Politik

Wahlkampfauftakt in Berlin Ist Franziska Giffey überhaupt rechtmäßige Bürgermeisterin?

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Am 12. Februar stimmen die Berliner erneut über ihr Abgeordnetenhaus ab.

(Foto: picture alliance/dpa)

Berlins Pannenwahl aus dem September 2021 ist ungültig. Möglicherweise sitzen im Landesparlament also seit anderthalb Jahren Abgeordnete, bei denen nicht immer klar ist, ob sie ordnungsgemäß gewählt wurden. Ihre Entscheidungen bleiben trotzdem wirksam - aus praktischen Gründen.

In Berlin dürfen Parteien ab sofort wieder Flyer und Rosen verteilen und viel zu viele Wahlplakate an Laternen aufhängen, denn am 12. Februar wird zum zweiten Mal binnen 18 Monaten über das Abgeordnetenhaus abgestimmt. Warum, ist bekannt: Den ersten Versuch im September 2021 hat die Hauptstadt verbockt. Fehlende Wahlzettel, geschlossene Wahllokale und viel zu lange Warteschlangen - die Pannenliste war so lang, dass das Landesverfassungsgericht zu Berlin die Abstimmung im vergangenen November für ungültig erklärte. "Es sind Fehler passiert, die nicht hätten passieren dürfen", erklärte anschließend auch die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey.

In seinem Urteil spricht das Gericht von "schweren systemischen Mängeln" in einer Zahl, die die Wahlen vom 26. September 2021 zu einem mutmaßlich einmaligen Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik machen. Im Berliner Parlament sitzen also seit anderthalb Jahren Menschen, bei denen nicht immer klar ist, ob sie ordnungsgemäß gewählt wurden, die aber trotzdem ihrer Arbeit nachgehen, als wäre nichts gewesen: Sie haben den Berliner Haushalt verabschiedet, das 29-Euro-Ticket beschlossen und auch Energiezuschüsse.

Durften sie das? Bleiben diese Entscheidungen wirksam? Ja, sagen das Berliner Verfassungsgericht und auch Staats- und Verfassungsrechtler Christian Pestalozza. "Ich verstehe die Frage danach, ob das Parlament überhaupt korrekt legitimiert ist", erklärt der Jurist von der Freien Universität Berlin im "Wieder was gelernt"-Podcast von ntv.de. "Aber Sie können die Entscheidungen des Parlaments einfach nicht rückabwickeln."

Rückabwicklung "praktisch unmöglich"

Die Berliner Richter haben ihr Urteil nach eigenen Angaben nicht leichtfertig getroffen. Sie wissen, dass die Wahlwiederholung ein Kraftakt wird, der Berlin viel Geld kostet. Es sei der weitestgehende Eingriff in den Bestand der Wahlen, der nur möglich gewesen wäre, heißt es im Urteil. Allerdings sehen die Richter keinen anderen Weg, die demokratischen Verhältnisse in Berlin wiederherzustellen. Und trotzdem haben alle Parlamentsentscheidungen Bestand.

Mit dieser Entscheidung folgen die Berliner Richter der ständigen Rechtsprechung. Der Bestandsschutz des Parlaments müsse mit der Schwere des Wahlfehlers abgewogen werden, hatte das Bundesverfassungsgericht in einer ähnlichen Entscheidung erklärt. Die Ungültigkeit der Wahl wirkt ex nunc: "Sie wirkt nicht in die Vergangenheit zurück, sondern in die Zukunft", erklärt Staatsrechtler Pestalozza.

Dem Juristen zufolge hat die Abwägung rein praktische Gründe. "Stellen Sie sich mal vor, eine Wahl wird nicht nur anderthalb, sondern zwei oder drei Jahre später für ungültig erklärt", erklärt er. Allein die finanziellen Folgen wären gigantisch, wenn alles rückabgewickelt werden müsste, sagt der Jurist. "Das ist praktisch unmöglich."

Der Bestandsschutz gilt damit nicht nur für Gesetze, sondern auch für Franziska Giffey. Denn ihre Wahl zur Regierungschefin war ebenfalls eine Entscheidung des Abgeordnetenhauses, selbst wenn dieses in seiner Zusammensetzung möglicherweise nicht den Wählerstimmen entspricht. "Auch für solche Wahlakte gilt, dass sie Bestand haben und nicht angetastet werden", sagt Pestalozza. Denn das Parlament wählte nicht nur Franziska Giffey zur Regierenden Bürgermeisterin, sondern traf zugleich viele andere Personalentscheidungen.

