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Shoah-Überlebende Emmie Arbel "Und es darf nicht wieder geschehen"

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Mit ihrer Tochter und Barbara Yelin arbeitet Emmie Arbel an ihrem Stammbaum.

Mit ihrer Tochter und Barbara Yelin arbeitet Emmie Arbel an ihrem Stammbaum.

(Foto: Barbara Yelin & Reprodukt 2023)

Als Kind wird sie von den Deutschen deportiert. Sie überlebt mehrere Konzentrationslager. Von ihrem jüdischen Pflegevater wird sie missbraucht. Schließlich bricht sie zusammen. Barbara Yelin hat Emmie Arbels Lebensgeschichte aufgezeichnet - und schlägt eine Brücke zur Gegenwart.

Da sitzt Emmie Arbel im israelischen Ort Kirjat Tiv'on am Küchentisch und arbeitet an ihrem Stammbaum. Eltern und Großeltern - im Holocaust ermordet. Die Brüder Menachem und Rudi - überlebten mehrere Konzentrationslager. Kinder und Enkel, Nichten und Neffen - leben in Israel, den USA oder Deutschland.

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verdichten sich in dieser einen Szene in der Graphic Novel "Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung" von Babara Yelin, erschienen bei Reprodukt (Leseprobe). Der Stammbaum erzählt die Familiengeschichte, mit allen Verzweigungen, mit allen Brüchen, mit allen Schmerzen.

Die Farbe der Erinnerung - das ist für Emmie Arbel Schwarz.

Die Farbe der Erinnerung - das ist für Emmie Arbel Schwarz.

(Foto: Barbara Yelin & Reprodukt 2023)

Für Emmie Arbel gab es Momente, da hatte sie keine Zukunft. 1937 in Den Haag geboren, wird sie 1942 zusammen mit ihrer Familie deportiert. Als Kind überlebt sie das Durchgangslager Westerbork, die Konzentrationslager Ravensbrück und Bergen-Belsen. In Ravensbrück erkrankt sie an Typhus und kommt auf die Krankenstation, wo sie zwischen Sterbenden und Toten liegt. "Ich wusste, dass ich sterben würde", sagt sie.

Doch Arbel überlebt den Holocaust, kommt nach dem Krieg nach Schweden, dann in die Niederlande, wandert schließlich nach Israel aus, wo sie bis heute lebt. Dass Yelin ihre Geschichte nun erzählt, oder besser: zeichnet, ist ein Glück. Nicht nur, weil Arbel anfangs dem Medium Comic skeptisch gegenüberstand. Sondern vor allem, weil es ein langer Weg war, bis sie ihre ganze Geschichte erzählen konnte.

Zusammenbruch 30 Jahre nach dem Krieg

2019 begegneten sich Arbel und Yelin erstmals in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück.

2019 begegneten sich Arbel und Yelin erstmals in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück.

(Foto: Barbara Yelin & Reprodukt 2023)

Deshalb steht am Anfang des Buches ein totaler Zusammenbruch. 1977, mehr als 30 Jahre nach Ende des Krieges, kann Arbel nicht mehr. Die Erinnerungen, lange verdrängt, kommen zurück. Nicht nur die des Holocausts, in dem sie ihre Mutter dahinsiechen und schließlich sterben sieht, sondern auch Traumata aus der Zeit danach, als sie von ihrem jüdischen Pflegevater missbraucht wird. Sie sucht Hilfe und kann sich langsam mit den Schrecken ihrer Kindheit und Jugend auseinandersetzen.

Yelin erzählt diese Geschichte nicht chronologisch, sondern assoziativ, so wie Erinnerungen eben funktionieren. Die Handlung springt hin und her, zwischen der Kindheit in den Konzentrationslagern, der Jugend in den Niederlanden, dem Erwachsenwerden und der Gegenwart in Israel - stets wird Arbel von einer Ruhelosigkeit begleitet, sehr oft zeichnet Yelin sie mit einer Zigarette in der Hand. "Ich bin nirgends geblieben", sagt Arbel. Der Comic lässt dabei Lücken zu, die sich ergeben, weil die Erinnerungen verblassen, auftauchen und wieder verschwinden. "Ich erinnere mich nicht", sagt Arbel immer wieder.

