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"Diese wilden Tiere" Lateinamerika stellt sich bei Israel-Krieg kreuz und quer

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Erstmal sortieren: Gipfel-Teilnehmer der Amerikas im Weißen Haus

Erstmal sortieren: Gipfel-Teilnehmer der Amerikas im Weißen Haus

(Foto: IMAGO/MediaPunch)

Eine einheitliche Position bei allen 33 Ländern Lateinamerikas zum Krieg im Nahen Osten wäre erstaunlich. Doch die Bandbreite ist riesig: von voller Solidarität mit Israel bis zu Verbündeten Irans. El Salvadors Präsident Bukele zieht Vergleiche zum Anti-Bandenkrieg im eigenen Land.

Eigentlich sollte es im Weißen Haus am Freitag um den "wirtschaftlichen Wohlstand der Amerikas" gehen. US-Präsident Joe Biden empfing Staatschefs und Außenminister aus Ländern der Region. Biden wollte insbesondere mit den südlichen Nachbarn über die Krisen reden, die Hunderttausende Flüchtlinge an ihre Grenze mit Mexiko treiben, und Lösungsansätze dafür diskutieren. Aber: Es ging auch um Israel und den Krieg im Nahen Osten, um die Terrorangriffe und den derzeitigen Feldzug gegen die Hamas im Gazastreifen.

Seit die Terroristen am 7. Oktober israelische Gemeinden angriffen und dabei etwa 1400 Menschen töteten, haben sich die Regierungen in Lateinamerika sehr unterschiedlich geäußert. Alles andere wäre bei 33 Staaten mit insgesamt rund 650 Millionen Einwohnern auch höchst überraschend. Manche Dinge haben weite Teile der Region gemeinsam. So herrscht aufgrund historischer Erfahrungen latente Skepsis gegenüber den USA und deren Absichten. Nur wenige Länder in Lateinamerika ergreifen deutlich Partei für Israel oder die Palästinenser.

Chiles Präsident Gabriel Boric und US-Präsident Joe Biden trafen sich am Rande des Gipfels zu zweit.

Chiles Präsident Gabriel Boric und US-Präsident Joe Biden trafen sich am Rande des Gipfels zu zweit.

(Foto: AP)

Der chilenische Präsident Gabriel Boric äußerte sich nach einem Vieraugengespräch mit Biden am Freitag in Washington so exemplarisch wie vielsagend: "Wir akzeptieren nicht, dass wir uns zwischen der einen und der anderen Seite entscheiden müssen." Boric verurteilte bei seinem USA-Besuch auf der einen Seite den Terrorangriff der Hamas "auf energischste Weise". Die Reaktion Israels nannte er aber zugleich "unverhältnismäßig", da internationales Recht verletzt würde. Die Vorgänge im Gazastreifen seien "schlicht inakzeptabel".

In Chile leben eine halbe Million Palästinenser, die größte Anzahl in einem Land außerhalb der arabischen Welt, und damit 2,5 Prozent der Bevölkerung. Der 37 Jahre alte Präsident Boric steht einem linken Bündnis vor, das versucht, sich von der früheren Außenpolitik und Orientierung an den USA zu emanzipieren. Das Land am Pazifik hat neben Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union, den Vereinigten Staaten und mit China auch viele weitere mit einzelnen Ländern sowie einer Pazifik-Allianz. Anders gesagt: Politische Neutralität ist gut fürs Geschäft. Trotzdem hat Chile nach dem Angriff auf Dschabalia seinen Botschafter in Israel zu Beratungen nach Santiago zurückgerufen. Ein symbolischer Protest. Und die anderen Staaten?

Argentinien etwa, wo 300.000 Menschen jüdischen Glaubens leben und damit die größte jüdische Gemeinschaft Lateinamerikas, hatte den Angriff der Hamas auf Israel umgehend aufs Schärfste verurteilt; das israelische Volk habe die volle Solidarität des argentinischen. Am Donnerstag fügte das Außenministerium hinzu, Israel habe zwar das Recht auf "legitime Verteidigung", aber "nichts rechtfertigt die Verletzung des internationalen Menschenrechts und der Verpflichtung, die Zivilbevölkerung zu schützen." Die Diplomaten verurteilten den israelischen Angriff auf das Flüchtlingslager Dschabalia in Gaza.

