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Ex-Offizier im Interview "Ein Kampfjet-Abschuss hilft nur für ein bis zwei Tage"

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Eine F-16 der US-Luftwaffe (Archivbild). Oleksij Melnyk sieht bisher keinen Hinweis, dass der Kampfjet bereits in der Ukraine im Einsatz ist.

Eine F-16 der US-Luftwaffe (Archivbild). Oleksij Melnyk sieht bisher keinen Hinweis, dass der Kampfjet bereits in der Ukraine im Einsatz ist.

(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)

Der ukrainische Militärexperte Oleksij Melnyk sieht die Ukraine aktuell in der "aktiven Defensive". Vorerst gehe es darum, "den Schaden kleinzuhalten", sagt er im Interview mit ntv.de. Der Ausbau der Verteidigungsstellungen nach dem Rückzug aus Awdijiwka läuft nach seinen Informationen nicht gut genug. Es gebe den Verdacht, "dass man mit dem Aufbau von einigen Stellungen zu spät begonnen hatte und dass sich nicht alle davon in gutem Zustand befinden".

ntv.de: Herr Melnyk, der ukrainische Präsident Selenskyj, der ja auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist, hat vor einigen Wochen nicht nur Armeechef Saluschnyj ersetzt. Auch insgesamt findet ein großer Umbau in der Führung des Generalstabs sowie bei den Kommandeuren von Truppengattungen statt. Wie bewerten Sie all diese Veränderungen?

Oleksij Melnyk ist Oberstleutnant a.D. der ukrainischen Armee und Co-Direktor der Programme der internationalen Sicherheit an der Kiewer Denkfabrik Zentr Rasumkowa. Zwischen 2005 und 2008 war Melnyk erster Berater des ukrainischen Verteidigungsministeriums.

Oleksij Melnyk ist Oberstleutnant a.D. der ukrainischen Armee und Co-Direktor der Programme der internationalen Sicherheit an der Kiewer Denkfabrik Zentr Rasumkowa. Zwischen 2005 und 2008 war Melnyk erster Berater des ukrainischen Verteidigungsministeriums.

(Foto: Zentr Rasumkowa)

Oleksij Melnyk: Was man zunächst mit Blick auf Saluschnyj sagen muss: Es ist gut, dass der Wechsel zumindest recht zügig passiert ist, nachdem Ende Januar erste starke Gerüchte kursierten. Weil die Personalentscheidung unausweichlich zu sein schien, wäre es für die gesamte Befehlskette schlecht gewesen, hätte man die Auswechslung stark hinausgezögert. Gerade bei riskanten Befehlen hätte dies zu deren Nichterfüllung aus Vorsicht führen können - denn man hätte ja nicht gewusst, ob derjenige, der die Befehle gegeben hat, morgen oder übermorgen noch in Verantwortung sein würde. Ansonsten muss man einerseits sagen, dass der Öffentlichkeit keine konkreten Gründe für die Saluschnyj-Entlassung gesagt wurden. Dass man einen Zwang zur Erneuerung spürte, taugt als umfassende Erklärung nicht. Andererseits ist eine solche Veränderung absolut das Recht des Präsidenten - und es ist gut, dass sie letztlich von der Bevölkerung ruhig aufgenommen wurde. Der Präsident übernahm die volle Verantwortung dafür und das sollte auch so sein.

Und der weitere Umbau an der Armeespitze?

Dass zusammen mit dem Befehlshaber beispielsweise der Leiter des Generalstabs und andere Kommandeure ausgetauscht werden, ist üblich und war so zu erwarten. Die Armee ist kein ziviles Ministerium, wo Leute aus dem Nichts völlig unerwartet auf Führungspositionen gesetzt werden. Hier kommt niemand aus dem Nichts. Bei den Menschen, die jetzt Verantwortung übernehmen, handelt es sich um eine Mischung aus Erfahrung und aus jüngeren Brigadegenerälen mit konkreter Fronterfahrung. All diese Leute sind aber bekannt und genießen in Fachkreisen einen guten Ruf. Die Idee hinter den jüngeren Brigadegenerälen ist, dass sie unter den Bedingungen fehlender Ressourcen die vorhandenen Mittel besser dorthin verteilen können, wo sie gerade gebraucht werden - weil sie die Front sehr gut kennen. Ob das funktioniert, weiß ich nicht. Denn ohne Ressourcen kann man eh nicht wahnsinnig viel ausrichten.