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Wären all diese Entscheidungen des Abgeordnetenhauses ungültig, wäre das Ausmaß immens. Denn dann wären auch alle Entscheidungen dieser gewählten Personen ungültig - und Berlin würde vollends im politischen Stillstand versinken, die Regierung und die Verwaltung wären praktisch lahmgelegt, wie Pestalozza erklärt: "Sie wären die ganze Legislaturperiode damit beschäftigt, die Folgen der rückwirkenden Ungültigkeitserklärung zu bewältigen."

Parlament muss sich zurückhalten

Das kleinere Übel ist somit, dass man das Wahldebakel in Teilen akzeptiert und getroffene Entscheidungen Bestand haben. In den allermeisten Fällen gilt das sogar für Entscheidungen, die das Abgeordnetenhaus nach dem Urteil des Landesverfassungsgerichts getroffen hat und noch treffen wird. Bis zur Wiederholungswahl im Februar kann es seine Arbeit fortsetzen, auch wenn der frühere Abgeordnete Marcel Luthe gegen das "nicht gewählte" und damit auch "nicht legitimierte" Parlament klagt.

Das Landesverfassungsgericht hat für die Übergangszeit nur eine vage Einschränkung formuliert: Die Abgeordneten sollen "das gebotene Maß an Zurückhaltung wahren" - ohne jedoch zu erklären, was das konkret bedeutet. Ein Fehler, meint Christian Pestalozza: "Das Gericht sollte so einen Satz nicht sagen, ohne mindestens ein Beispiel anzuführen", kritisiert der Verfassungsrechtler. Keiner wisse genau, wann das "gebotene Maß an Zurückhaltung" überschritten sei.

"Das Gericht hat den Finger gehoben und gesagt: Achtung, benehmt euch", erklärt der Jurist. "Es hat uns aber nicht mitgeteilt, welche Benimmregeln gelten."

Das Parlament darf und muss somit selbst abwägen, zu welchen Entscheidungen es noch berechtigt ist. Aus rechtlicher Sicht sind dies in jedem Fall alle Entscheidungen, zu denen es per Verfassung oder Gesetz verpflichtet ist, wie den Haushalt für das kommende Jahr. Außerdem darf und muss es über dringliche Angelegenheiten entscheiden, wie staatliche Hilfen in der Energiekrise oder Entlastungsangebote wie das 29-Euro-Ticket. Denn in diesen Angelegenheiten keine Entscheidung zu treffen, würde der Bevölkerung schaden.

Verfassungsrechtler Christian Pestalozza sieht aber eine klare Grenze. "Der Zweifelsbereich beginnt da, wo das Parlament keine Pflichten erfüllt, sondern selbst gestaltet", betont er. Dies betreffe solche Aufgaben, zu denen sich die Abgeordneten meist aus politischen Gründen angehalten fühlen. "Da könnte man sagen: Wartet doch bitte drei Monate und überlasst es einem eventuell neu zusammengesetzten Parlament."

Giffey kann nicht abgewählt werden

Die künftige Arbeit des Abgeordnetenhauses ist zwar gesichert, steht aber auf den wackeligen Beinen des Ermessens. Zudem muss die Verwaltung in kurzer Zeit eine neue - und dieses Mal fehlerfreie - Wahl organisieren. Landeswahlleiter Stephan Bröchler spricht von einer "Herkulesaufgabe", die Berlin 39 Millionen Euro kosten wird und damit dreimal so viel wie die Erstausgabe 2021. Weitere persönliche Konsequenzen wird all dies jedoch wahrscheinlich nicht mehr haben.

Die damalige Landeswahlleiterin Petra Michaelis ist zwar kurz nach dem Debakel zurückgetreten. Der damalige Innensenator Andreas Geisel, der die Rechtsaufsicht für die ordnungsgemäße Durchführung der Wahlen hatte, gehört als Bausenator noch immer der Berliner Landesregierung an. Einen Rücktritt lehnt er ab, weil er genauso wie die Regierende Bürgermeisterin Giffey sagt: Das Wahldebakel hat Berlin gemeinsam verursacht.

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Aussagen, die viele Wählerinnen und Wähler wütend machen. Dennoch können sie die beiden bei der Wiederholungswahl nicht automatisch abwählen: Die Legislaturperiode endet nicht mit dem zweiten Versuch, sie läuft einfach weiter. Franziska Giffey bleibt also trotz Wahldebakel auch nach dem 12. Februar definitiv im Amt. Es sei denn, sie tritt zurück - oder das neu zusammengesetzte Abgeordnetenhaus leitet ein Misstrauensvotum ein.

"Wieder was gelernt"-Podcast

"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein bisschen schlauer.

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(Dieser Artikel wurde am Montag, 02. Januar 2023 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de

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