
Die deutschen Handballer berauschten sich an sich selbst.
(Foto: picture alliance / SVEN SIMON)
Die deutsche Handball-Nationalmannschaft liefert ein Spiel zum Verlieben: Mit Tempo, Überzeugung und großen Emotionen feiert das DHB-Team einen wichtigen Sieg. Es ist eine begeisternde Reaktion auf einen Tiefschlag.
Knapp 34 Minuten waren in der gewaltigen Lanxess-Arena in Köln gespielt, da rastete Alfred Gislason aus: Der Isländer ballte die Faust, verzog das Gesicht und stürmte aufs Feld. Der Handball-Bundestrainer musste seine Emotionen kanalisieren und tat dies in dieser Geste. Es war eine Art von Jubel, nur positive Emotionen. Aber es lag wohl auch mehr darin als die pure Freude über den Blitzstart seiner deutschen Nationalmannschat in die zweite Hälfte des so wichtigen EM-Spiels gegen Ungarn.
Vielleicht war es Stolz, vielleicht war es Genugtuung, vielleicht Erleichterung, was sich in die Zufriedenheit über den Spielverlauf mischte: Das DHB-Team hatte den ungarischen Trainer zu einer schnellen Auszeit gezwungen, weil man durch eine wilde Balljagd in der Abwehr und ein spektakuläres, hochintensives Angriffsspiel binnen weniger Minuten auf drei Tore davongezogen war. Es half den Ungarn nichts, die lange sogar geführt hatten. Die deutsche Mannschaft eilte mit gewaltiger Intensität dem Sieg entgegen.
"Wir machen die komplett kaputt jetzt. Die schaffen das Tempo gar nicht", trieb Gislason seine Spieler selbst im Gefühl einer deutlichen Führung in einer späten Auszeit noch an. 35:28 hieß es am Ende, das DHB-Team war aus Ungarns Trümmern wieder auferstanden. Die Halle tobte, die 19.750 Fans auf den Rängen feierten die deutschen Spieler, die sich 48 Stunden zuvor statt in den Rausch in einen Abwärtsstrudel gespielt hatte.
"Hallendach ist mehrfach weggeflogen"
Nach den berauschenden Vorrundenspielen, wo sogar die knappe Niederlage gegen Rekord-Weltmeister Frankreich für mehr Optimismus als Frust gesorgt hatte, war zuletzt nichts mehr leicht von der Hand gegangen: "Scheiße" habe man gespielt, schimpfte Kai Häfner. "Grausam" (Bundestrainer Alfred Gislason)! "Stückwerk" (Timo Kastening)! "Riesen-Enttäuschung" (Kapitän Johannes Golla)! Noch zwei Tage vor dem Handball-Fest befand sich die deutsche Mannschaft verbal im Selbstzerstörungsmodus. Dass man binnen weniger Minuten einen Fünf-Tore-Rückstand mit großer Moral noch in einen wichtigen Punkt umkämpfte, geriet völlig in den Hintergrund.
Nun war alles ganz anders: Die deutsche Mannschaft, die gegen Österreich beim 22:22 vor allem sich selbst enttäuscht hatte, schlug zurück! "Wir konnten die Fans mitreißen. Das Hallendach ist mehrfach weggeflogen", jubelte der überragende Rückraumspieler Julian Köster. "Ich hoffe, das können wir wiederholen." Kai Häfner war "megastolz auf die Mannschaft, dass wir so zurückgekommen sind."
Mehr als acht Millionen Menschen sahen an den Bildschirmen eine Mannschaft, die nichts mehr gemein hatte mit dem an sich selbst verzweifelten Team vom Österreich-Spiel. Sie hatten viel zu besprechen in den Stunden nach dem zweiten Spiel in der Hauptrunde. "Wir haben in den letzten beiden Tagen unheimlich viel kommuniziert. Wir haben extrem offen miteinander gesprochen", berichtete Spielmacher Juri Knorr. Dahmke ergänzte: "Wir haben alles sehr akribisch analysiert. Und dann aber auch einen ganz klaren Plan entwickelt und das Playbook abgespeckt: Für jede Situation, die die Ungarn vorbereiten konnten, haben wir uns zwei, drei Sachen überlegt. Und die wollten wir zu 100 Prozent durchziehen."
