen, wenn ich nur darüber nachdenke, wie bizarr diese Stille bei den allermeisten ist." Frage er: "Es bricht sich Judenhass Bahn auf deutschen Straßen. Wo seid ihr?", dann laute die Antwort: "Ich verstehe dich, aber Israel ist so kompliziert." Levit betont, er sei "nicht Israel. Ich bin kein Israeli. Ich bin ein Jude in Deutschland, der dich fragt, wo du bist. Und dann kommt gar nichts." Er könne nicht mehr so tun, als wäre das alles nicht passiert.

Diese bizarre Stille

Der Publizist Michel Friedman und die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer auf der Bühne des BE in Berlin.

Der Publizist Michel Friedman und die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer auf der Bühne des BE in Berlin.

(Foto: Hannes P. Albert/dpa)

Auch Michel Friedman wundert sich in einem Interview darüber, wie viel Empathie für andere in Deutschland vorhanden sein kann: "Machen wir uns nichts vor: Dieses laute Schweigen der Gesamtgesellschaft ist schon sehr auffällig. (...) Und für jeden ist - zu Recht - Empathie da gewesen." Man ging auf die Straße, hing Flaggen auf. "Aber wenn es um Juden geht, war (und ist) es relativ still in diesem Land - und das ist beunruhigend."

Es geht um die Demokratie - und wer nicht begreift, dass man sich jetzt nicht nur für Juden engagiert, sondern für die Würde des Menschen, die laut Grundgesetz unantastbar ist, der wird sich wundern, wie schnell autoritäre und gewaltbereite Gruppen sich die nächsten Opfer suchen.

Dazu Buchautorin und Podcasterin Lea Streisand: "Ich habe mich seit dem 7. Oktober kaum aus dem Haus getraut. Nicht, weil ich Angst um meine Person hatte, ich hatte schlicht keine Kraft für 'Ja, aber'-Diskussionen. Ich habe nur noch geheult." Streisand, Kolumnistin bei RadioEins, erlebt in den vergangenen Wochen Anfeindungen bei Lesungen, offenen Judenhass und Buh-Rufe. Bei der Demonstration am Brandenburger Tor in Berlin vor ein paar Wochen war sie daher "so dankbar, ich hätte am liebsten jedem Einzelnen der mehr als 10.000 Teilnehmenden die Hand geschüttelt."

Mirna Funk: "In den künstlerischen und literarischen Kreisen, in denen ich mich bewege, ist der 'israelbezogene' Antisemitismus schon seit Jahren verbreitet, die Polarisierung nimmt zu."

Mirna Funk: "In den künstlerischen und literarischen Kreisen, in denen ich mich bewege, ist der 'israelbezogene' Antisemitismus schon seit Jahren verbreitet, die Polarisierung nimmt zu."

(Foto: IMAGO/Funke Foto Services)

Und wenn doch mal mehr Solidarität von Followern kommt, dann so, wie sie es auf Instagram beschreibt: "Schlimm, der Holocaust und was deiner Familie angetan wurde, Lea, #neverforget und so, aber please: Don't talk about Israel." Streisand glaubte, der Antisemitismus in Deutschland sei Geschichte, "die erstarkende Rechte hatte ich auf dem Schirm, aber ich dachte, die hätten andere Ziele, rassistische und klimafeindliche".

Wir sind sehr wenige

Autorin und Journalistin Mirna Funk versucht im Interview mit der "NZZ" eine gewisse Relation herzustellen, für das Verständnis: "Jeder kennt jemanden, der ermordet, verletzt oder entführt wurde, oder ist über Verwandte und gemeinsame Freunde mit ihnen verbunden. Wenn ich mit meinen israelischen Freunden und Verwandten spreche, dreht sich alles um die Geiseln." Es leben nur 15 Millionen Jüdinnen und Juden auf der Welt, so Funk. "Wir sind sehr wenige. Alle sind im zweiten oder dritten Grad miteinander verwandt." Die Geiseln beispielsweise würden daher als eigene Familienmitglieder betrachtet.

Bleibt festzuhalten: Es gibt kein christliches, muslimisches oder jüdisches Blut. Chanukka sameach.

Quelle: ntv.de

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