Abhängigkeit von Russland Schlachtet die Heilige Kuh Atomausstieg!
31.03.2022, 10:22 Uhr
Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel besuchte am 26. August 2010 das Atomkraftwerk Lingen. Zu diesem Zeitpunkt war sie noch eine Anhängerin der Kernenergie.
(Foto: picture alliance / dpa)
Deutschland füllt Tag für Tag Putins Kriegskasse, kauft bei arabischen Diktatoren und winkt eine Aufstockung der Braunkohle durch. Auch die dreckigste und klimaschädlichste Lösung erscheint akzeptabel, nur um nicht über Atomkraft nachdenken zu müssen. Ein Umdenken ist nötig.
Wer hat unser Land in jene fatale Abhängigkeit von Russland gebracht, aus der wir uns nun versuchen herauszuwinden? Die Wahrheit ist: Alle etablierten Parteien tragen Mitverantwortung für das heutige deutsche Energiesystem, das nicht krisenfest ist - und es aus technischen Gründen nie sein konnte. Denn die Systemfehler wurden bereits eingebaut, als die Energiewende im Jahr 2000 von der rot-grünen Koalition unter Kanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer eingeleitet wurde.
Systemfehler Nummer 1 war die fast manische Fixierung der Energiepolitik auf die Abschaffung der CO2-armen Atomkraft, die einmal 30 Prozent der deutschen Stromversorgung bestritt. Hätte man damals entschieden, auf diesem Sockel die Erneuerbaren Energien auszubauen, wäre Deutschland heute beim Ziel der Bundesregierung für 2030: 80 Prozent des Stroms kämen dann aus klimafreundlichen Quellen. Stattdessen ist die Atomkraft systematisch abgeräumt worden. Begründet wurde das mit ihrer "Gefährlichkeit". Doch in siebzig Jahren deutscher Kernenergienutzung ist noch nie ein Mensch aus der Zivilbevölkerung durch die Anlagen zu Schaden gekommen.
Systemfehler Nummer 2 lag in der spezifischen Struktur der deutschen Erneuerbaren Energien: Gebaut wurden überwiegend Anlagen, die wetter- und tageszeitabhängig produzieren, nämlich Windkraft und Photovoltaik. Fachleute sprechen hier von "nicht gesicherter" Leistung. Solche Erzeuger brauchen entweder einen Backup-Kraftwerkspark oder Speichertechnologien, welche erzeugungsschwache Zeiten absichern. Und damit sind wir bei Systemfehler Nummer 3: Die Verantwortlichen ließen die Speicherproblematik fast zwei Jahrzehnte lang links liegen. Stattdessen wurde der heimischen Braunkohle und russischem Erdgas Vorrang eingeräumt.
Einer der größten Fans des Atomausstiegs dürfte Wladimir Putin gewesen sein, denn der Abschied der Bundesrepublik von der Kernenergie bescherte Gazprom, dem Kronjuwel der mafiösen russischen Rohstoff-Ökonomie, satte Einnahmen aus Deutschland. Während Putin Krieg für Krieg bombte, bemächtigte sich Gazprom Vertrag für Vertrag mehr als der Hälfte des deutschen Gasmarktes, Speicherinfrastruktur inklusive. Schröder schloss mit Putin, dem "lupenreinen Demokraten", eine Männerfreundschaft und wurde Fossilfunktionär in seinem Gazprom-Reich.
Merkel vs. Wissenschaft
Angela Merkel, die einst als "Klimakanzlerin" antrat, schien zunächst einen anderen Weg einzuschlagen. Sie fädelte mit ihrer schwarz-gelben Koalition 2010 eine Laufzeitverlängerung für die Kernkraftwerke ein. Doch dann machte sie einen folgenschweren Fehler. Als ein Jahrtausend-Erdbeben mit Tsunami im überfluteten japanischen Kernkraftwerk Fukushima Daiichi drei Reaktorkerne schmelzen ließ, folgte Merkel nicht der Wissenschaft, sondern einer kollektiven - wenn auch falschen - Risikowahrnehmung. Die Kanzlerin schaltete in einer Kurzschlusshandlung die heimische Atomkraft ab, bevor sie überhaupt über Unfallanalysen verfügte.
Das Ergebnis ist bekannt: Acht Reaktoren mussten sofort vom Netz, weitere neun mit einem Ausstiegsplan, der Ende 2022 vollendet sein soll. Die Kanzlerin hörte nicht auf die Fachleute, die feststellten, dass ein Unfallverlauf wie in Fukushima in deutschen Anlagen aus Gründen ihrer Flutabsicherung und Notstromauslegung nicht möglich sei. Die Kernkraft ging - und ihre Rolle übernahm die gesicherte Leistung aus Kohle und Gas.
