Nah an magischer Marathon-Marke Der unheimliche Fabel-Rekord des Kelvin Kiptum
09.10.2023, 19:52 Uhr
So zügig wie Kelvin Kiptum hat noch nie ein Mensch das Ziel eines Marathons erreicht.
(Foto: IMAGO/USA TODAY Network)
Der 23-jährige Kelvin Kiptum stürmt in Chicago zum Weltrekord über die Marathon-Distanz. Der kenianische Wunderläufer verblüfft die Konkurrenz. Sein Aufstieg und seine Leistungen werfen allerdings auch Fragen auf.
Als Kelvin Kiptum 1999 geboren wurde, lag der Weltrekord der Männer im Marathon bei 2:05:42 Stunden. Aufgestellt in Chicago vom US-Amerikaner Khalid Khannouchi. 23 Jahre später hat Kiptum diese Bestmarke am gleichen Ort auf brutalste Weise auf die neue Fabelzeit von 2:00:35 Stunden gedrückt. Über fünf Minuten schneller als 1999. Nicht nur das: Der Kenianer entriss seinem Landsmann und Lauf-Ikone Eliud Kipchoge den Rekord um gleich 34 Sekunden. "Ich bin so glücklich. Darauf war ich nicht vorbereitet. Aber ich wusste, dass ich eines Tages der Weltrekordler sein würde", sagte Kiptum nach dem Wahnsinnslauf.
1999 galt die 2-Stunden-Marke im Marathon als unerreichbar. Jetzt ist Kiptum so nah dran wie keiner zuvor (unter regulären Bedingungen, dazu später mehr). Wie fit und frisch der gerade einmal 23 Jahre alte Läufer im Ziel in Chicago zu den Zuschauern hüpfte, ist fast schon beängstigend und lässt nur einen Schluss zu: Die magische Marke wird wackeln.
Fast unheimlich steil verläuft die Karriere von Kiptum, der nicht wie viele seiner Vorgänger erst auf der Bahn anfing, sondern gleich mal die extrem lange Distanz als die seine auserkoren hat. Der Chicago-Lauf war erst der dritte offizielle Marathon seiner Karriere. Schon die beiden zuvor in London (2:01:25 Stunden) und Valencia (2:01:53 Stunden) ließen aufhorchen.
In seinem ersten Marathon in Spanien schoss er sofort in die Weltspitze, in London kratzte er direkt am Weltrekord - und überraschte damit die Lauf-Szene. "Ich habe Kelvin Kiptum zum ersten Mal durch seinen starken Valencia-Marathon wahrgenommen", erklärte der Team-Europameister Hendrik Pfeiffer im Mai im Gespräch mit ntv.de und sport.de und bewies sich als Prophet: "Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis der den Weltrekord unterbieten wird. Und das wahrscheinlich sogar deutlich." Beides gelang Kiptum nun in Chicago.
Kiptum läuft am Ende schneller als am Anfang
Drei der sechs schnellsten Marathon-Läufe aller Zeiten stammen nun von Kiptum, der allein in der Nähe seiner kenianischen Heimat trainiert. Der steile Aufstieg und die Rolle seines belgischen Managers und Agenten sorgten zumindest für Fragezeichen. Vielen Beobachtern war dennoch klar, was am Sonntag in der amerikanischen Metropole auf dem Spiel stehen würde: der Weltrekord. Auf der Pressekonferenz vor dem Rennen hatte Kiptum allerdings noch tiefgestapelt und "nur" den Streckenrekord (der lag bisher bei 2:03:45 von Dennis Kimetto) als Ziel ausgerufen. Von dem Weltrekord könne keine Rede sein, hieß es.
Es folgte auf dem Asphalt aber die absolute Machtdemonstration und Kiptum präsentierte sich erneut als König des negativen Splits. Will heißen: Er rannte die zweite Hälfte des Marathons schneller als die erste. Das ist das Idealziel eines Läufers, allerdings schaffen es nur wenige gute Athleten. Kiptum hat es nun in jedem seiner drei Rennen hinbekommen. Die ersten Kilometer ging Kiptum noch knapp unter dem Tempo von Kipchoges Rekordzeit an, die er 2022 in Berlin gelaufen war.
Auf Rekordzeit katapultierte er sich dann im zweiten Abschnitt und insbesondere zwischen den Kilometerabschnitten 30 bis 40. Also dort, wo es so richtig wehtut und sowohl Hobbyläufer als auch Profis gerne mal vom "Mann mit dem Hammer" besucht werden - also den schwindenden Kräften Tribut zollen müssen. Nicht so Kiptum an diesem Morgen.
