
Giffey kämpft um ihren Posten - die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus wird am 12. Februar wiederholt.
(Foto: REUTERS)
Die Regierende Bürgermeisterin von Berlin war jahrelang selbst in Neukölln politisch aktiv. Nun tut sie so, als sei das Phänomen jugendlicher Gewalt urplötzlich aufgepoppt. In Wahrheit ist die Sozialdemokratin eine Getriebene, die in eine Falle getappt ist, die sie sich selbst gestellt hat.
Die früh verstorbene Berliner Richterin Kirsten Heisig war maßgeblich an der Erfindung des "Neuköllner Modells zur besseren und schnelleren Verfolgung von jugendlichen Straftätern" beteiligt. Der Ansatz: Wenn Maßregelung auch bei kleineren Delikten auf dem Fuße folgt, die Buße von Sozialarbeit flankiert wird und Eltern einbezogen werden, gibt es bessere Chancen, dass die jungen Leute später nicht zu Kriminellen werden. Heisigs Buch "Das Ende der Geduld", das kurz nach ihrem Tod erschien, löste eine bundesweite Debatte aus.
Franziska Giffey muss den Inhalt gekannt haben. Das Buch erschien ebenso wie Thilo Sarrazins "Deutschland schafft sich ab" 2010 - dem Jahr, in dem die Sozialdemokratin erstmals Stadträtin (für Bildung) in Neukölln wurde. Fünf Jahre später wurde Giffey Bürgermeisterin von Neukölln - einer Berliner Gegend, die gern als "Problembezirk" bezeichnet wird, was mit Negativ-Schlagzeilen zu gesellschaftlichen Auswüchsen wie Frauenunterdrückung, Islamismus, Clan-Kriminalität und zuletzt den Krawallen in der Silvesternacht zu tun hat, die allerdings nur einen Teil der Realität abbilden.
Neukölln ist weder multikulturelles Bullerbü noch Hort des Bösen. "Wie kaum ein anderer eignet sich der Bezirk als Projektionsfläche für Kulturkämpfe", schrieb die "taz" vor einem Jahr absolut richtig. Giffey, inzwischen Regierende Bürgermeisterin von ganz Berlin, kennt Neukölln in allen Facetten. Schon deshalb erstaunt es, dass sie erst nach der Gewalt an Silvester die "Grenzen von Respektlosigkeit und Brutalität überschritten" sieht und in Erinnerung an Kirsten Heisig das "Ende der Geduld" verkündet, als habe sie soeben erfahren, dass es ab und an in Berlin zu Angriffen auf Einsatzkräfte von Polizei, Feuerwehr und Notfallmedizin kommt.
Prompt springt Giffey auf den Zug
Alles reine Show. In Wahrheit ist Giffey eine Getriebene, auf bestem Weg, in die Geschichte der Stadt als Kurzzeit-Bürgermeisterin einzugehen. Sie weiß, dass ihre Chancen auf Sieg bei der Wiederholungswahl am 12. Februar durch die Silvesternacht gesunken sind. Dabei ist die Sozialdemokratin nur in die Falle getappt, die sie sich selbst gestellt hat. Auf Stimmenfang war sie im Sommer 2021 mit dem Versprechen gegangen, eine Koalition der bürgerlichen Mitte zu bilden und das Hauptaugenmerk auf die innere Sicherheit zu legen. Herauskam ein Bündnis mit Grünen und Linken, denen "diskriminierungsfreie Sprache" durch die Polizei wichtiger ist als der Schutz selbiger vor Angriffen und Täteridentifizierung.
Grüne und Linke müssen ihren Kurs nicht korrigieren. Wer sie wählt, weiß, was er kriegt. Bei der Berliner SPD ist das nicht der Fall. Sie wird von der CDU, die sich im Aufwind befindet, getrieben - und prompt springt Giffey auf den Zug, den die Christdemokraten in Gang setzten. Das, was die Bürgermeisterin tut, ist im Grunde Populismus. Giffey hält nämlich nicht Kurs, sondern sendet an die Öffentlichkeit zum x-ten Mal ein Wir-haben-verstanden-Signal, als habe sie bisher nichts über Gewalt in Neukölln, nichts von Staatsfeindlichkeit unter Muslimen und nichts von Perspektivlosigkeit von Jugendlichen aus armen Familien mit und ohne Migrationshintergrund gewusst.
Als wären die Krawalle was völlig Neues
Plötzlich muss alles ganz schnell gehen, findet an diesem Mittwoch ein "Gipfel gegen Gewalt" statt, als sei die Stadt, die Giffey regiert, urplötzlich mit einem völlig neuen Phänomen konfrontiert, obwohl Polizisten berichteten, dass die Krawalle in der Silvesternacht des Vorjahres für sie persönlich nicht weniger schlimm gewesen seien. Die "unfassbare Respektlosigkeit gegenüber dem Staat und seinen Vertretern", die die SPD-Politikerin beklagt, ist in Berlin so alltäglich wie Parken in der zweiten Reihe. So zeigt Giffey genau das, wofür Politik heute zunehmend steht: nicht mehr proaktiv zu handeln, sondern immer nur zu reagieren, um zu retten, was - gefühlt oder tatsächlich - nicht mehr zu retten ist.
In Berlin wird über Jahre hinweg gestritten, ob Einsatzkräfte von Polizei und Feuerwehr Bodycams und Polizisten zudem "Elektroschocker" (Taser) erhalten sollen, obwohl sie seit Jahren regelrecht darum betteln. Ein nie endendes Modellprojekt jagt das andere, bevor Berlin entscheidet, auch wenn es längst genügend Erfahrungen im In- und Ausland damit gibt. Jetzt verkündete Innensenatorin Iris Spranger, wie Giffey Sozialdemokratin, "nicht den Probelauf mit 300 Geräten" abzuwarten. Dem "Tagesspiegel" sagte sie: "Wir brauchen jetzt 4000 Bodycams. Hätten wir das in der Koalition von Anfang an umgesetzt, so wie ich das gefordert habe, wären wir schon weiter."
Exakt so hört sich die Berliner SPD seit Jahren an, wenn es um die innere Sicherheit geht. Garniert wird das mit Forderungen nach Verboten von Feuerwerk und der Einrichtung von riesigen Zonen, in denen es nicht, falls der Verkauf erlaubt bleibt, angezündet werden darf. Weil die Politik vor einigen wenigen Gewalttätern kapituliert, sollen andere keinen Spaß mehr an Silvesterraketen haben. Kontrollieren soll das Ganze die Polizei, die Giffeys Koalition bei nächstbester Gelegenheit wieder im Stich lassen würde. Kein Wunder, dass der Glauben an die Politik verloren geht.
Quelle: ntv.de