Nach dieser Fehlentscheidung ist es Deutschland weder gelungen, seine Klimaziele zu erreichen, noch hat es in seine Energiesicherheit investiert. Auch unter Merkel wurde unsere Abhängigkeit von russischen Energieträgern vergrößert. Die Pipeline Nord Stream 2 hatte in der Kanzlerin dieselbe gute Fürsprecherin wie vorher im Putin-Buddy Schröder. Die Autorin dieses Beitrags war im Juni 2019 im Saal, als der damalige NRW-Ministerpräsident Armin Laschet auf einem Festakt des "Petersburger Dialogs" Russland als Wunschpartner der deutschen Energiewende feierte.
2022: Die Rechnung wird präsentiert
Die Rechnung für diesen Pakt wurde uns im Februar 2022 präsentiert, als der Überfall Russlands auf die Ukraine die "Zeitenwende" der frisch gekürten rot-gelb-grünen Regierung einläutete. Dieser Krieg setzt alle unter Schock. Er reiht Zivilisationsbruch an Zivilisationsbruch, vom Flächenbombardement gegen Wohnviertel und der Beschießung von Flüchtlingskonvois bis zum Angriff auf ein Atomkraftwerk. Doch bevor wir uns überhaupt orientieren konnten, waren die Ampel-Koalitionäre schon wieder auf Posten, mit einer neuen Erzählung über die deutsche Energiewende: Mit erneuerbaren "Friedens- und Freiheitsenergien" wäre das nicht passiert.
Doch leider gibt es eine Verbindungslinie zwischen dem friedlichen deutschen Windrad und dem russischen Panzer vor dem ukrainischen AKW - und das ist die Pipeline, ohne die das Windrad keine gesicherte Stromversorgung garantieren kann. Das hat die Regierung längst zugegeben: In ihrem kurz vor Kriegsausbruch verabschiedeten Konzept war ein satter Ausbau der Gaskraft vorgesehen.
Nun müssen die russischen Leitungen gekappt werden, und wir stehen vor der bangen Frage: Woher kommt Ersatz? Die betriebsfähigen Kernkraftwerke - drei noch am Netz, drei im Nachbetrieb - könnten über zehn Prozent der deutschen Stromversorgung stemmen. Wenn man sie ließe! Strom wird verdammt knapp werden in den nächsten Jahren. Denn die Bundesregierung will das im Wärmemarkt eingesetzte russische Erdgas einsparen, indem es die Wohnungsheizung elektrifiziert. Auch müssen wir russische Kraftwerkssteinkohle ersetzen. Wir werden also jede Megawattstunde brauchen - vor allem, wenn sie aus gesicherter und klimafreundlicher Leistung stammt. Kernenergie liefert beides.
Heilige Kuh Atomausstieg
Noch sträubt sich die Bundesregierung. Ihr Prüfvermerk verwirft eine AKW-Laufzeitverlängerung als risikoreich und unnütz. Ihm ist die Handschrift grüner Funktionäre anzumerken, die sich schon in der Vergangenheit als stramme Atomgegner erwiesen haben. Stattdessen begibt sich Robert Habeck auf Gas-Einkaufstour bei arabischen Diktatoren und winkt eine Aufstockung für die Braunkohle durch. Auch die dreckigste und klimaschädlichste Lösung erscheint akzeptabel, nur um nicht über Atomkraft nachdenken zu müssen.
Der deutsche Fachverband Kerntechnik hat den Prüfvermerk seinerseits gecheckt und viele Fehler und Unkorrektheiten aufgedeckt. Auch die Betreiber würden mitziehen - wenn das Signal von oben käme. Habeck fehlt der Mut zum Befreiungsschlag, denn der würde die Anti-Atom-Altvorderen bei den Grünen in Rage versetzen. Doch laut Umfragen würde eine Laufzeitverlängerung von der Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen. Für Verzagtheit ist in Notstandszeiten kein Platz. Die Heilige Kuh Atomausstieg sollte geschlachtet werden - je eher, desto besser.
Dr. Anna Veronika Wendland ist Osteuropa-Expertin und Technikhistorikerin. Am 31. März ist im Quadriga-Verlag ihr Buch: "Atomkraft, ja bitte! Energiekrise und Klimawandel: Wie Kernkraft uns jetzt retten kann" erschienen.
Quelle: ntv.de