Brasilien hat derzeit den Vorsitz des UN-Sicherheitsrates und brachte im vergangenen Monat eine Resolution ein. Darin wurden alle Seiten dazu aufgerufen, sich an internationales Völkerrecht zu halten, humanitäre Hilfe für Gaza gefordert und der Angriff der Hamas als "abscheulicher Angriff" verurteilt. Die USA legten ihr Veto gegen die Resolution ein. Präsident Lula da Silva sagte, es sei "irrational, dass Kriege geführt werden, bei denen es Frauen, Alte und Kinder sind, die sterben". Nach Argentinien leben in Brasilien die meisten Menschen jüdischen Glaubens in Lateinamerika.

Mexiko, vom linken Andrés Lopez Obrador regiert, stellt sich ebenso wenig auf eine Seite: "Wir wollen keine Partei ergreifen, weil wir Teil einer friedlichen Lösung sein wollen", sagte er. Nach dem Terrorangriff der Hamas versuchte das mexikanische Außenministerium den direkten Kontakt mit den Terroristen aufzunehmen. In einer Mitteilung betonte es Israels Recht auf Selbstverteidigung, verurteilte aber zugleich den Einsatz von Gewalt - "unabhängig davon, von wem sie ausgeht". Mexiko spricht sich für eine ganzheitliche Zwei-Staaten-Lösung aus, die den Konflikt endgültig beenden soll.

Der Präsident von El Salvador, Nayib Bukele, konzentrierte sich auf die Rolle der Hamas. "Diese wilden Bestien vertreten die Palästinenser nicht", schrieb Bukele, der palästinensische Wurzeln hat, im Oktober. Das Beste wäre, die Hamas würde "komplett verschwinden". Der umstrittene Staatschef führt im zentralamerikanischen Land einen eisenharten Kampf gegen die Bandenkriminalität wie der MS13, wobei er es mit den Menschenrechten nicht so genau nimmt. "Es wäre so, als hätten sich die Salvadorianer auf die Seite der MS13 geschlagen, nur weil wir Vorfahren oder Nationalität teilen." Die Palästinenser sollten "diese Tiere" loswerden und "die guten Menschen gedeihen lassen".

Kritisch gegenüber Israel positionierte sich Kolumbiens Präsident Gustavo Petro, der erste linke Staatschef in der Geschichte des Landes. Zum Angriff der Hamas im Oktober hatte er geschwiegen. Dann verstrickte sich der frühere Guerillero in unhaltbare Vergleiche wie den von Konzentrationslagern und israelischen Angriffen auf Gaza. "Es zeigt, dass er den Terrorismus unterstützt", polterte der Sprecher des israelischen Außenministeriums über Petro. Dessen Aussagen seien "feindselig und antisemitisch". Israel werden seine Waffenlieferungen nach Kolumbien aussetzen. Petro antwortete: "Wir unterstützen keine Völkermorde. Den Präsidenten Kolumbiens beleidigt man nicht." Nachdem die Angriffe auf Dschabalia bekannt geworden waren, rief Petro seinen Botschafter in Israel zu Beratungen zurück in die Heimat. "Wenn Israel das Massaker am palästinensischen Volk nicht stoppt, können wir nicht dort sein", begründete er den Schritt.

Inzwischen berief auch Honduras seinen Botschafter zurück. Die honduranische Regierung habe angesichts der "gravierenden humanitären Lage" der palästinensischen Zivilbevölkerung im Gazastreifen Botschafter Roberto Martínez aus Israel für "Konsultationen" einberufen, erklärte Außenminister Enrique Reina im Online-Netzwerk X (vormals Twitter).

