Politik

"Nicht mehr dieselbe Welt" Scholz stimmt auf großen Konflikt mit Russland ein

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(Foto: picture alliance/dpa)

In einer historischen Sitzung des Deutschen Bundestags demonstrieren die Abgeordneten ihre Solidarität mit der überfallenen Ukraine. Kanzler Scholz zeigt sich entschlossen, Putins imperialen Ambitionen zu begegnen - und bricht dafür mit alten Gewissheiten.

Zum ersten Mal in der langen Geschichte des Deutschen Bundestags kommen die Abgeordneten an einem Sonntag zusammen. "Wir haben Krieg in Europa", sagt Parlamentspräsidentin Bärbel Bas in ihren Eröffnungsworten. Das ist der Anlass der von Bundeskanzler Olaf Scholz erbetenen Sitzung, das ist der Grund, warum auch fast alle Abgeordnetensitze besetzt sind. Viele Mandatsträger, vor allem die Frauen, tragen Blau und Gelb - die Farben der Ukraine. Bevor es losgeht, wird wie üblich viel geredet im Plenarsaal, es ist aber ein erkennbar ernsthafter Austausch. Niemand lacht. Alle Abgeordneten werden seit dem Wachwerden mehrfach Nachrichten über den Kriegsverlauf auf ihrem Handy geprüft haben.

Der erste emotionale Moment lässt nicht lange auf sich warten, er scheint den Männern und Frauen im Plenarsaal ein Bedürfnis zu sein: Minutenlang applaudieren sie stehend dem ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk, es ist ein Applaus, der seinem Land gilt. Der neben Melnyk auf der Gästetribüne sitzende frühere Bundespräsident Joachim Gauck schließt den Botschafter in die Arme. Noch vor wenigen Tagen galt Melnyk nicht wenigen Abgeordneten als etwas dreist und nervig mit seinen permanenten Forderungen nach Waffenlieferungen. Die bekommt die Ukraine nun doch. Die am Samstagabend bekannt gewordene Entscheidung bedeutet eine Zäsur der deutschen Außen- und Waffenexportpolitik.

"Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor", sagt Scholz über den vergangenen Mittwoch, als der russische Präsident Wladimir Putin "kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen hat". Deutschland müsse "die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen". Und: "Er stellt sich damit ins Abseits der internationalen Staatengemeinschaft." Russland habe nur durch das eigene Veto eine Resolution gegen den Angriffskrieg im UN-Sicherheitsrat verhindern können. "Was für eine Schande", betont Scholz.

Scholz räumt eine lange Debatte ab

"Wie Sie wissen, hat Deutschland gestern entschieden, dass Deutschland der Ukraine Waffen zur Verteidigung des Landes liefern wird", sagt Scholz. "Auf diese Aggression konnte es keine andere Antwort geben." Er zählt die umfangreichen Wirtschafts- und Finanzsanktionen gegen Russland auf. "Machen wir uns nichts vor: Putin wird seinen Kurs nicht über Nacht ändern. Doch schon sehr bald wird die Führung um Putin spüren, dass sie einen sehr hohen Preis bezahlt." Der Applaus in den Regierungsfraktionen ist da noch groß.

Doch an dieser Stelle macht Scholz nicht halt. Die Bedrohung gehe weit über die Ukraine hinaus: Wer Putins Schriften und Reden kenne und, wie er selbst, mit Putin gesprochen habe, "der kann keinen Zweifel mehr daran haben: Putin will ein russisches Imperium errichten". Deutschland müsse sich daher fragen, welche Fähigkeiten es brauche, um der russischen Herausforderung zu begegnen: "Wir werden dafür ein Sondervermögen Bundeswehr einrichten", kündigt Scholz an. "Der Bundeshaushalt 2022 wird dieses Sondervermögen einmalig in Höhe von 100 Milliarden einrichten."

