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Experte zu Bauernprotesten Kreml-Propaganda sieht Deutschland am Vorabend der Revolution

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Traktoren in Deutschlands Innenstädten: Bauernproteste liefern starke Bilder, mit welchen die russische Propaganda ihre Thesen veranschaulichen kann.

Traktoren in Deutschlands Innenstädten: Bauernproteste liefern starke Bilder, mit welchen die russische Propaganda ihre Thesen veranschaulichen kann.

(Foto: picture alliance/dpa)

Auf Deutschlands Straßen protestieren Landwirte gegen Subventionskürzungen. Zeitgleich streiken Lokführer für bessere Arbeitsbedingungen. Beides Aktionen, die in einer Demokratie dazugehören. Doch in der russischen Berichterstattung werden sie als ein angeblicher Befreiungskampf des deutschen Volkes gegen eine von den USA eingesetzte Marionettenregierung dargestellt. Obwohl solche Berichte mit der Realität nichts zu tun haben, gehen sie auch an der deutschen Bevölkerung nicht spurlos vorbei, wie Historiker Alexander Friedman im Interview sagt. "Man will die Menschen, die ohnehin prorussisch eingestellt sind, dazu animieren, sich an Protesten gegen die Regierung zu beteiligen", sagt der Osteuropa-Experte ntv.de.

ntv.de: Die seit Montag andauernden Bauernproteste sorgen in Deutschland für kontroverse Diskussionen und scharfe Regierungskritik. Ist das ein gefundenes Fressen für die Kreml-Propaganda?

Alexander Friedman: Auf jeden Fall. Das ist ein Thema, das die russische Propaganda gerne ausnutzen möchte, um ihre Narrative sowohl in Russland selbst als auch in Deutschland zu verbreiten. Das betrifft nicht nur die Bauernproteste, sondern auch den GDL-Streik. Die Kreml-Propaganda bringt den Arbeitskampf der Lokführer mit den Bauernprotesten in Verbindung, um zu zeigen, dass sich Deutschland angeblich in einer akuten Krisensituation befindet, dass die Lage sich dramatisch verschlechtert, dass Deutschland möglicherweise vor einem Umbruch, sogar vor einem Regierungssturz, einer Revolution steht. Und was für die russische Seite ganz wichtig ist: Die Proteste liefern starke Bilder, mit welchen sie ihre Thesen veranschaulichen kann.

Alexander Friedman wurde 1979 in Minsk geboren. Der promovierte Historiker lehrt Zeitgeschichte und Osteuropäische Geschichte an der Universität des Saarlandes und an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Alexander Friedman wurde 1979 in Minsk geboren. Der promovierte Historiker lehrt Zeitgeschichte und Osteuropäische Geschichte an der Universität des Saarlandes und an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Sie haben gesagt, der Kreml wolle seine Narrative auch in Deutschland verbreiten. Wie soll das funktionieren?

Das funktioniert über russische Medien, die auch in Deutschland rezipiert werden, aber auch über diverse Telegramkanäle. Es gibt eine Reihe von durchaus einflussreichen russischen beziehungsweise prorussischen Aktivisten, die diese Narrative verbreiten. Beispielsweise der deutsche Blogger Thomas Röper oder Alina Lipp, die in Russland leben. Es gibt auch russlandfreundliche Aktivisten, die in Deutschland leben, wie etwa Sergej Filbert oder Aleksander Sosnowski. Die haben ihr Publikum in Deutschland. Das sind zum Teil russischsprachige Bevölkerungsgruppen, aber diese Propaganda wird auch auf Deutsch verbreitet. Man will die Menschen, die ohnehin prorussisch eingestellt sind, dazu animieren, sich an Protesten gegen die Regierung zu beteiligen.

Also Menschen, die mit Bauern und der Landwirtschaft möglicherweise nichts zu tun haben?

Überhaupt nichts. Die russische Seite versucht, das Ganze sehr vereinfacht darzustellen. Die These, die aus Russland kommt, ist: Die wirtschaftliche Situation in Deutschland verschlechtere sich sehr stark. Schlimmer gehe es im Grunde genommen fast nicht mehr. Es wird von einer Krise in der Landwirtschaft, von einer Krise in der Industrie gesprochen. Es wird suggeriert, dass die deutsche Industrie und der deutsche Sozialstaat bald verschwinden würden. Gleichzeitig wird auch eine Erklärung geliefert: Schuld daran sei die Regierung, weil sie sich deutlich mehr um die Ukraine kümmere als um Deutschland. Es wird behauptet, dass die Ukraine-Hilfen maßgeblich dafür verantwortlich sind, dass sich die wirtschaftliche Situation in Deutschland eher verschlechtert, dass es den Lokführern schlecht geht, dass es den Bauern schlecht geht und so weiter.

Gleichzeitig wird unterschwellig behauptet - was ja überhaupt nicht stimmt -, dass die Menschen in Deutschland diese Woche auch gegen die Ukraine-Politik der Bundesregierung protestieren, dass sie etwa die Regierung stürzen wollen. Auf diese Weise werden Menschen mobilisiert, die mit Bauen oder Lokführern gar nichts zu tun haben. Sie sollen mit diesen Protesten sympathisieren und sie nach Möglichkeit unterstützen.

