Kriegsverbrechen vor 80 Jahren Ein deutsches Massaker in Italien - und seine späte Aufarbeitung
24.03.2024, 15:20 Uhr Artikel anhören
Bereits am Freitag gedachte Italien, hier Präsident Sergio Mattarella, der Opfer des Massakers.
(Foto: AP)
Vor 80 Jahren erschossen deutsche SS-Truppen 335 Menschen, vor allem Italiener. Das Massaker in den Ardeatinischen Höhlen ist heute ein Symbol für die deutsche Besetzung des Landes im Zweiten Weltkrieg. Doch die Aufarbeitung begann erst Jahrzehnte später, angestoßen durch Journalisten.
Das Massaker war eine Racheaktion der Deutschen. Am 23. März 1944 waren insgesamt 34 SS-Polizisten durch eine Partisanen-Bombe in der Via Rasella in Rom gestorben. Nur einen Tag später verübte die SS blutige Rache, mit der größte Einzelerschießung jüdischer Italiener im Zweiten Weltkrieg. Für Italien ist der Massenmord an 335 Menschen in den Ardeatinischen Höhlen noch heute ein Tag der tiefen Trauer. Es gibt keine Italienerin und keinen Italiener, der beim Klang der Worte Fosse Ardeatine, den Karst-Höhlen an der Via Ardeatina außerhalb Roms, nicht an deutsche Barbarei denkt.
Das Massaker ist in Italien das Symbol schlechthin für die deutsche Besatzungszeit Italiens, der insgesamt 70.000 Zivilisten zum Opfer fielen. 20.000 davon wurden bei verschiedenen Massakern erschossen. Viele Menschen überlebten zudem die Verschleppung nach Deutschland nicht, oder sie starben - wie die 1023 jüdische Bürger Roms, die am 16. Oktober 1943 festgenommen wurden - im Konzentrationslager Auschwitz. Nur 16 von ihnen kamen lebend nach Rom zurück.
In diesem Jahr nimmt die deutsche Staatsministerin Claudia Roth in Rom am Gedenken zum 80. Jahrestages des Massakers teil. Zuerst besucht sie den Ort der Gräueltat selbst, danach das Ghetto in Rom, wo 75 jüdische Einwohner abgeholt worden waren, um auf die von der SS geplante Anzahl von 330 italienischen Opfern zu kommen.
Vielen Deutschen ist die unrühmliche deutsche Vergangenheit in Italien nicht bewusst, auch die Orte sind vielen nicht bekannt. Die größten Opferzahlen gab es - neben den Ardeatinischen Höhlen - in der Gegend um den Ort Marzabotto bei Bologna und die dortige Hügelgruppe Monte Sole mit 770 Toten zwischen dem 29. September und 1. Oktober 1944. Dem Massaker von Sant'Anna di Stazzema fielen am 12. August 1944 insgesamt 394 Menschen zum Opfer. Es gab das Massaker von Fivizzano mit etwa 400 Toten zwischen Mai und September 1944 und jenes am Padule di Fucecchio am 23. August 1944, wo 174 Menschen ermordet wurden. Hinzu kommen die vielen Opfer der SS in und um Genua, 249 Opfer in vier verschiedenen Massenerschießungen von Zivilisten, befohlen vom damaligen SS- und SD-Kommandanten Siegried Friedrich Engel.
SS-Offizier verzählt sich - mehr Menschen sterben
Der Anlass für das Massaker in den Ardeatinischen Höhlen war ein Bombenanschlag italienischer Partisanen auf eine Einheit des dritten SS-Polizeiregiments aus Bozen in der zentralen Via Rasella. Sie hatten einen Handkarren mit einer 18-Kilogramm-Bombe präpariert und beim Vorbeimarsch gezündet. 34 SS-Männer starben, der letzte am Morgen des Folgetages, Dutzende wurden verletzt. Es war der zahlenmäßig größte Einzelverlust, den die SS durch einen Angriff von Partisanen in Italien erlitten hatte. Auch zwei italienische Zivilisten kamen ums Leben.
Roms SS- und SD-Chef, Obersturmführer Herbert Kappler, organisierte über Nacht die Racheaktion. Für jeden toten SS-Mann sollten 10 Italiener sterben - zu diesem Zeitpunkt waren es 33. Am Ende waren es noch fünf mehr, weil der zuständige SS-Offizier sich "verzählt" hatte, wie er später erzählen würde. Sie waren "Sühneopfer" - ein Nazi-Ausdruck für unschuldige Opfer, die mit dem Anschlag nichts zu tun hatten.
