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Marathon-Phänomen Kelvin Kiptum Kenianischer Wunderläufer erstaunt selbst die Experten

Kelvin Kiptum stürmt zur zweitschnellsten Marathon-Zeit der Geschichte.

Kelvin Kiptum stürmt zur zweitschnellsten Marathon-Zeit der Geschichte.

(Foto: IMAGO/Xinhua)

Er kommt aus dem Nichts und stürmt in seinem zweiten offiziellen Marathon bis auf wenige Sekunden auf die Sensationszeit von Weltrekordhalter Eliud Kipchoge heran. Der kenianische Langstreckenläufer Kelvin Kiptum ist das neue Lauf-Phänomen, an dem allerdings auch Fragezeichen haften.

Selbst Experten, Läufer und Journalisten staunten Ende des vergangenen Jahres: Debütant Kelvin Kiptum, gerade einmal 23 Jahre alt, hatte soeben den Marathon in Valencia gewonnen. In einer Zeit, die sofort aufhorchen ließ: 2:01:53 Stunden. Damit katapultierte sich der Nachwuchsmann (für Marathon-Verhältnisse) umgehend weit vorne in die ewigen Bestenlisten, damals auf Platz vier.

Vor zwei Wochen (23. April) legte er mit einem noch beeindruckenderen Rennen in England nach. Beim prestigeträchtigen London-Marathon explodierte Kiptum förmlich auf dem Asphalt. Bis auf 16 Sekunden lief er an den Weltrekord von Marathon-Ikone und Landsmann Eliud Kipchoge heran und siegte souverän in 2:01:25 Stunden. Ein dickes Ausrufezeichen.

Von Kiptum hatte man in der Szene zuvor wenig bis nichts mitbekommen. "Ich habe Kelvin Kiptum zum ersten Mal durch seinen starken Valencia-Marathon wahrgenommen. Die Leistung in London hat aber nochmal eine andere Qualität", sagt der deutsche Marathon-Meister und Team-Europameister Hendrik Pfeiffer zu ntv.de.

Kometenhafter Aufstieg

Kiptum stammt aus Kenia, trainiert in seiner Heimat Chepkorio - ganz in der Nähe von Kipchoges Camp. Überraschenderweise hat er keinen Coach. Er trainiere sich selbst, betonte Kiptum auf der Pressekonferenz nach dem London-Marathon mehrmals. Nach eigenen Angaben trainiert er oft allein auf hügeligen, langen Strecken durch die Wälder Kenias. Als sein Erfolgsgeheimnis nennt er ganz einfach "Training". Er habe "viel und gut trainiert".

Das viele Training hat sich ausgezahlt. Sein Aufstieg in der Lauf-Welt ist kometenhaft. Mit nur 23 Jahren lehrt er die Großen und den Größten des Marathons schon das Fürchten. Statt wie Kipchoge oder andere Routiniers eine ganze Karriere auf der Bahn zu durchlaufen, zog es Kiptum direkt auf die Langstrecke. Mit 23 ging Kipchoge noch erfolgreich über die 3000 und 5000 Meter an den Start.

Anders der Weg von Kiptum, der sich nach wenigen Halbmarathons direkt auf die lange Strecke wagte. Die beiden ersten und spektakulären Marathon-Auftritte brachten Kiptum viele Schlagzeilen und Hype ein. Allerdings produziert ein dermaßen steiler Aufstieg aus dem Nichts in dieser Sportart auch automatisch Fragezeichen.

Kelvin Kiptum feiert nach seinem Marathon-Debüt in Valencia.

Kelvin Kiptum feiert nach seinem Marathon-Debüt in Valencia.

(Foto: IMAGO/Beautiful Sports)

Denn in den vergangenen Jahren wurden vielfach kenianische Athletinnen und Athleten des Dopings überführt - allein 2022 waren es mehr als 25 Spitzensportler. Das Kontrollsystem hat in Kenia teilweise versagt und steht immer wieder in der Kritik, hinzu gab es in der Corona-Zeit wegen Kontaktbeschränkungen einige Unregelmäßigkeiten (diese allerdings auch weltweit). Die Regierung in Nairobi versprach im November Investitionen in Höhe von 25 Millionen Dollar für die nächsten fünf Jahre, um die Dopingbekämpfung im Land zu stärken. Seit Februar 2016 steht das ostafrikanische Land auf der Beobachtungsliste der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) ganz oben.

Gemanagt wird Kiptum von dem ehemaligen belgischen Läufer und heutigen Agenten Marc Corstjens. Was auffällt: Unter dessen Fittichen standen in den vergangenen Jahren immer wieder auch Athleten, die mit positiven Dopingproben (Epo) erwischt wurden oder durch verpasste Tests auffielen. Dazu gehörten unter anderem 800-Meter-Läufer Alfred Kipketer (Olympia-Finalist von 2016) und Ruth Jebet, die nach ihrem Nationenwechsel von Kenia nach Bahrain 2016 in Rio Olympia-Gold über 3000 Meter Hindernis erlaufen hatte.

Diese Gemengelage beweist für den Kontext Kiptum natürlich a) absolut nichts und b) gilt für den Läufer ohnehin die Unschuldsvermutung. Nur: In einem Vakuum findet die Kiptum-Show auch nicht statt. Ein leichtes Geschmäckle ist dabei.

"Bringschuld" für kenianische Läufer

Auch der deutsche Läufer Pfeiffer sieht eine "sehr beeindruckende" sportliche Leistung von Kiptum, verweist aber auch auf die schwierige und diffuse Doping-Lage in Kenia. "Für den Athleten ist es tragisch, dass sie in die aktuelle Zeit des Dopingskandals in Kenia mit vielen Dutzend dokumentierten Dopingfällen innerhalb kürzester Zeit fällt", sagt der 30-Jährige. "Dies ist eine große Bürde für kenianische Athleten, die aktuell mit herausragenden Leistungen glänzen, da Kenia in einer echten Bringschuld ist, was die Glaubwürdigkeit des dortigen Laufsports angeht."