Zwischen Kilometer 30 und 35 lief er unfassbare 13:51 Minuten, die folgenden 5 Kilometer in 14:01. Über die 10-Kilometer-Spanne macht das 27:52. Von den deutschen Läufern war nur der Rekordhalter Amanal Petros in diesem Jahr über die 10 Kilometer auf der Straße schneller als Kiptum in dem brutalsten Abschnitt eines Marathons.
Schlägt Kipchoge noch einmal zurück?
Seine Meile zwischen 19 und 20 (also rund um die Kilometer-Abschnitte 32 und 33) war einer der schnellsten überhaupt. "Das ist meine Strategie, bei Meile 19, 20 mache ich einen Move", sagte er. Er fühlte sich nie unwohl. Schon nach Kilometer 5 habe er gedacht, dass da heute der Weltrekord drin ist. So ließ er ab der Halbmarathon-Distanz alle Konkurrenz weit hinter sich. Der zweitplatzierte Benson Kipruto kam trotz einer guten Zeit von 2:04:02 Stunden satte dreieinhalb Minuten nach ihm ins Ziel.

Kiptum lief jubelnd neben Kipruto her, der das Ziel als Zweiter erreichte. Von Müdigkeit war nichts zu sehen.
(Foto: IMAGO/USA TODAY Network)
Für den ersten "Halbmarathon" brauchte Kiptum 60:48 Minuten, im zweiten beschleunigte er auf irrwitzige 59:47. Zum Vergleich: Kein deutscher Läufer schaffte es 2023 unter die Ein-Stunden-Marke im Halbmarathon. Um genau zu sein: Das hat noch nie ein deutscher Athlet geschafft. Der Rekord von Amanal Petros liegt bei 1:00:09. Der Weltrekord steht bei 57:31. Mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von über 21 km/h raste er also wild gestikulierend und ziemlich fit ins Chicago-Ziel. Diese Durchschnittsgeschwindigkeit (2:51 pro Kilometer) hat noch nie jemand über diese Distanz erreicht.
Nach dem Chicago-Coup liegt es auf der Hand: Die Wachablösung deutet sich immer mehr an - vielleicht hat sie sich an diesem Sonntag schon endgültig vollzogen. Auch der Titel des "Running GOAT", des "Greatest Of All Time", könnte schon mittelfristig wackeln. Noch gilt Kipchoge als Meister des Metiers über die 42,195 Kilometer, insbesondere dank seiner jahrelangen Dominanz und der vielen Erfolge. Allerdings muss sich der Youngster Kiptum erst jahrelang auf diesem Niveau beweisen - so wie der Altmeister.
Oder schlägt Kipchoge nochmal zurück? Der Olympiasieger ist nun schon 38 Jahre alt, im November wird er 39. Kiptum ist 15 Jahre jünger und klar der neue Stern am Marathon-Himmel.
2024 scheint ein großes Marathon-Jahr zu werden
Im kommenden Sommer in Paris könnte es bei Olympia zum Showdown der beiden Kenianer kommen. Wegen drohender Hitze und fehlender Pacemaker wird es wohl kein Weltrekord-Rennen. Im Frühjahr aber könnte es auf einem schnellen Kurs wie in London zum nächsten Angriff auf den Rekord kommen - und im Herbst zum ultimativen Duell auf der schnellsten Strecke der Welt in Berlin. Die deutschen Fans würden sicher nicht Nein sagen.
Dass binnen zwei Wochen nun der Männer und Frauen-Rekord (Tigist Assefa lief in Berlin in 2:11:53 Stunden mehr als zwei Minuten schneller als der alte Rekord) deutlich unterboten wurde, hängt auch mit der anhaltenden Materialschlacht der Schuh-Ausrüster zusammen. Während die Äthiopierin mit einem neuen Modell einer deutschen Firma lief, hatte Kiptum den neuesten Protoyp der amerikanischen Konkurrenz an den Füßen. Die Carbonschuhe mit extrem reaktivem Schaum werden immer leichter und drücken die Zeiten im Laufsport seit einigen Jahren massiv. Eine neue Generation der Schuhe scheint das Fenster für Rekorde weiter geöffnet zu haben. Und das bringt uns zurück zur magischen Marke von 2 Stunden.
Noch nie hat ein Mensch den Marathon in regulären Wettbewerbsbedingungen unter 2 Stunden gefinisht. Es bleibt ein Menschheitstraum, eine der letzten Barrieren im Profisport. Kipchoge schaffte es 2019 in Wien unter Laborbedingungen - wechselnde Tempomacher und künstlicher Windschatten - auf sensationelle 1:59:40 Stunden. Anerkannter Rekord ist es daher nicht. Mit seinen 23 Jahren und dieser Form scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis Kiptum auch diese magische Marke knackt. Vielleicht schon 2024.
Quelle: ntv.de