Soziale Herkunft und Bildung Merz hat recht mit den "kleinen Paschas"
15.01.2023, 14:00 Uhr
Die Österreicherin Doris Unzeitig war von 2012 bis 2018 Rektorin der Berliner Spreewald-Grundschule im Berliner Stadtteil Schöneberg. Seit 2019 ist sie Leiterin einer Volksschule in Salzburg.
(Foto: Fotostudio Susi Graf)
Wer wie ich fast ein Jahrzehnt in Berlin als Lehrerin gearbeitet hat, staunt, dass Deutschland über die Wortwahl eines Politikers streitet und nicht darüber, wie man die vielen Probleme an Schulen löst. Es fehlt an Geld und geeignetem Personal.
Friedrich Merz hat es gewagt, Kinder und Jugendliche, die frech und renitent gegenüber Lehrerinnen und Lehrern auftreten, "kleine Paschas" zu nennen, und schon steht Deutschland Kopf. Über die Formulierung kann man diskutieren, genauso wie über den Begriff "Mini-Machos", den ich verwende. In jedem Fall hat der CDU-Vorsitzende den Nagel auf den Kopf getroffen und eine betrübliche Tatsache beschrieben. Es erstaunt mich, dass das Land nun über die Wortwahl streitet und nicht darüber, wie man die vielen Probleme an Schulen löst, die ich nur zu gut aus eigener Erfahrung kenne.
Ich war beinahe ein Jahrzehnt Lehrerin in Berlin, Leiterin der Spreewald-Grundschule direkt neben dem Schöneberger "Sozialpalast", einem Viertel voller Einwandererfamilien in sozialer Armut, mit Drogenhandel, Prostitution und Kriminalität. Hier offenbaren sich exemplarisch die Schwierigkeiten im deutschen Bildungssystem, in Schulen und bei der Integration. Es fehlt an Geld und geeignetem Personal.
Pöbeleien und Gewalt unter Schülern und der auch religiös bedingte Kultur-Clash in den Klassenzimmern gingen so weit, dass ich einen privaten Sicherheitsdienst engagierte, was der rot-rot-grüne Senat mit Argwohn betrachtete. Kinder beschimpften meine Kolleginnen und Kollegen mit Ausdrücken, die in TV-Dokus bisweilen mit "Piep"-Zeichen übertönt werden. Ein Schüler sagte zu einem jungen Lehrer: "Einen hässlicheren Menschen habe ich noch nicht gesehen."
Keine Bereitschaft, grundsätzliche Fragen zu klären
Ich habe gerne an der "Spreewald" gearbeitet, gerade weil es eine "Brennpunktschule" war, deren Kinder genauso viel Engagement verdienen wie die an einem Elitegymnasium. Die Borniertheit der rot-rot-grünen Koalition hat mich allerdings resignieren lassen. Ich gab frustriert auf, bin in meine österreichische Heimat zurückgekehrt und habe ein Buch über meine Zeit in Berlin geschrieben. Ich erhielt unzählige Rückmeldungen von Eltern und Kollegen, in denen stand: Endlich traut sich jemand, die Dinge klar zu benennen.
Aus der Politik hat sich niemand bei mir gemeldet, weder SPD noch Grüne und Linkspartei, übrigens auch nicht die CDU. Dass seither alles beim Alten geblieben ist, wundert mich also nicht. Der Berliner Politik fehlte es schon immer an Verständnis und Bereitschaft, grundsätzliche Fragen zu klären. Rot-Rot-Grün übte sich damals wie heute in multikultureller Schönfärberei. Nur nichts tun, was nach Rassismus und Islamophobie aussehen könnte, auch wenn alle Kinder unter der Misere leiden und es am Ende nur Verlierer gibt.
Nicht einmal die Gewaltexzesse wurden zur Kenntnis genommen, die sich aus Streitigkeiten verfeindeter arabischer, türkischer und kurdischer Clans ergaben. So bitter es klingt: Für Eltern vieler Kinder in Berliner Problemvierteln - und ich bin sicher, dass es auch in anderen deutschen Bildungseinrichtungen in sozial schwachen Gebieten so ist - hat der Schulbesuch einzig die Funktion, Geldleistungen nach dem Sozialhilfegesetz zu erhalten und den Nachwuchs für einige Stunden los zu sein.
