Was Pistorius an Schweden reizt So könnte die Wehrpflicht wiederkommen


Passt die schwedische Wehrpflicht auch für Deutschland? Einfach wird diese Entscheidung nicht. Pistorius gestern, auf dem Weg nach Skandinavien.
(Foto: picture alliance/dpa)
Alle werden befragt, viele werden gemustert und nur wenige tatsächlich eingezogen: Das schwedische Wehrpflichtmodell schöpft die Besten eines Jahrgangs ab. Verteidigungsminister Pistorius scheint es für Deutschland geeignet.
"Das schwedische Modell", Boris Pistorius hat es in Deutschland bekannt gemacht, seit er Ende letzten Jahres anklingen ließ, er liebäugle mit Schwedens Form der Wehrpflicht auch für die deutsche Truppe. Am Dienstag brach der Verteidigungsminister planmäßig nach Skandinavien auf, auch um sich dort die schwedische Wehrpflicht mal aus der Nähe anzuschauen. "Dass ich ein gewisses Faible für das schwedische Modell habe, daraus habe ich nie einen Hehl gemacht, weil es am Ende eben auch um Ressourcen geht, um Fragen wie: Wie könnte so etwas aufwachsen? Was ist Bestandteil?", sagte Pistorius vor seiner Abreise.
Hintergrund der Überlegungen des Ministers: Viele Sicherheitsexperten sehen die momentane Struktur, um Berufssoldaten für die Bundeswehr zu gewinnen, als nicht geeignet an für den deutlichen Aufwuchs, den das Verteidigungsministerium für die nächsten Jahre plant. Von derzeit 183.000 Soldaten will man bis 2031 auf 203.000 kommen, das jedoch bei einem durchschnittlichen Verlust von derzeit 20.000 Frauen und Männern pro Jahr. Das bedeutet: Damit die Truppe um 20.000 Soldaten wachsen kann, müssen in Wirklichkeit 40.000 neue dazukommen.
Das ist in den Augen vieler Fachleute auf rein freiwilliger Basis nicht zu leisten, auch wenn bereits eine Task Force begonnen hat, das Bewerbungsverfahren und auch den Dienst an sich um viele überholte, bürokratische Hemmnisse zu entschlacken.
Die alte Wehrpflicht ist keine Option
Es braucht also eine grundlegende Änderung. Die Wehrpflicht, wie sie bis zum Jahr ihrer Aussetzung 2011 in Deutschland galt, scheidet als Lösung aus. Denn wenn jetzt zu wenige Soldaten zur Verfügung stehen, hätte man mit der alten Wehrpflicht plötzlich viel zu viele. Bei Jahrgangsstärken um 700.000 Geburten würden selbst nach Ausschluss derjenigen mit Gesundheitsproblemen oder ohne deutschen Pass immer noch mehrere Hunderttausend übrig bleiben.
"Wenn von den verbleibenden 500.000 vielleicht 250.000 tatsächlich in die Bundeswehr gehen würden, dann wäre das ein Kontingent, das wir strukturell überhaupt nicht bearbeiten könnten", sagte der Sicherheitsexperte Carlo Masala schon im Dezember im Interview mit ntv.de. Weder die Ausbildungskompanien sind aus seiner Sicht vorhanden, noch Kasernen oder Material. "Diese Strukturen wieder aufzubauen, würde so viel Geld kosten, dass ich den dafür nötigen gesellschaftlichen Konsens nicht sehe", so Masala, der an der Universität der Bundeswehr in München forscht.
Schweden verpflichtet nur wenige jedes Jahrgangs
Die Herausforderung für Pistorius besteht also darin, ein Modell zu entwickeln, das deutlichen Aufwuchs absichert, ohne dass die Strukturen der Truppe aus allen Nähten platzen. Das schwedische Modell bietet da folgenden Mittelweg: Es lässt jedes Jahr sämtliche 18-Jährige - in Schweden sind das pro Jahr etwa 100.000 junge Leute - einen umfangreichen Fragebogen ausfüllen. Dort wird die Gesundheit abgefragt, die Schulausbildung, es kommen Fragen zur Persönlichkeit und auch zur Motivation, womöglich einen Wehrdienst abzuleisten.
Aufgrund der ausgefüllten Fragebögen wird etwa ein Drittel des Jahrgangs ausgewählt zu einer zweitägigen Musterung. Das schwedische Ziel liegt ab 2025 bei 8000 Wehrpflichtigen, die pro Jahr dazugewonnen werden. Dieses Ziel scheint mit dem Modell erreichbar, allerdings nicht auf rein freiwilliger Basis. Diejenigen, die für den Wehrdienst am besten geeignet scheinen, können auch zum Dienst an der Waffe verpflichtet werden.