Es soll eine neue Truppengattung für Drohnen entstehen. Formell wurde sie noch nicht gegründet, doch der neue Befehlshaber Olexander Syrskyj hat einen Stellvertreter, Wadym Sucharewskyj, der für Drohnen verantwortlich sein soll. Eine spannende Entwicklung?

Es ist definitiv eine interessante und gute Idee, die zum modernen Krieg sehr gut passt. Ich bin grundsätzlich ein großer Befürworter. Wo man trotzdem aufpassen muss: Diese Truppengattung muss vor allem Möglichkeiten für den Einsatz der Drohnen bei der Armee schaffen. Das würde so auch den NATO-Standards entsprechen. Es geht um Beschaffung, um Ausbildung, um Strategien des Einsatzes. Die konkrete Nutzung an der Front muss aber von den existierenden Einheiten übernommen werden. Wir werden sehen, wie das umgesetzt wird.

Kommen wir zur strategischen und taktischen Lage an der Front. Die Ukraine musste die Stadt Awdijiwka im Bezirk Donezk verlassen und befindet sich auch generell in der Defensive. Kann man davon sprechen, dass 2024 für die Ukraine das Jahr der aktiven Defensive sein wird?

Dass es sich in diese Richtung entwickelt, ist schon seit Längerem offensichtlich. Eine Prognose für das ganze Jahr würde ich mir zwar nicht zutrauen. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass die Ukraine die russischen Ressourcen abnutzen und in drei bis sechs Monaten zu lokaleren, wenn auch nicht größer angelegten Offensivaktionen übergehen kann. Die Strategie der aktiven Defensive sieht ohnehin lokale Angriffe vor. Doch vorerst geht es ganz klar darum, den Schaden kleinzuhalten.

In den ukrainischen Medien gibt es viele Spekulationen zur Qualität der aufgebauten Verteidigungsstellungen hinter Awdijiwka. Was können Sie dazu sagen?

Was ich von meinen Quellen, vor allem von Menschen vor Ort und von ihren Kameraden höre, ist leider nicht immer positiv. Tatsächlich gibt es den Verdacht, dass man mit dem Aufbau von einigen Stellungen zu spät begonnen hatte und dass sich nicht alle davon in gutem Zustand befinden. Ich bin aber natürlich selbst nicht dort und wir werden es ohnehin erst dann beurteilen können, wenn es klar ist, wo sich die Ukrainer gefestigt haben.

Seit Monaten halten die ukrainischen Truppen das Dorf Krynky auf dem russisch kontrollierten Ufer des Flusses Dnipro im Bezirk Cherson. Was ist der Sinn dieser Operation?

Auch hier bleibt es ganz schwer, dies zu beurteilen. Krynky als eine Art Aufmarschgebiet zu nutzen, scheint in absehbarer Zeit unrealistisch. Politische Gründe schließe ich aus. Was jedoch stimmt, ist die Tatsache, dass die Russen sehr viel Technik und Kräfte bei dem Versuch verlieren, die Ukrainer aus Krynky zu verdrängen, da die ukrainische Armee die Russen vom anderen Ufer aus effektiv mit Artillerie und Drohnen beschießt. Das könnte der Sinn dahinter sein. Doch ganz breit kann ich das immer noch nicht einschätzen.

Die Ukrainer melden derzeit fast täglich den Abschuss von russischen Flugzeugen, teilweise aus großer Entfernung. Russland hat gleich zwei teure Frühwarnflugzeuge der Klasse A-50 verloren. Was sagt das aus?

Der Verlust von zwei A-50, von denen Russland weniger als zehn hat, ist gravierend und wird dafür sorgen, dass die russische Armee die Ukraine weniger genau mit Raketen und Marschflugkörpern beschießen kann. Das ist wichtig. Doch wäre die Behauptung sehr relativ, dass die Ukraine sehr viele Flugzeuge abgefangen hat. Ganz so viele sind es nicht - und man muss im Hinterkopf behalten, dass der Abschuss eines Flugzeugs nur für ein bis zwei Tage die Lage an einem konkreten Frontabschnitt entschärft, was etwa den russischen Beschuss mit Gleitbomben anbetrifft. Die Ukraine braucht weiterhin viel mehr Flugabwehrsysteme, die sie mit einem gewissen Risiko in Frontnähe einsetzen kann. Was bisher passiert, befindet sich eher im Bereich vereinzelter Sonderoperationen und als im Bereich Systematik.

