Inflationsrate bei 25 Prozent Ungarn steckt in der russischen Sackgasse
18.02.2023, 12:30 Uhr
Ungarn, hier Ministerpräsident Viktor Orban (rechts), unterhält seit vielen Jahren enge Beziehungen zu Russland und Wladimir Putin.
(Foto: picture alliance / AA)
Ungarn ist das Sorgenkind der EU, wenn es um eine einheitliche Position gegenüber Russland geht. Ministerpräsident Viktor Orban versucht sich an einer Doppelstrategie: Russland als engen Partner behalten, gleichzeitig die EU nicht vollends verprellen. Erfolgreich ist dieser Weg längst nicht mehr.
Geschlossen stellt sich die Europäische Union Russland entgegen. Die gesamte EU? Nein, ein Land schert seit Beginn der russischen Ukraine-Invasion immer wieder aus. Ungarn leistet Widerstand gegen die Sanktionen, bekommt noch immer große Mengen an Öl und Gas aus Russland, Ministerpräsident Viktor Orban präsentiert sich als Putin-Freund.
Vor einem Jahr war Ungarns Regierungschef als einer der letzten westlichen Politiker noch persönlich in Moskau, um sich mit Kreml-Machthaber Wladimir Putin zu treffen. Seinen Besuch bezeichnete Orban damals als "Friedensmission". Er lobte die "ausgezeichneten Beziehungen" zwischen NATO- und EU-Mitglied Ungarn und Russland und warb für "gegenseitigen Respekt".
Kurz danach griff Russland am 24. Februar die Ukraine an und schockte damit ganz Europa. Wohl auch Orban, der erst nichts dazu gesagt und dann mit Verzögerung ein eher halbherziges Statement in die Welt abgesetzt hat. Dabei hat er das Wort "Krieg" komplett vermieden. "Die Position von Ministerpräsident Orban zum Krieg wird maßgeblich durch seine Nähe zu Russland und Präsident Putin bestimmt. Am Anfang nannte Orban den Angriff sogar 'militärische Operation' und übernahm damit die russische Darstellung. In der Regierungskommunikation wurde dann die Maxime zentral, Russland und Putin nie direkt zu verurteilen", analysiert Ungarn-Expertin Sonja Priebus von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".
Ungarn hält guten Draht nach Moskau
Mittlerweile spricht auch Orban offiziell von Krieg, betont aber im selben Atemzug, dass es nicht Ungarns Krieg sei und man sich deshalb auch heraushalten werde. Auch ein Jahr nach der russischen Invasion will sich Orban unter keinen Umständen von seinem wichtigsten Rohstofflieferanten trennen. "Es wird zwar zugegeben, dass Russland die Ukraine angegriffen hat und somit die Aggression von Russland ausgegangen ist. Gleichzeitig zeigt Orban aber auch ein gewisses Verständnis, indem er argumentiert, dass die NATO und der Westen die Sicherheitsinteressen Russlands einfach missachtet hätten", so Politologin Priebus.
Dabei hatten sich Kritiker von Orbans Politik kurz nach Kriegsbeginn sogar Hoffnung gemacht, dass sich Ungarns Haltung gegenüber Russland ändern würde. Zwei Tage nach Russlands Einmarsch kündigte Orban an, dass er die EU-Sanktionen gegen Russland nicht blockieren will. Er hat ihnen dann beim Treffen der Staats- und Regierungschefs auch tatsächlich zugestimmt. Aber nicht ohne eine Ausnahmeregelung für sein eigenes Land herauszuhandeln. Ein echter Neustart der bisherigen Kreml-freundlichen Politik sieht anders aus.
Die Sanktionen gegen Russland bezeichnet Orban bei jeder Gelegenheit als Fehler, beklagt, dass Ungarn durch die Maßnahmen "ruiniert" werde. Orban zeigt nur ein Mindestmaß an europäischer Solidarität. Er verurteilt offiziell den Krieg und beteiligt sich an humanitärer Hilfe. Aber das war's dann auch.
Ungarn achtet penibel darauf, seinen guten Draht nach Moskau zu halten. Dazu gehört auch, dass Budapest keine Waffen an die Ukraine liefert, auch Waffentransporte aus anderen Ländern durch Ungarn lehnt Orban ab.
Orban hat Krieg "strategisch geschickt genutzt"
All das hat innenpolitische Gründe. Orban sieht sich als alleiniger Beschützer des ungarischen Volks. Im Parlamentswahlkampf voriges Jahr hatten er und seine Fidesz-Partei immer wieder der Opposition vorgeworfen, Ungarn in den Krieg hereinziehen zu wollen. Fidesz dagegen sei die "Partei des Friedens", welche die "Sicherheit Ungarns" gewährleiste. "Orban und seine Partei haben es tatsächlich geschafft, den Krieg in der Ukraine strategisch geschickt zu nutzen, um damit ihren Vorsprung gegenüber dem Oppositionsbündnis auszubauen. Orban und sein Team rissen eine Aussage von Oppositionsführer Peter Marki-Zay aus dem Kontext und stellten ihn als Kriegsbefürworter dar", berichtet Priebus im Podcast.