Ohne Zweifel ist die Leistung, die körperliche Arbeit, die Kiptum gerade auch in London zeigte, fast unmenschlich. Der 23-Jährige legte bei seinem Lauf einen sogenannten "negative split" hin, war auf dem zweiten Teil des Marathons nochmal deutlich schneller als auf dem ersten Abschnitt. Es war sogar die schnellste zweite Hälfte eines Marathons jemals.

Besonders der Kiptum-Abschnitt zwischen Kilometer 30 und 40 ist atemberaubend. Für diese 10-Kilometer-Spanne benötigte er nur 27:50 Minuten - das entspricht einer Zeit, mit der man bei jedem 10-Kilometer-Lauf ganz vorne dabei ist und die für die Top 25 der Weltjahresbestzeiten 2023 auf der Bahn (!) reichen würde. Der deutsche Straßen-Rekord von Amanal Petros liegt bei 27:32 Minuten. Gelaufen ist Kiptum dies in der wohl anstrengendsten Phase des 42,195 Kilometer langen Tempo-Dauerlaufs, der auch noch von regnerischen Bedingungen in London zusätzlich erschwert wurde. Kurioserweise hatte er vor dem Boost seine Getränkeflasche verpasst. "Ich habe gedacht, jetzt muss ich was probieren." Gesagt, getan.

Brutales Tempo mit End-Turbo

Ab Kilometer 30 warf er den Turbo an. Die zweite Hälfte (21,1 Kilometer) bestritt er in 59:45 Minuten. Zum Vergleich: Der deutsche Rekord von Amanal Petros über diese Distanz liegt bei 1:00:09 - ohne vorher 21,1 Kilometer gelaufen sein. Zur Einordnung, wie schnell das angeschlagene Tempo von Kiptum ist. Der Kenianer raste beim Marathon im Schnitt mit fast 21 Kilometer pro Stunde (20,85) durch die englische Hauptstadt. Das entspricht 2:53 Minuten pro Kilometer oder 17 Sekunden auf 100 Metern - das Ganze dann eben 422-mal in Folge.

Rekordmann Kiptum bringt zweifellos grandiose Anlagen und Talent mit. Wenn er das angeschlagene Tempo einigermaßen aufrechterhält, wird er wohl in den kommenden Jahren den Weltrekord von Kipchoge brechen. "Der enorme negative Split deutet darauf hin, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis er den Weltrekord unterbieten wird. Und das wahrscheinlich sogar deutlich", sagt der deutsche Läufer Hendrik Pfeiffer.

Vielleicht attackiert Kiptum in der mittelnahen Zukunft sogar in einem regulären Lauf die Zwei-Stunden-Schallmauer. Diese galt seit jeher eigentlich als nicht unterlaufbar. Dann kam Kipchoge und sein von Ausrüstern gesponsertes "Breaking 2"-Projekt. Im zweiten Anlauf (der erste scheiterte knapp auf der Formel-1-Strecke von Monza) knackte er in Wien die Zwei-Stunden-Marke (1:59:40). Ein offizieller Rekord ist die Zeit aber nicht. Denn Kipchoge standen nicht wettbewerbskonforme Hilfsmittel zur Seite. Zum Beispiel immer wieder rotierende Pacemaker als "Hasen" und eine perfekt abgestimmte Dauer-Versorgung mit Spezial-Getränken.

Wann fällt die Kipchoge-Marke?

So steht weiterhin die 2:01:09 von Kipchoge (aufgestellt 2022 beim Berlin-Marathon) in den Rekordbüchern. Noch. Denn eigentlich bestehen keine Zweifel, dass Kiptum noch vor seiner "Prime" steht, der besten Karrierephase, die im Marathonlauf für gewöhnlich erst nach dem Überschreiten des 30. Lebensjahres veranschlagt wird. So zittert die Konkurrenz also vor dem neuen kenianischen Wunderläufer. Er selbst gibt sich mit Blick auf die Rekordmarke zurückhaltend. "Wir werden sehen. Jetzt noch nicht", sagte Kiptum nach dem London-Rennen tiefenentspannt.

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Nach seiner außerirdischen Leistung muss sich der ausgeglichen wirkende Läufer mit irdischen Problemen befassen. Ende des vergangenen Jahres soll er Medienberichten zufolge einen Ausrüsterdeal mit der chinesischen Firma Qiaodan abgeschlossen haben. Als diese sich kurz vor dem London-Lauf mit ihm in Kenia treffen wollten, sei er plötzlich nicht mehr erreichbar gewesen. Den Marathon in London bestritt Kiptum dann überraschend mit Nike-Schuhen (einem älteren Modell) und -Shirt. Nun geht es wohl vor Gericht, weil Qiaodan auf Vertragsbruch plädiert.

Ziemlich sicher wird er aber schon bald wieder auf der Strecke Schlagzeilen schreiben und den Ausrüster-Eklat in den Hintergrund schieben. Die Herbstmarathons werden mit Spannung erwartet. Ein mögliches Ziel mit krasser Rekord-Historie bietet sich für Kiptum besonders an: der Berlin-Marathon am 24. September 2023. Der Kurs gilt als schnellster der Welt, vier der zehn schnellsten Marathon-Zeiten wurden hier gelaufen. Überrascht und erstaunt ist dann über diesen kenianischen Wunderläufer allerdings keiner mehr.

Quelle: ntv.de

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