Mit diesem Modell, das relativ wenige Leute eines Jahrgangs tatsächlich zum Wehrdienst verpflichtet, steigt die Anzahl der Soldaten in der Grundausbildung an, so bilanziert Jonas Hard af Segerstad, Verteidigungsattaché der schwedischen Botschaft in Berlin. Im Sicherheitsblog "Augen geradeaus" lobt er den Vorteil, dass die Leistungsprofile der mit dem Pflichtsystem Ausgewählten besser sind als die von Freiwilligen.
Die Besten kommen zur Truppe, bleiben aber selten
Die Ausgewählten stellten zugleich eine "Auslese" des Jahrgangs dar, von denen sich viele aufgrund ihrer Fähigkeiten auch für eine Offizierslaufbahn eignen. Für dieses Ziel, Kräfte für höhere Ränge zu rekrutieren, funktioniert das Modell aus Sicht des Schweden gut, "da es die dafür richtigen auswählt und ihnen einen Einblick in die Streitkräfte gibt, den sie sonst nie bekommen hätten", so Hard af Segerstad. Dies sorgt auch dafür, dass die Soldaten zunehmend aus allen Schichten der Gesellschaft kommen - ein positiver Faktor für die breite Verankerung der Truppe.
Nachteile sieht der Kapitän zur See allerdings auch beim schwedischen Modell: "Der Anteil der Grundausgebildeten, die sich nach der Grundausbildung weiter verpflichten, sinkt mit dem Pflichtsystem." Klingt logisch: Das schwedische Modell schöpft die Creme eines jeden Jahrgangs ab und bringt sie verpflichtend in die Armee. Doch nach Ableistung ihrer Wehrpflicht haben viele dieser jungen Leute andere Pläne. Freiwillige hingegen sind womöglich weniger geeignet für den Wehrdienst, bleiben ihm aber aus eigener Überzeugung länger treu. "Um junge Männer und Frauen zu gewinnen, die sich als Mannschaftssoldaten nach der Grundausbildung weiter verpflichten", sieht Hard af Segerstad das Modell seines Landes darum weniger geeignet.
Boris Pistorius bleibt nun die schwierige Aufgabe, die Strukturen des Modells auf die deutschen Jahrgangsstärken, aber auch auf die deutsche Haltung zur Bundeswehr zu übertragen. In Schweden, das bis vor wenigen Monaten noch kein Bündnispartner in der NATO war, ist das Bewusstsein stärker vorhanden, dass man sich als Land im Ernstfall verteidigen können muss, notfalls auch allein. Neben der Wehrpflicht gilt für alle knapp elf Millionen Schweden darum eine Heimatschutzpflicht, innerhalb derer die breite Bevölkerung zu Übungen einberufen werden kann, und eine allgemeine Dienstpflicht. Verteidigung wird verstanden als ein Zusammenspiel zwischen militärischen und zivilen Akteuren.
Der vermeintliche Nachteil, dass viele der "ausgelesenen" Wehrpflichtigen nach Grundausbildung und Wehrdienst dann doch einen anderen Weg einschlagen, muss für Deutschland kein Nachteil sein, wenn man es schafft, eine ausreichend große Anzahl an Soldaten zu rekrutieren. Denn neben den anvisierten 203.000 Bundeswehrsoldaten braucht Deutschland für die zukünftigen Jahre auch eine starke Reserve. Eine der einfachsten Lehren, die schon früh aus dem Ukrainekrieg gezogen werden konnten: Die wäre für die zweite und dritte Welle im Krieg entscheidend.
Hier hat Deutschland kaum etwas zu bieten, daher wären körperlich fitte und wehrdiensterfahrene junge Leute, die dann trotzdem IT-Entwickler, Tierärzte oder Designer werden, nur auf den ersten Blick ein Verlust. Sie könnten und müssten eine zahlenmäßig, aber auch mit Blick auf die Fähigkeiten schlagkräftige deutsche Reserve bilden. Ob es am Ende das "Modell Schweden" wird, ein anderes oder eine Mixtur aus fünf verschiedenen Strategien, wird zu entscheiden sein. Auch die Frage: "Reden wir nur über eine Wehrpflicht oder reden wir auch über eine Wehr- und Dienstpflicht?", wie Pistorius vor seiner Abreise sagte. "All das sind ja die Diskussionen, die wir jetzt erst beginnen zu führen, die wir aber führen müssen. Davon bin ich überzeugt."
Quelle: ntv.de