Politik

Shoah-Gedenken im Bundestag Diese Rede von Marcel Reif dürfte spannend werden

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Marcel Reif wird am 31. Januar anlässlich des Holocaust-Gedenktages im Bundestag sprechen.

Marcel Reif wird am 31. Januar anlässlich des Holocaust-Gedenktages im Bundestag sprechen.

(Foto: picture alliance / Pressebildagentur ULMER)

Mit dem Sportjournalisten Marcel Reif spricht erstmals das Kind eines Holocaust-Überlebenden beim alljährlichen Gedenken im Bundestag. Reif selbst bezweifelt immer wieder seine Kompetenz, was das Thema angeht. Gerade das könnte seinen Auftritt bemerkenswert machen.

Überraschende Redner gab es schon beim Holocaust-Gedenktag im Bundestag, aber wohl noch keinen, der sich selbst offenbar für ungeeignet gehalten hat. Marcel Reif könnte der erste sein. Im Interview mit einem Schweizer Sender sagt der Fußballkommentator 2016, er sehe sich nicht als Sohn eines Holocaust-Überlebenden. Er sei gar nichts, sagt er, um dann zu präzisieren: "ein Wohlstandsjüngling". Dennoch spricht Reif am 31. Januar im Bundestag "als Vertreter der zweiten Shoah-Generation", wie das Parlament auf seiner Website schreibt.

Seine Eltern hätten "alles dafür getan, dass ich aufwachse wie eine Made im Speck", so Reif. Sein Vater habe nicht gewollt, dass seine Kinder in Deutschland in jedem zweiten Menschen einen Täter sähen. Reif meint, genau davor habe das Schweigen seines Vaters ihn und seine Schwester geschützt.

"Er wollte, dass wir unbeschwert aufwachsen", erzählt der Wahl-Schweizer im Schweizer "Teleclub". Das habe funktioniert. Er habe sich damals nicht mit der Holocaust-Vergangenheit seines Vaters beschäftigt, ihm sei wichtig gewesen, ob er zum Abitur den 850er Fiat Spider mit Holzlenkrad bekäme. "Das war mein zentrales, existenzielles Thema", sagt der Mann, der im November 1949 als Marek Nathan Reif im polnischen Niederschlesien geboren wurde.

"Diese Geschichten sind alle unaussprechlich"

Dass Reif zur Welt kommt, ist ein kleines Wunder. Reifs Vater, ein polnischer Jude, wird 1941 aus einem Güterwaggon gerettet, der ihn in ein Vernichtungslager bringen sollte. Er kann fliehen, versteckt sich im Wald, harrt wochenlang in einem Erdloch aus. Irgendwie überlebt er den Holocaust, gründet eine Familie, flieht 1956 vor dem in Polen erstarkenden Antisemitismus nach Israel und siedelt mit seiner Frau, einer deutschstämmigen Katholikin, und den beiden Kindern wenige Jahre später nach Deutschland über, ins Land der Täter. Marcel Reif ist acht Jahre alt, als er Deutsch lernt.

In Deutschland will Reifs Vater vor allem leben. Im Schweizer Fernsehen erklärt sein Sohn das so: "Du bist ein lebender Toter, dann holt dich einer aus dem Zug und du darfst noch mal leben". Sein Vater habe gern gelebt, schreibt Reif im Buch "Erben des Holocaust", gut gegessen, gut getrunken, an allem Spaß gehabt. Er könne sich vorstellen, warum sein Vater so viel Spaß hatte: Er habe wahrscheinlich schlicht etwas nachzuholen gehabt.

Reifs Vater will leben - und nicht reden. Der Sohn ist damit einverstanden. Er sei sehr dankbar für die "nasebohrende Luxus-Jugend", die seine Eltern ihm mit ihrer Hände Arbeit und ihrem Schweigen ermöglicht hätten, schreibt Reif in "Erben des Holocaust". Das Reden hätte nichts verändert, meint Reif. Die Geschichten, die sein Vater zu erzählen gehabt hätte, seien ohnehin unaussprechlich. Wenn man sie doch ausspreche, würde nichts besser.