Kreml-Medien ziehen auch immer wieder Parallelen zur Maidan-Revolution von 2014, die die Ukraine aus Russlands Sicht in den Abgrund gezogen hat.

Ja, in diesem Zusammenhang wird oft der frühere russische Präsident Dmitri Medwedew zitiert. Er hat auf X geschrieben, die Lage in Deutschland sei wegen der Ukraine-Unterstützung katastrophal. Sollte es so weiter gehen, könnten die ukrainischen Nationalisten ihre "Waffe" - den Maidan - nach Deutschland "exportieren".

Bundeskanzler Scholz nannte Medwedew in diesem Post eine "beleidigte Leberwurst".

Das ist inzwischen ein Topos. Diese Aussage, die der frühere ukrainische Botschafter Andrij Melnyk in den Umlauf gebracht hat, wird aus dem Kontext gerissen. Medwedew versucht hier dem russischen Publikum einzureden, dass Scholz von der deutschen Bevölkerung so bezeichnet wird. Diese Redewendung hat im Russischen übrigens eine andere Bedeutung als im Deutschen: Im Russischen ist Leberwurst eher Hundefutter. Damit will man auch zeigen, dass Scholz von der Bevölkerung quasi als Abfall wahrgenommen wird. Klar, die Bevölkerung ist vielleicht wirklich unzufrieden mit Scholz - seine Umfragewerte sind miserabel, die Ampel wird kritisiert -, aber nicht auf dem Niveau, wie es von der russischen Seite behauptet wird.

Medwedew behauptet zudem, ukrainische Flüchtlinge seien allesamt Nationalisten und eine Gefahr für Deutschland. Spielt das Thema Geflüchtete eine große Rolle in der russischen Berichterstattung über die Bauernproteste?

Von der russischen Seite wird suggeriert, dass im Mittelpunkt der Proteste das Thema Ukraine stehe, dass die Menschen in Deutschland mit Ukraine-Flüchtlingen unzufrieden seien und diese abschieben wollten, dass alle wirtschaftlichen Probleme Deutschlands auf die Ukrainer zurückzuführen seien. Gerne wird auch Friedrich Merz mit seiner Einschätzung zitiert, dass die Einführung des Bürgergeldes für die Ukraine-Flüchtlinge vielleicht keine gute Idee war. Merz argumentiert, dass im Vergleich zu Polen oder den Niederlanden vergleichsweise wenige Ukrainer und Ukrainerinnen in Deutschland eine Beschäftigung haben. Die Russen haben das aufgegriffen, um zu zeigen, dass die Deutschen die Aufnahme der ukrainischen Flüchtlinge angeblich für einen Fehler halten. Diese Aussage von Merz wird verzerrt dargestellt und es wird verheimlicht, dass er gleichzeitig eine schnelle Lieferung von Taurus-Raketen an die Ukraine fordert. Das wird bewusst ausgeblendet.

Zum Thema Lokführer: In Deutschland sind Streiks nichts Außergewöhnliches. Dass Menschen für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen, gehört zur Demokratie dazu. Sehen Kreml-Medien darin wirklich einen Vorboten der Revolution?

Genau, in Russland wird darüber nach dem Motto "Deutschland wacht auf" berichtet. Es wird suggeriert, dass im ganzen Land spontan Proteste entflammt seien. Die Bauern hätten damit angefangen, dann hätten sich die Lokführer dem gemeinsamen Kampf angeschlossen. Und jetzt stellen die Kreml-Propagandisten die Frage: Wer kommt als Nächstes? Wie bei Verschwörungstheoretikern: Alles hängt miteinander zusammen.

Wie wird dabei die Bundesregierung dargestellt?

Die Ampel-Koalition und vor allem Scholz werden als Marionetten von US-Präsident Joe Biden dargestellt. Die deutsche Bevölkerung habe eine Regierung, die nie gewählt worden sei, die im Auftrag der Amerikaner eine volksfeindliche Politik betreibe - so die russische Argumentation. Und die Bevölkerung wolle bei diesem Kurs der Regierung nicht weiter mitmachen. Gleichzeitig wird Deutschland vermehrt als ein Polizeistaat dargestellt. Es wird behauptet, dass Demonstranten verfolgt werden, dass ihnen Festnahmen drohen. Es wird nicht nur suggeriert, dass Deutschland am Vorabend eines möglichen Umsturzes stehe - manchmal wird von einem Bürgerkrieg gesprochen. Also die Zustände werden sehr dramatisch dargestellt.

Menschen, die in Deutschland leben, wissen ja vermutlich, dass die russische Darstellung übertrieben oder falsch ist. Sollten uns diese Berichte nicht egal sein?

Wenn man sich in diesen deutsch-russischen Telegramkanälen, die zum Teil Zehn- und Hunderttausende Follower haben, die Kommentare anschaut, so kann man feststellen, dass viele der Follower in Deutschland leben und keine Bots sind. Wir haben also mit einem Phänomen zu tun, dass Menschen die Situation in Deutschland zwar mit eigenen Augen sehen, aber dennoch Informationen über Deutschland aus russischen Quellen übernehmen. Diese Propaganda geht, obwohl sie mit der Realität nichts zu tun hat, nicht an den Menschen in Deutschland spurlos vorbei.

Mit Alexander Friedman sprach Uladzimir Zhyhachou.

Quelle: ntv.de

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