Zusammengehalten wird die Geschichte von der Protagonistin, die trotz aller Schrecken nie aufgibt, ihr Leben in die Hand nimmt, eine Familie gründet und schließlich die Stärke findet, über all das vor Schulklassen und schließlich auch zu Barbara Yelin zu sprechen. Die preisgekrönte Comiczeichnerin wiederum macht die Farbgebung zur Leitidee: zwischen düsteren, fast ins Schwarz abgleitenden Blautönen, die für die Schrecken der Vergangenheit stehen, und den sonnendurchfluteten Gelb- und Grüntönen im gegenwärtigen Israel. Die Comicform ermöglicht es, die Gegensätze zu verbinden, sie nebeneinanderzustellen, auch ineinander übergehen zu lassen.

Schon einmal hat Yelin eine Frau im Nationalsozialismus in den Mittelpunkt eines Comics gestellt: In "Irmina" erzählt sie, inspiriert durch die eigene Familiengeschichte, von einer Mitläuferin im Nationalsozialismus. Diesmal verzichtet Yelin auf eine Fiktionalisierung, wählt stattdessen die Form der Comicreportage, in der die Zeichnerin selbst auch auftaucht. Dieser Ansatz, der Arbel immer wieder in alltäglichen Momenten zeigt, ermöglicht eine viel intensivere Annäherung. Erinnerung ist hier kein Rückblick, keine Geschichte, sondern ein permanenter Zustand. Die Vergangenheit umgibt Arbel, sie kann sie nicht abstreifen - oft trägt sie blaue Kleidung, die die Farbgebung der düsteren Momente spiegelt.

Das Zuhause ist nicht mehr sicher

Ein Teil von Arbels Geschichte ist bereits erschienen, in der Anthologie "Aber ich lebe - vier Kinder überleben den Holocaust" (Beck). Dabei geht es um die letzte Generation der Zeitzeugen, die als Kinder die Shoah überlebt haben und von ihrem Schicksal berichten können. "Ich habe das Gefühl, niemand kann verstehen, was ich fühle", sagt Arbel in "Die Farbe der Erinnerung". "Aber wenn ich nicht darüber rede, können die anderen nicht verstehen. Nicht verstehen, was geschehen ist. Und es darf nicht wieder geschehen."

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In ihrem neuen Buch geht Yelin aber noch über die Erinnerung an den Holocaust hinaus. Die Stärke des Buches ist es, dass sie Arbels ganze Geschichte erzählt. Das Leben derer, die den Schrecken der Shoa entronnen sind, ging schließlich auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs weiter. Vielen von ihnen stand eine Odyssee bevor, denn wo waren sie willkommen und sicher? Und wie sollten sie mit dem Erlebten umgehen? Als Arbel in einem israelischen Kibbuz lebt, interessiert sich dort niemand dafür, was in den Konzentrationslagern geschehen ist. "Ich schämte mich dafür, dass ich in den Lagern gewesen war", sagt Arbel. So schwieg sie, bis sie schließlich einen Zusammenbruch erlebte.

Die Suche nach einer sicheren Zuflucht schlägt auch die Brücke zur Gegenwart, in der Israel Opfer eines massiven Terrorangriffs geworden ist und sich zu verteidigen sucht. Arbel war während der Terrorattacke der Hamas in Europa, für ihre Erinnerungsarbeit in Ravensbrück. "Sie vermisst ihr Zuhause", sagte Yelin kürzlich dazu der "Süddeutschen Zeitung". "Dass dies jetzt wieder kein sicheres Zuhause mehr ist, macht ihr sehr zu schaffen."

Quelle: ntv.de

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