Fraglos auf der Seite der Palästinenser stehen Kuba, Nicaragua und Venezuela. Alle drei sind wichtige Verbündete des Iran. Sie haben den Terrorangriff der Hamas nicht verurteilt, und zugleich mit Iran mehrere Dinge gemeinsam: Sie sind äußerst USA-kritisch, autokratisch regiert, und internationale Organisationen beschuldigen sie wegen Menschenrechtsverstößen. Iran, Kuba und Venezuela gehören zu den fünf meist sanktionierten Ländern der Welt. Sie pflegen zudem gute Beziehungen mit China und Russland. Der Einfluss des Iran in Venezuela ist groß, seit der frühere linke Staatschef Hugo Chávez nicht zuletzt wegen der USA-kritischen Haltung beider Länder den Schulterschluss mit der Islamischen Republik gesucht hatte.

Irans Präsident Ebrahim Raisi (links) war im Juni für Staatsbesuche in der Region - hier bei Nicolás Maduro (Mitte) in Caracas.

Irans Präsident Ebrahim Raisi (links) war im Juni für Staatsbesuche in der Region - hier bei Nicolás Maduro (Mitte) in Caracas.

(Foto: REUTERS)

Irans seit 2021 amtierendem Präsidenten Ebrahim Raisi war es bei seinem ersten Besuch in der Region im Juni vor allem darum gegangen, die "strategischen" Verbindungen in der Region zu stärken. "Unsere Position und die dieser drei Länder ist, sich gegen den Imperialismus und Unilateralismus zu stellen", sagte Raisi über Kuba, Nicaragua und Venezuela. Der Iran steht ebenso klar auf der Seite der Palästinenser; so lesen sich auch die offiziellen Äußerungen seiner Verbündeten in Lateinamerika. Kuba und Nicaragua stellten Forderungen in deren Sinne, ohne die Terrorangriffe der Hamas zu erwähnen.

Venezuelas Regierung forderte am Tag des Angriffs der Hamas sogleich "echte Verhandlungen" beider Seiten und zeigte sich "tief besorgt". Dem palästinensischen Volk sei es nach internationalem Recht unmöglich, seine "historischen Rechte" durchzusetzen, hieß es aus der Hauptstadt Caracas. Deshalb sei es zur Eskalation gekommen. Präsident Nicolás Maduro sprach im Zusammenhang mit der militärischen Antwort Israels im Gazastreifen auch von "Völkermord" und "Apartheid". Israel erkennt Maduro nicht als Präsident an. Die diplomatischen Beziehungen zu Israel hatte der Staatschef als damaliger Außenminister unter Chávez wegen der Eskalation des Nahostkonflikts in den Jahren 2008 und 2009 gekappt. Stattdessen nahm Caracas offizielle Beziehungen mit den Palästinensern auf.

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Das ist eine Extremposition, so wie die Boliviens. Zwischen 2009 und 2020 unterhielten Bolivien und Israel ebenfalls keine diplomatischen Beziehungen. Die konservative Ex-Präsidentin Jeanine Añez versuchte das Verhältnis zu kitten, aber inzwischen sitzt sie wegen der Vorkommnisse rund um ihre Machtübernahme 2019 im Gefängnis. Nach dem Terrorangriff der Hamas rief die nun wieder linke Regierung zur Deeskalation der Gewalt auf, ohne den Terror zu verurteilen. Wegen des Angriffs auf Dschabalia kündigte das Land an, seine diplomatischen Beziehungen zu Israel abzubrechen, forderte "das Ende der Angriffe gegen das palästinensische Volk" und kritisierte Israels "feindseligen" Umgang mit humanitären Hilfsorganisationen im Gazastreifen.

Die Bandbreite der Positionen in der Region ist also riesig. Von voller Solidarität Argentiniens oder Uruguays, "der Sicherheit Israels verpflichtet", bis zum Abbruch diplomatischer Beziehungen oder direkter Schuldumkehr wie im Falle Venezuelas.

Quelle: ntv.de

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