Die SS leerte dazu ihr eigenes Gefängnis in der Via Tasso von "Partisanen-Verdächtigen" und politischen Gegnern des Regimes und bat den Polizeipräsidenten Roms, Pietro Caruso, um die Überstellung weiterer Opfer, normaler Insassen des römischen Stadtgefängnisses Ara Coeli. Der italienische Faschist ging den Deutschen bereitwillig zu Hand. Jeder, der in den Händen der deutschen Besatzer und ihrer italienischen Helfer war, kam als "Sühnegefangener" für solche Massaker in Frage.
Am Ende fehlten aber immer noch 75 Personen, um auf die befohlene Opferzahl zu kommen. Also nahmen SS und italienischen Polizei 75 Juden fest, die "sowieso dem Tode geweiht waren". Alle Opfer wurden in den frühen Morgenstunden gefesselt in die Höhlen gebracht. Um den SS-Leuten mit gutem Beispiel voranzugehen, schossen Kappler und seine höheren SS-Offiziere Erich Priebke, Karl Hass, Carl-Theodor Schütz und Hans Clemens die ersten Gruppen eigenhändig ins Genick. Nach dem Massaker wurden die Höhlen gesprengt, erst nach der Befreiung Roms durch die Alliierten am 5. Juni 1944 konnten die Opfer geborgen werden.
Urteile, aber keine Aufklärung
Noch heute haben Mussolini-Nostalgiker ein Problem mit der aktiven Rolle der italienischen Faschisten bei dem Massaker. Ignazio Benito La Russa, der Präsident des italienischen Senats und damit zweithöchster Repräsentant der Republik, kritisierte 2023 den Anschlag der Partisanen auf die SS, weil es sich dabei nur um eine "Musikgruppe älterer Herren" gehandelt habe. "Eine klare Geschichtsfälschung", nannte das der deutsche Historiker Lutz Klinkhammer. "Dieses Polizeiregiment gehörte zur SS und war Teil des deutschen Unterdrückungsapparates währen der Besatzungszeit."
Nicht besser machte es die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Sie gedachte der Opfer, die man ermordet habe, "nur weil sie Italiener waren". Auch wieder falsch: Von den 335 Opfern waren 9 nachweislich keine Italiener, sondern Polen, Ukrainer und auch 2 Deutsche. Sie wurden nicht ermordet, weil sie Italiener waren, sondern weil sie von den Besatzern als Gegner angesehen wurden. Doch Meloni hat ein Problem: Sie kann das Wort "Faschisten" nicht aussprechen und schon gar nicht "Antifaschisten". Schließlich begann sie ihre politische Karriere einst in der Jugendorganisation der postfaschistischen MSI.
Einige der für das Massaker verantwortlichen Täter kamen direkt nach dem Krieg vor Gericht. Polizeipräsident Caruso wurde bereits am 21. September 1944 für seine Beteiligung zum Tode verurteilt und einen Tag später erschossen. SS-Offizier Kappler wurde in Rom zu lebenslanger Haft verurteilt und saß mehr als zwei Jahrzehnte in der Festung Gaeta. 1977 gelang ihm die Flucht aus dem Militärkrankenhaus Celio in Rom, er starb im Folgejahr in Soltau. Neben Kappler saß der SS-Offizier Walter Reder in Gaeta ein. Er war für das Massaker von Marzabotto und andere Massenmorde verurteilt worden. Er kam 1985 als letzter Gefangener per Gnadenerlass frei.
SS-Hauptmann Erich Priebke gelang 1946 die Flucht. Mithilfe des deutsch-katholischen Bischofs von Rom, Alois Hudal, gelangte er über Genua nach Südamerika. Ungeachtet eines nie aufgehobenen internationalen Haftbefehls lebte er unbehelligt in Argentinien, in Bariloche. Er bekam eine Rente aus Deutschland, unter seinem echten Namen.
Priebke in Argentinien aufgespürt
Priebke löste auch die intensive Aufarbeitung des Massakers aus, aber erst viel später: 1994, als der amerikanische Journalist Sam Donaldson ihn in Argentinien aufspürte. Im Interview gab der Deutsche unumwunden zu, selbst "zwei, drei Opfer" eigenhändig erschossen zu haben. "Es war ein Befehl", sagte er. Er gestand zudem, die Liste der Todgeweihten zusammengestellt zu haben. Aufgrund der Hektik habe er sich verzählt. Deutschland gestatte seine Auslieferung, er kam in Rom vor Gericht. 1999 wurde Priebke in Rom zu lebenslanger Haft verurteilt, er starb 2013 als Hundertjähriger im römischen Hausarrest.
