Politik

Anne Will zu Energie-Importstopp "Drehen jeden Tag den Gashahn ein Stück weiter zu"

Die Gäste bei "Anne Will" diskutierten über die Frage, ob Deutschland die Energieimporte aus Russland stoppen sollte.

Die Gäste bei "Anne Will" diskutierten über die Frage, ob Deutschland die Energieimporte aus Russland stoppen sollte.

(Foto: © NDR/Wolfgang Borrs)

Russland setzt seinen Angriffskrieg in der Ukraine mit aller Härte fort. Vor dem Eindruck der schrecklichen Bilder aus Butscha geht es in der Talkrunde von Anne Will um ein Ende russischer Energielieferungen. Bei der Frage nach dem Zeitpunkt sind die Meinungen der Gäste gespalten.

Was derzeit in der Ukraine passiert, ist in den geheizten Wohnzimmern der Bundesrepublik schwer vorstellbar. Menschen harren wochenlang in ihren Kellern aus und ernähren sich von den letzten Konserven, die sie haben. Sie müssen in den belagerten Gebieten jederzeit damit rechnen, von russischen Soldaten Gewalt zu erfahren - im schlimmsten Fall mit Todesfolge. Bilder von Kriegsverbrechen unter anderem aus Butscha sorgen hierzulande für Erschütterung und werfen einmal mehr die Frage auf, welchen Preis Deutschland zahlen kann und soll, um Russland und seinen Präsidenten Wladimir Putin die Grenzen aufzuzeigen.

Marieluise Beck hat sich in den vergangenen Tagen ein eigenes Bild von der Zerstörung und dem Kriegsgeschehen in der Ukraine gemacht. Die Grünen-Politikerin reiste nach Kiew, sprach mit den Menschen vor Ort, und sagt am Sonntagabend bei "Anne Will": "Was sich dort in der Ukraine abspielt, ist so unvorstellbar." Das Leid der Menschen müsse Anlass dazu geben, "dass wir doch vielleicht noch mal neu denken müssen, was wir aushalten können".

Die Osteuropa-Expertin der Denkfabrik Zentrum Liberale Moderne spricht damit das Kernproblem der deutschen Debatte an. Die Stimmen mehren sich, die einen Stopp der Energielieferungen aus Russland fordern, um damit dem russischen Regime empfindlichen wirtschaftlichen Schaden zuzufügen. Doch Deutschland stünde damit angesichts der Knappheit und wenigen Alternativen zu russischem Gas und - im geringeren Maße - Öl und Kohle vor einer gewaltigen Herausforderung. Kann die Wirtschaft und auch die Gesellschaft das mittragen?

Veronika Grimm geht davon aus, dass das möglich sein sollte. Die Wirtschaftswissenschaftlerin ist Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, also eine von fünf sogenannten Wirtschaftsweisen. Sie zitiert Analysen, wonach Deutschland mit 2,5 bis 6 Prozent Abschlag auf die Wirtschaftsentwicklung rechnen müsste, wenn es zu einem Importstopp käme. Nicht mehr und nicht weniger. Aber sie stellt auch klar: "Dass das einfach zu verkraften wird, hat niemand behauptet." Bei einem sofortigen Verzicht auf Öl und Gas aus Russland müsse der deutsche Staat den Unternehmen Hilfen zur Verfügung stellen.

Importstopp ja, aber bitte nicht sofort

"Wenn man diese Bilder sieht, dann hat jeder sofort die Emotion zu sagen, wir müssen jetzt alles tun, was richtig ist, um diesen Krieg zu beenden", sagt SPD-Chef Lars Klingbeil über die erschütternden Aufnahmen aus Butscha. In dem Vorort von Kiew wurden nach Angaben der ukrainischen Armee etliche Leichen von Zivilisten gefunden. Sie wurden angeblich von russischen Streitkräften ermordet und einfach auf der Straße liegen gelassen.

Ein sofortiges Energie-Embargo hält Klingbeil für falsch. Es werde das "brutale Morden" durch Putins Truppen nicht stoppen. "Wir drehen gerade jeden Tag den Gashahn ein Stück weiter zu", sagt er und meint die Ampel-Regierung, die etwa unter Wirtschaftsminister Robert Habeck derzeit nach alternativen Anbietern auf dem Weltmarkt für Gas, Öl und Kohle sucht.