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Mit dieser Wahlkampftaktik waren Orban und seine Parteifreunde ziemlich erfolgreich. Fidesz gewann die Parlamentswahl deutlich vor der Allianz der Oppositionsparteien. 54 Prozent der Stimmen bekam die rechtsnationale Partei und hat im Parlament so viele Sitze, dass sie mit Zweidrittelmehrheit die Verfassung ändern kann.
Gestärkt von diesem "gewaltigen" Wahlsieg, arbeitet Orban seitdem noch enger mit Russland zusammen. Ungarn habe den "Wirtschafts- und Energiebeziehungen weiterhin Priorität eingeräumt und versucht, die Geschäfte wie gewohnt zu führen", hat die Politikwissenschaftlerin Zsuzsanna Vegh dem unabhängigen russischen Exilmedium Meduza kürzlich gesagt.
Zusätzliches Gas und russische Kredite für AKW
Orban erwirkte eine Ausnahme vom Öl-Embargo. Dann schloss Ungarn ein Abkommen mit Gazprom, um die Gasliefermengen zu erhöhen. Im September und Oktober flossen zusätzlich pro Tag 5,8 Millionen Kubikmeter russisches Gas nach Ungarn. Außerdem baut das Land weiter an seinem zweiten Atomkraftwerk, Paks II, das zum Großteil mit Krediten aus Russland finanziert wird.
Eine Putin-Marionette sei Orban deshalb aber noch nicht, sagt Expertin Sonja Priebus. "Ich sehe schon noch, dass Orban auch noch unabhängig von Wladimir Putin seine Meinung äußert und Entscheidungen trifft. Natürlich immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass alles, was er sagt und tut, nicht die Beziehung zu Russland gefährdet."
Das meiste Erdgas bekommt Ungarn noch immer aus Russland: 85 Prozent, beim Erdöl sind es 65 Prozent. Damit will Orban die Preise für die Verbraucher möglichst niedrig halten.
Brüssel friert Finanzhilfen für Ungarn ein
Gleichzeitig nutze Orban seine Beziehungen zu Moskau, um von der verhassten EU Zugeständnisse zu bekommen, wenn er sie braucht, sagte der Energieanalyst Nicholas Birman-Tricket zu Meduza. Ungarns Regierungschef hoffe, die wegen Korruptionsbedenken zurückgehaltenen EU-Milliarden zu bekommen. Das sei der einzige Grund dafür, weshalb Orban die Sanktionen gegen Russland zumindest teilweise unterstützt, berichten ungarische Medien.
"Auf der einen Seite steht natürlich dieses finanziell motivierte Interesse, in der EU zu bleiben und Zugang zu den Geldern zu haben. Auf der anderen Seite aber will Ungarn auch nicht die Verbindung zu Russland kappen", so Priebus bei "Wieder was gelernt". Alleine schon deshalb, weil Moskau für Ungarn auch eine Art "Versicherung" darstellen könne, sollte die EU den Geldhahn noch weiter zudrehen.
Diese Strategie hat zuletzt aber nicht mehr gut geklappt. Der Rat der EU hat mehr als die Hälfte der Finanzhilfen für Ungarn eingefroren. Außerdem beschlossen die 26 anderen EU-Staaten, die Hilfszahlungen für die Ukraine auch ohne Ungarn zu leisten. Brüssel will sich nicht erpressen lassen.
Lebensmittelpreise um 45 Prozent gestiegen
Das EU-Geld bräuchte Ungarn eigentlich dringend, um die Folgen der Inflation einzudämmen. Die Teuerungsrate lag im Dezember und Januar bei knapp 25 Prozent. Vor allem die Lebensmittelpreise sind deutlich gestiegen, durchschnittlich um 45 Prozent. Die Menschen zahlen auch mehr für Energie und Benzin - die acht Jahre geltende Preisobergrenze für Energie in Ungarn gibt es nicht mehr, auch die Obergrenze für Kraftstoffpreise wurde aufgehoben.
Ungarn wälzt die Schuld auf Brüssel ab. Die Sanktionen würden den europäischen Volkswirtschaften mehr schaden als Russland, sagte zuletzt der ungarische Außenminister Peter Szijarto. Zsuszanna Vegh kommt gegenüber Meduza zu einem anderen Schluss. Die Partnerschaft mit Russland bringe Ungarn momentan mehr Nachteile als Vorteile, beurteilt die Politikwissenschaftlerin.
Trotzdem geht Sonja Priebus nicht davon aus, dass sich an dieser Doppelstrategie auf absehbare Zeit etwas ändert. Was lange erfolgreich geklappt hat, wird aber immer schwieriger, je länger der Krieg in der Ukraine dauert: Russland als Partner zu behalten und die EU gleichzeitig nicht komplett zu verprellen. Ungarn befindet sich in der russischen Sackgasse.
"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein bisschen schlauer.
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Quelle: ntv.de