Priebkes Aussagen rissen alte Wunden wieder auf, wühlten ganz Italien auf. Plötzlich wurde klar, dass die allermeisten Massaker zwischen 1943 und 1945 niemals richtig aufgeklärt worden waren. Das Land hatte Ende der 50er-Jahre politisch und juristisch mit ihnen abgeschlossen, 1961 schloss die italienischen Militärstaatsanwaltschaft alle Fälle, sie wurden "provisorisch" archiviert. Das war eine Rechtsbeugung, denn Mord verjährt auch in Italien nicht. Nur in einem einzigen Fall - dem Massaker von Caiazzo - wurden 1988 Ermittlungen aufgenommen, nachdem Dokumente dazu aufgetaucht waren. Der deutsche Wehrmachts-Leutnant Wolfgang Lehnigk-Emden wurde 1994 zu lebenslanger Haft verurteilt.
Im selben Jahr, nach Priebkes Überführung nach Rom, begann die Suche nach den alten Ermittlungsakten. Man fand einen Aktenberg von 2274 Ordnern zu Kriegsverbrechen, von denen 695 Mordfälle betrafen. "Schrank der Schande" wurden diese Akten genannt. Sie waren der Behörde wohl bekannt, aber niemand interessierte sich für die ungelösten Verbrechen. Die Ordner gingen an die zuständigen Staatsanwaltschaften Italiens, aber bis auf einen Prozess in Turin 1999 gegen Obersturmbannführer Friedrich Siegfried Engel, kamen die Ermittlungen nicht voran.
Die Wende brachte erneut eine journalistische Recherche: Am 11. April 2002 wurde im ARD-Magazin "Kontraste" eine investigative Reportage mit Interviews ehemaliger SS-Männer ausgestrahlt. Beteiligt an der Recherche waren der RBB-Journalist René Althammer, der Historiker Carlo Gentile sowie der Autor dieses Textes. Dabei bekannte sich ein ehemaliger SS-Unteroffizier, Albert Meier, zur Beteiligung am Massaker von Marzabotto. Auch der ehemalige SS-Leutnant Gerhard Sommer trat auf - er sollte sich als einer der Hauptverantwortlichen des Massakers von Sant'Anna di Stazzema herausstellen.
"Wir wollten immer nur Gerechtigkeit"
Dass so viele Täter noch lebten, hatte die italienische Öffentlichkeit nicht erwartet. Wenige Tage nach der Ausstrahlung des Berichtes übernahm ein neuer Staatsanwalt in La Spezia, Marco de Paolis, die Ermittlungen. So konnten ab 2004 noch etwa 80 Verantwortliche für viele der Massaker in Italien vor Gericht gestellt werden. "Wir wollten nie Rache, wir wollten immer nur Gerechtigkeit für unsere Angehörigen", sagte dazu Enio Mancini, einer der Überlebenden von Sant'Anna.
Aus der Reportage entstand das "Täterprojekt" von Historiker Gentile und dem Autor dieses Artikels. Das Projekt beschäftigt sich mit den Biographien der Täter - und suchte nach ihnen. Heute stellt es sich neue Fragen: Wie wird man Massenmörder? Was treibt diese Menschen an? Was führt dazu, dass Menschen Zivilisten quälen und töten? Fragen, die angesichts der russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine und des Hamas-Massakers am 7. Oktober 2023 an israelischen Zivilisten wieder aktuell geworden sind.
"Aus den Biographien der Täter in Italien wissen wir, dass die allermeisten dieser Menschen keine 'Monster' sind, sondern Menschen aus der Mitte der Gesellschaft", sagt Gentile dazu. "Viele der hochrangigen Täter hatten sogar eine akademische humanistische Ausbildung, nach dem Krieg engagierten sich einige in der Politik, niemand ahnte mehr etwas von deren Beteiligung an der Ermordung von zumeist Frauen, Kindern und Wehrlosen."
Erschreckend hoch ist auch die Zahl der Mittäter bei den Massakern. In Italien waren zwischen 1943 und 1945 insgesamt etwa 600.000 deutsche Soldaten von Wehrmacht, SS, Luftwaffe und Marine im Einsatz. "Von diesen haben sich etwa fünf Prozent an den Massakern beteiligt, waren mit ihren Einheiten direkt an der Ermordung von rund 10.000 Zivilpersonen beteiligt", sagt Gentile. 30.000 Deutsche haben sich damit entweder direkt an den Massakern beteiligt oder wussten zumindest, was ihre Einheiten getan hatten. Eine ähnliche Anzahl italienischer Soldaten verübten Massaker an den eigenen Landleuten und in anderen Ländern. Kein Wunder, wenn man in Italien wie im Nachkriegsdeutschland einen "Schlusstrich" unter die Kriegsverbrechen ziehen wollte. Dass heute der Opfer des Massakers in den Ardeatinischen Höhlen gedacht wird, ist da ein gutes Zeichen. Auch wenn die Aufarbeitung sehr lange brauchte.
Quelle: ntv.de