Deutschland werde künftig Jahr für Jahr mehr als 2 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben, sagt Scholz. Er räumt damit eine lange Debatte ab, denn auch SPD und Grüne haben sich gegen dieses mit der NATO schon vor Jahren vereinbarte Ausgabenziel lange nach Kräften gewehrt. Entsprechend zurückhaltend ist der Applaus in der Grünen-Fraktion. Nein, dies sei kein Kosovo-Moment für die Grünen, sagt die neue Vorsitzende Ricarda Lang ntv.de. Die Geschlossenheit in ihrer Partei sei groß, auch in der Frage der Waffenlieferungen. Dennoch müsse die Partei "alte Gewissheiten neu debattieren". Dazu dürfte auch gehören, dass Scholz ankündigt, bewaffnete Drohnen und neue Kampfjets zum Verbleib in der atomaren Teilhabe anschaffen will. Beides ist in Teilen von SPD und Grünen umstritten.

Nicht nur Russland hat die Wehrhaftigkeit der Ukrainer unterschätzt

"Wir dürfen die Ukraine nicht wehrlos dem Aggressor überlassen, der Tod und Verwüstung über dieses Land bringt", stimmt Außenministerin Annalena Baerbock Deutschland und wohl auch Partei ein. Eine veränderte Welt brauche eine veränderte Politik. Ihr Parteikollege Robert Habeck hatte schon im Frühjahr die Lieferung von "Defensivwaffen" an die Ukraine gefordert. Damals war er noch von Baerbock und anderen in der Partei zurückgepfiffen worden.

Weder Scholz noch Baerbock erklären den Zeitpunkt der Entscheidung für Waffenlieferungen, die die Bundesregierung in den ersten beiden Tagen des russischen Angriffskrieges noch abgelehnt hatte. "Der Krieg in der Ukraine weckt uns alle aus einem selbstgerechten Traum", sagt Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner. "Die Zeit der Vernachlässigung der Bundeswehr muss enden."

Putin habe die Wehrhaftigkeit des ukrainischen Volkes, seiner Armee und seines Präsidenten unterschätzt, konstatiert der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, der Sozialdemokrat Michael Roth im Gespräch mit ntv.de. Roth freut sich erkennbar über den Schwenk der Bundesregierung. Offenbar kam die Wehrhaftigkeit der Ukrainer nicht nur für die russische Führung überraschend. Die Bundesregierung konnte nur schwer zuschauen, wie sich die Ukrainer im Kampf gegen die Invasoren aufreiben und ihnen eine aktive Unterstützung verwehren.

Merz attackiert Putins "nützliche Idioten"

Diesen Kursschwenk trägt auch die größte Oppositionsfraktion mit, die von Friedrich Merz geführte Union: Sie unterstützt einen fraktionsübergreifenden Antrag, der nicht nur Russlands Angriffskrieg verurteilt, sondern auch die deutsche Reaktion von Sanktionen, diplomatischen Anstrengungen und gestärkter Abschreckung festschreibt. "Genug ist genug, das Spiel ist aus", donnert Merz in Richtung Moskau.

Doch der Schulterschluss hat Grenzen: "Ein Sondervermögen sind zunächst einmal neue Schulden", sagt Merz in Richtung Scholz. Wie diese finanziert werden sollten, darüber müsse geredet werden. Zugleich konstatiert auch Merz, dass die Bundeswehr den Anforderungen der Zeit nicht gerecht wird. "Wir sind in diesem Haus alle miteinander verantwortlich dafür, dass die Bundeswehr in diesem Zustand ist, in dem sie heute ist", empört sich Merz in Richtung SPD-Bank, als von dort auf die langjährige Verantwortung von CDU-Bundesministern für die Bundeswehr verwiesen wird. Lindner sichert ihm zu, die Koalition werde diese Debatte nicht rückwärtsgewandt führen. Er mahnt Merz aber auch, daraus keine Schulden-Debatte zu machen. Es gehe um "Investitionen in unsere Freiheit".

Merz nimmt sich auch Zeit, an die "Russlandversteher" in der SPD zu erinnern. Er nennt sie die "gutgläubigen Interessenvertreter" der russischen Führung. "Sie als nützliche Idioten zu bezeichnen, ist dann wohl noch die freundlichste Umschreibung dieses Treibens."

Es ist ein denkwürdiger Sonntag im Bundestag, aber bei aller Solidarität mit der Ukraine ist nicht mit einem neuen Verhältnis von Regierung und Opposition zu rechnen. Es wird spannend zu sehen sein, welche Ampelmaßnahmen im Ringen mit Russland die Union am Ende tatsächlich mitträgt.

Quelle: ntv.de

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