Fünf Jahre Coronavirus Wir dürfen die Pandemie-Aufarbeitung nicht den Schwurblern überlassen
27.01.2025, 18:19 Uhr Artikel anhören
Eine ehrliche Aufarbeitung der Pandemie ist nicht in Sicht. Aber Deutschland muss über Schulschließungen, Ausgangssperren und einsame Tode sprechen. Selbst, wenn das schmerzhaft wird. Denn die Alternative ist schmerzhafter.
Wer wurde in der Corona-Pandemie allein gelassen? Warum mussten Menschen sterben, sich vor dem Morgen fürchten? Wer hat welche Fehler gemacht? Welche Alternativen hatten die politisch Verantwortlichen damals? Wenn diese Fragen nicht öffentlich und offen gestellt, keine ehrlichen Antworten gesucht werden, wäre das der nächste Fehler. Deutschland überlässt diese Fragen fünf Jahre nach dem ersten Infektionsfall politischen Kräften, die nicht an einer offenen Debatte interessiert sind, nicht an ehrlichen Antworten. Diese Gesellschaft hat aber nur mit Ehrlichkeit eine Zukunft.
Das schwante dem damaligen Gesundheitsminister Jens Spahn offenbar schon im April 2020, als er sagte: "Wir werden einander in ein paar Monaten wahrscheinlich viel verzeihen müssen." Fast fünf Jahre später scheinen die Verantwortlichen nicht mehr auf Verzeihen zu setzen, sondern auf Vergessen: Die Ampel-Koalition hatte eine kritische Nachbetrachtung der Pandemie vereinbart, konnte sich aber nicht auf eine Form der Aufarbeitung einigen: "Es gibt dazu keinen Konsens", hieß es aus der SPD im Oktober 2024. Damit war das Thema vom Tisch. Ein grober Fehler.
Denn Deutschland muss reden. Über Schulschließungen, Ausgangssperren, die Impfkampagne, über eingeschränkte Freiheiten. Deutschland muss reden über die, die einsam starben, und die, die einsam leben, noch immer. Darüber, wie wir miteinander umgegangen sind. Deutschland muss reden, weil politische Entscheidungen während der Pandemie viel unmittelbarer in Leben hineinwirkten als zuvor.
Wir werden einander um Verzeihung bitten müssen
Was die Aufarbeitung bringt? Unklar. Es wird darauf hinauslaufen: Einiges funktionierte gut, anderes ging gehörig schief. Deutschland kam mit weniger zusätzlichen Toten davon als viele andere Länder - ein Erfolg. Gleichzeitig machten Menschen Fehler mit verheerenden Auswirkungen: im Kanzleramt, im Bundestag, in Gemeinden, Schulen und in zwischenmenschlichen Beziehungen. Wir werden einander um Verzeihung bitten müssen.
Auch, wenn es schmerzhaft wird, auch wenn die Pandemie in der Erinnerung vieler bereits verblasst ist; nach dem Ukraine-Krieg, dem 7. Oktober, Gaza und Trumps Wiederwahl: Wir müssen uns als Gesellschaft noch einmal an diese Zeit erinnern, wir müssen einander zuhören, miteinander reden. Warum? Aus zwei sehr guten Gründen.
Erstens haben viele Pandemie-Maßnahmen - egal ob richtig oder falsch - großen Schmerz bei vielen Menschen verursacht. Dieser Schmerz muss einen Raum in der Öffentlichkeit finden. Wenn nicht, findet er Platz bei den Rattenfängern. Und die machen aus dem Schmerz der Menschen Gift und Wut. Wut, die sich gegen den Staat selbst richtet. Gift, das langsam unsere Gesellschaft zerfrisst.
Zweitens muss diese Gesellschaft über die vergangene Pandemie reden - auch, weil die nächste sicher kommt. Es ist nur allzu nachvollziehbar, wenn Menschen Corona vergessen wollen. Als Gesellschaft kann Deutschland sich das aber erst leisten, wenn sichergestellt ist, dass Fehler nicht ein zweites Mal begangen werden. Wenn sicher ist, dass die Politik nicht nur auf die vergangene Pandemie vorbereitet ist, sondern auch auf die kommende.
Quelle: ntv.de