Einen Unterstützer hat Klingbeil - zumindest in dieser Frage - in CSU-Chef Markus Söder. Ein sofortiger Energie-Importstopp würde schwere Bremsspuren in Deutschland verursachen, sagt der bayerische Ministerpräsident. Große Teile der Wirtschaft würden dadurch aus der Bahn geworfen. Energieintensive Betriebe müssten enorme Schäden hinnehmen. Es brauche einen Importstopp "so schnell wie möglich, da bin ich dabei, aber nicht über Nacht".

Söder hat dabei nach eigenem Bekunden auch die einfachen Bürgerinnen und Bürger im Blick, die schon jetzt unter einer hohen Inflation litten. Sein Credo: Der Ukraine müsse geholfen werden, aber die Regierung sei auch den Menschen in Deutschland verpflichtet. Es gehe um Millionen Arbeitsplätze.

Emotionalität gegen politische Vernunft?

Söder wiederholt in diesem Zusammenhang seine Forderung, die Kernenergie auch in den nächsten Jahren weiterlaufen zu lassen. Er sei kein "Fetischist", aber man versorge durch die Atomkraftwerke Millionen Haushalte mit Strom. Das sieht auch Ökonomin Grimm so, die angibt, sich bei dem Thema inzwischen umentschieden zu haben und eine Verlängerung inzwischen ebenfalls zu befürworten.

SPD-Chef Klingbeil dürfte von derlei Gedankenspielen wenig halten. Er betont stattdessen, dass es Deutschland vermeiden müsse, die Wettbewerbsfähigkeit seiner Unternehmen zu gefährden und durch eine abwandernde Industrie als Folgeerscheinung schlussendlich autoritäre Regime wie China zu stärken. Peking hält nach wie vor zu Moskau und mausert sich langsam aber sicher zu einem der wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Verbündeten Russlands. Auf die vehement vorgetragenen Einwürfe der Grünen-Politikerin Beck, die das Leid der Ukrainerinnen und Ukrainer in der Diskussion hervorhebt, entgegnet Klingbeil, er könne sich bei politischen Entscheidungen nicht emotional treiben lassen.

Der stellvertretende Chefredakteur der "Welt", Robin Alexander, hält ihm und auch dem zugeschalteten Söder daraufhin vor, dass die Regierung 2014/15 mit politischen Fehlentscheidungen Deutschland erst in die aktuelle Misere getrieben habe. Damals seien Raffinerien und Speicherkapazitäten an russische Unternehmen verkauft worden. Und zwar zu einem Zeitpunkt, "als die erste Welle dieses Krieges schon lief", sagt der Journalist mit Blick auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die Ostukraine. Deutschland habe sich in den Jahren, in denen Putin aufgerüstet habe, in Sachen Energie mehr von Russland abhängig gemacht.

"Wir reden über altes Zeug von der NVA"

Es geht bei Anne Will aber nicht nur um Energie, sondern auch um Waffen. Immer wieder beklagen Vertreterinnen und Vertreter der Ukraine, die Bundesrepublik liefere zu wenige. Der Chef der Kanzlerpartei will sich bei der Angelegenheit nicht zu tief in die Karten schauen lassen. Klingbeil versichert, Deutschland liefere mehr, als öffentlich bekannt sei. Das findet in der Talkrunde wenig Anklang.

Laut Marieluise Beck liefert Deutschland nicht das, was die Ukraine an Waffen fordert - "und es bleibt zu spät zu wenig". Journalist Alexander spitzt zu: "Wenn die Ukraine nur die Waffen hätte, die Deutschland geliefert hätte, dann hätte Putin schon gewonnen." Mit Blick auf die jüngst publik gewordenen Schützenpanzer stellt er zudem heraus: "Wir reden über altes Zeug von der NVA."

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Für die engagiert argumentierende Beck ist klar, in den kommenden Tagen müssen entscheidende Schritte sowohl bei der Waffenausrüstung als auch der Embargo-Frage von der Bundesregierung gegangen werden. Über die derzeitige Politik Berlins sagt sie: "Die Bitterkeit in der Ukraine und die Enttäuschung über die Deutschen ist kaum zu fassen."

Der Druck, zu handeln, sei groß. Schon jetzt gebe es massive Zerstörungen in der Ukraine. In den nächsten zwei bis drei Jahren werde von dem Land nichts mehr übrig sein, sagt Beck. Putin sei fähig, gesamte Landstriche zu zerstören und sei zu allem bereit, "wenn wir uns dem nicht entgegenstellen". Die frühere Bundestagsabgeordnete mahnt: "Wir sollten langsam mal ernst nehmen, was Putin sagt."

Quelle: ntv.de

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