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Noch nie sprach das Kind eines Überlebenden

Ausgerechnet Reif wird nun im Bundestag sprechen, bei einer Gedenkfeier, deren Sinn es ist, die Erinnerung durch Reden wachzuhalten. Damit es nicht wieder wird, wie es schon einmal war. An diesem Tag wird auch Eva Szepesi sprechen. Sie wurde am 27. Januar 1945 von der Roten Armee aus dem Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit. Szepesi war damals zwölf Jahre alt. Ein halbes Jahrhundert redete auch sie nicht über das, was sie erlebt hatte. Bei der Gedenkfeier zum 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz brach sie erstmals ihr Schweigen. Später schrieb Szepesi ihre Erfahrungen in einem Buch nieder. Szepesi ist eines der wenigen Kinder, die die Gaskammern der Nationalsozialisten überlebte.

Längst sind die meisten Menschen gestorben, die der deutschen Vernichtungsmaschine entkamen. Berichten können von all dem Grauen fast nur noch Verfolgte, die damals Kinder waren. Laut Zahlen der Jewish Claim Conference ist weltweit nur noch knapp eine Viertelmillion Holocaust-Überlebender am Leben, davon rund 14.200 in Deutschland.

Die deutsche Gesellschaft steht deshalb vor der Frage, wie sie die Erinnerung an ihre dunkelste Stunde wachhalten will. Schon bald wird niemand mehr berichten können, der sie selbst erleben musste. Am Holocaust-Gedenktag sprachen schon in der Vergangenheit nicht nur Überlebende. Immer wieder standen deutsche Bundespräsidenten am Redepult, zweimal bereits ein israelischer Präsident. Auch die Neffen von zwei Opfern der "Euthanasiemorde" erinnerten an die Verbrechen der Deutschen und mit Marina Weisband 2019 die Enkelin eines Generals der Roten Armee, der an der Befreiung Berlins beteiligt war.

Aber noch nie sprach das Kind eines Überlebenden. Damit findet nun eine Art Staffelübergabe statt - in diesem Fall an Marcel Reif, der den Stab gar nicht will, der diese Rolle zumindest immer wieder rundheraus abgelehnt hat. In einem Interview mit der "Zeit" sagte er im vergangenen November: "Ich bin nicht derjenige, der das Sprachrohr meines Vaters sein kann und darf." Er habe nichts zu sagen, außer, dass sein Vater den Holocaust überlebt habe.

"Lässt meinen Vater im Grab rotieren"

Im 2017 erschienenen Buch "Erben des Holocaust" schreibt Reif, er könne das Schweigen seines Vaters verstehen. Deshalb müsse auch er nicht darüber sprechen, "mit niemandem". Die Überlebenden hätten unaussprechliche Dinge gesehen. Er könne das nicht fassen, diese Zahl: sechs Millionen. Es sei eine erbärmliche Zahl, die für nichts stehe. Die Nationalsozialisten hätten einen Menschen umgebracht, sechs Millionen Mal. "Mir reicht schon einer, ich höre schon bei einem auf", schreibt Reif.

Er werde nie wieder darüber reden, beendet Reif seinen Text. Er würde sonst das Lebenswerk seines Vaters beschädigen. Trotzdem wird Marcel Reif seine Stimme im Bundestag erheben. Dass er offenbar solche Skrupel hat, öffentlich über den Holocaust zu sprechen, macht seine Rede umso spannender.

Denn das Reden vor Publikum ist nicht Reifs Problem. Beim legendären Torfall von Madrid schrieb er zusammen mit Günther Jauch Fußballgeschichte: Eines der Alu-Tore war abgebrochen und umgefallen, Ersatz nicht vorhanden. Reif und Jauch mussten eine Pause überbrücken, deren Dauer nicht abzusehen war, und sie kommentierten sich in einen Rausch, in dem Sätze fielen wie: "Noch nie hätte ein Tor einem Spiel so gutgetan wie heute." Jauch und Reif bekamen dafür später den Bayerischen Fernsehpreis. Marcel Reif, dieser "Zauberer", wie Franz Beckenbauer ihn einst nannte, wird nun über das sprechen, worüber er nicht mehr sprechen wollte.

Reif wird Gründe haben, warum er spricht. Womöglich wies er auf einen dieser Gründe im Interview mit der "Zeit" hin: Seinem Vater sei klar gewesen, dass es vereinzelt immer Antisemiten geben würde, erzählte er da, wenige Wochen nach dem Überfall der Hamas auf Israel. Dass aber der Hass auf Juden in Deutschland so offen zur Schau gestellt werde, "lässt meinen Vater im Grab rotieren, glaube ich", sagte Reif. Offenbar hat er doch etwas zu sagen.

Quelle: ntv.de

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