Entscheidend ist, Kindern gleiche Bildungschancen zu gewähren
Das alles hat mit Armut zu tun. Es gibt einen unbestreitbaren Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildung, bei dem die Politik ansetzen muss. Der Blick auf einen muslimischen Hintergrund hilft nur bedingt weiter. Nach meiner Erfahrung wird der Islam vor allem in arabischen Familien in erster Linie als Ausdruck der eigenen Kultur und Identität empfunden - das Religiöse spielt eine untergeordnete Rolle. Auch katholisches Brauchtum in Bayern ist subjektiv zuerst Ausdruck persönlicher oder familiärer heimatorientierter Identität. Es gibt gleichermaßen Deutsche und Eingewanderte mit niedrigem und hohem IQ.
Entscheidend ist, Kindern gleiche Bildungschancen zu gewähren, damit sie ihr Potenzial entwickeln können. Es ist höchste Zeit, dass Deutschland nicht redet, sondern handelt, ehe die Misere noch größer wird. Dass viel zu viele Eltern gerade in sozialen Brennpunkten Schule als Aufbewahrungsort für ihre Kinder betrachten, muss ein Ende haben, genau wie Gewalt und Mobbing - zur Not mittels privater Sicherheitsdienste. Lehrer müssen in die Lage versetzt werden, Unterricht zu geben. Es ist doch klar, dass kaum noch jemand den Beruf ergreifen will, wenn Woche für Woche in den Medien über Gewalt, Pöbeleien, Bürokratie, sanierungsbedürftige Toiletten und andere Unzulänglichkeiten an Bildungseinrichtungen zu lesen ist.
Auch für Lehrkräfte müssen Anreizsysteme und Maßstäbe geschaffen werden, um zu beurteilen, ob sie einen guten Job gemacht haben. In der Lehrerausbildung aber läuft viel zu viel schief. Es kann nicht angehen, dass studierte Pädagogen nicht mit zwanzig Kindern zurechtkommen. Studenten werden bestenfalls zufällig durch Lehrbeauftragte angeleitet, nicht aber durch etablierte Lehrkräfte ausgebildet.
Schulen brauchen Fachpersonal
Gibt man Schulen Zugriff auf qualifiziertes Fachpersonal wie Psychotherapeuten, Logopäden, Ergotherapeuten, Sprachtherapeuten etc., können Erziehungsprobleme vor Ort angegangen werden. Schule wird niemals fehlende Erziehung durch Mütter und Väter vollständig kompensieren können. Es ist von hoher Wichtigkeit, Eltern zu befähigen, ihre Kinder für das Leben in einer Gesellschaft, für die sie sich entschieden haben, zu qualifizieren.
Erkenntnisse aus der Konfliktforschung müssen endlich Konsequenzen haben. Nötig ist eine zeitnahe Intervention unter Einbindung der Eltern. Das kann schwierig sein, wenn Väter keine Lust haben, in die Schule zu kommen, und Mütter in der Familie nicht über die nötige Autorität verfügen, mit der Lehrerin Maßnahmen im häuslichen Umfeld zu besprechen und anschließend daheim durchzusetzen. Sprachliche Defizite können keine Ausrede mehr sein - weder für Lehrer noch für Eltern. Jedes Handy hat eine Übersetzungs-App, die zumindest eine rudimentäre Kommunikation erlaubt.
Wenn Joachim oder Mahmoud dem Unterricht nicht folgen können, weil sie intellektuell nicht in der Lage dazu sind und sich deshalb langweilen, fangen sie an, einen Mitschüler zu provozieren, was zu verbalem und gar körperlichem Streit führen kann. Aus der Forschung ist bekannt, dass ungelöste Konflikte zu einer ständigen Verstärkung des Aggressionspotentials führen, das sich bei erstbester Gelegenheit entladen und gegen "dominierende Fremde" richten kann. So werden Uniformierte als "Feinde des Kiezes" betrachtet und attackiert. Nach meiner Einschätzung hilft es wenig, von Berliner Kindern mit oder ohne deutschem Pass zu reden. Entscheidend ist, dass Strafe auf dem Fuße folgt. Das hätte abschreckende Wirkung, weil ein belangter Randalierer es schwer hat, sich als "cool" zu präsentieren.
Das sind nur einige Punkte, an denen man ansetzen müsste. Es wird Zeit, dass Deutschland endlich handelt und nicht über die unglückliche Wortwahl eines Politikers diskutiert. Das setzt allerdings Offenheit voraus. Die Augen vor nackten Tatsachen zu verschließen, hilft nicht weiter. Es geht um nichts weniger als um eine Zukunft in Wohlstand.
Quelle: ntv.de