Sie glauben nicht, dass schon Kampfflugzeuge F-16 in der Ukraine sind?

Ich habe bisher keinen Hinweis gesehen, der darauf auch nur ansatzweise hindeuten würde.

Was sagen Sie zu den Worten des französischen Präsidenten Macron, der den Einsatz westlicher Bodentruppen in der Ukraine nicht ausschließen möchte?

Nun, stellen wir uns mal vor, eine Reihe von Staaten würde Macrons Vorschlag akzeptieren. Dann ginge es konkret um die Frage, wie viele Brigaden gerade Frankreich, welches der Ukraine monatlich ganze 3000 Artilleriegeschoss zur Verfügung stellt, in den Krieg schicken würde. Diese Frage ist natürlich rhetorisch - und ich glaube auch nicht, dass ausländische "troops on the ground" überhaupt im Interesse der Ukraine wären. Man kann Macrons Aussagen aber auch als Aufruf betrachten, mehr zu tun, um eben die potenzielle Notwendigkeit des Truppeneinsatzes im Voraus zu verhindern. Meine persönliche Meinung ist, dass es sich um kein aktuelles Thema handelt. Wenn wir über ausländische Soldaten sprechen, kann es nicht nur um diese "troops on the ground" gehen. Der Einsatz westlicher Aufklärungsflugzeuge über dem Schwarzen Meer ist auf eine gewisse Art und Weise ohnehin schon eine Kriegsbeteiligung. Und ich fände es gut, wenn man das sogenannte Air Policing betreiben würde: Man könnte durchaus allein zum Zweck der eigenen Sicherheit, aber auch aus humanitären Gründen, Ziele abschießen, die sich in der Nähe der westlichen ukrainischen Grenze bewegen. Dass russische Drohnen und Raketen über das Territorium der Nachbarländer der Ukraine fliegen, passiert doch ab und zu. Das wäre wichtig und davon würden beide Seiten profitieren.

Hat Bundeskanzler Scholz recht, wenn er sagt, dass Munition das Wichtigste ist, was die ukrainische Armee jetzt braucht?

Munition ist definitiv etwas, was der Ukraine fehlt und was man dringend bräuchte. Sie ist die allerwichtigste Priorität. Die Artillerie kann man nicht komplett mit First-Person-View-Drohnen ersetzen, das funktioniert so nicht. Jedoch ist das Munitionsdefizit kein Grund, um beispielsweise den Marschflugkörper Taurus nicht zu liefern. Bei der Munition geht es um vor allem um den dringend notwendigen den Ausgleich der Möglichkeiten. Doch um Gebiete zu befreien, braucht man neue Qualitäten, zu denen eben der Taurus gehört. Ganz klar orientiert sich Scholz bei solchen Fragen an den Amerikanern. Insgesamt wäre es mir aber ohnehin deutlich lieber, wenn man die Lieferung erst nach dem ersten Einsatz verkünden würde, wie die Briten das mit Storm Shadow gemacht haben. Das Paradigma der riesigen politischen Diskussionen über solche Fragen ist ein Luxus der Friedenszeit. Am besten macht man sowas unter Geheimhaltung.

Stellen wir uns mal vor, in diesem Jahr gäbe es keine US-Hilfe für die Ukraine. Was würde das konkret bedeuten?

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Die Antwort ist klar: Das wäre das Gegenteil einer wünschenswerten Situation. Die Ukraine wird, ähnlich wie schon ein paar Mal in diesem Krieg, Zeitgewinn gegen den Verlust von gewissen Territorien tauschen müssen. Und auf diesen Territorien werden sich die Russen ähnlich eingraben können, wie ihnen das im Süden vor der ukrainischen Offensive gelungen ist. Das verheißt nichts Gutes.

Mit Oleksij Melnyk sprach Denis Trubetskoy

Quelle: ntv.de

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