Und Torwart Andreas Wolff, im bisherigen Turnierverlauf der überragende deutsche Spieler, freute sich, dass seine Vorderleute nach einer gemeinsamen Sitzung "das, was sie besprochen haben, super umgesetzt" haben. Zur stark verbesserten Angriffsleistung stellte das DHB-Team auch eine "phantastische Abwehr" (Wolff), die den ungarischen Hünen begeisternde Zweikämpfe bot - und so beweglich agierte, wie zuvor überhaupt noch nicht in diesem Turnier.
"Mut war der Schlüssel zum Erfolg"
Die Verunsicherung, die sich zuletzt in sagenhaften 22 Fehlwürfen und elf Ballverlusten gegen Österreich manifestiert hatte, haben sie sich ausgetrieben. "Gegen Österreich haben wir irgendwann aufgehört, in die Lücken zu gehen. Wir haben gezögert, überhaupt zu werfen", erinnerte sich Dahmke mit Schaudern. Nun war "heute der Mut zu hundert Prozent der Schlüssel zum Erfolg!"
Es sei "fast witzig, dass du innerhalb von 48 Stunden zwei so komplett unterschiedliche Spiele abliefern kannst", sagte Linksaußen Rune Dahmke. Und sein Teamkollege Kai Häfner wunderte sich: "Manchmal ist es nicht zu erklären. Das waren heute ja auch keine besseren oder schlechteren Handballer als vor zwei Tagen." Und doch lieferte man hinterher eine Erklärung. Sie hatte viel mit einer Taktiksitzung am Nachmittag zu tun.
Der Bundestrainer, der seine Spieler zuletzt offen für falsche Entscheidungen kritisiert hatte, habe vor dem Spiel noch eine emotionale Ansprache gehalten, verriet Christoph Steinert. Auch Sebastian Heymann, einer der namentlich vorgeführten Spieler, der vor wenigen Stunden noch drei Fehlwürfe bei drei Versuchen produziert hatte, sei einer der persönlich Angesprochenen gewesen.
"Ich soll mit Überzeugung aufs Tor gehen, alles reinschmeißen, was ich habe", verriet der Rückraumspieler aus dem Gespräch mit dem Bundestrainer. "Ich darf Fehler machen bei ihm, er hat vollstes Vertrauen zu mir - und dass ich heute extrem wichtig werden kann." Heymann war eine der Symbolfiguren des deutschen Sieges, in der ersten Halbzeit traf der Göppinger viermal bei vier Versuchen und lieferte drei Assists. "Alfred ist ein erfahrener Mann, der viel über Analysen und Wissen kommt. Wenn so einer dann emotional wird, dann spüren wir das alle. Es hat uns beflügelt", erklärte Anführer Golla.
"Das Selbstvertrauen war der größte Unterschied zum Österreich-Spiel", sagte Steinert, der da persönlich Verantwortung übernommen und den Endstand erzielt hatte. Für Rune Dahmke, einer der erfahrensten Spieler im Kader und als emotionaler Anführer enorm wichtig für die Stimmungslage auf der und rund um die Platte, war die zurückeroberte Haltung entscheidend: "Das Schlimmste, was du haben kannst, ist Angst. Dann merkst du, dass der Kopf anfängt zu arbeiten", sagte der Europameister von 2016.
Wolff lacht über sich selbst
Nun gingen sie in jede Situation mit deutlich mehr Tempo, aus dem Rückraum produzierte erstmals in diesem Turnier jeder Spieler Torgefahr: Kai Häfner, Sebastian Heymann, Juri Knorr - alle erzielten jeweils vier Tore. Und Julian Köster überragte sie alle: Acht Treffer erzielte der Gummersbacher. "Er ist auf dem besten Weg, ein Weltklassespieler zu werden", schwärmte Torwart Andreas Wolff von seinem Mitspieler. "Er ist vorne unersetzbar und er ist hinten unersetzbar."
War es zuletzt Wolff, der die deutsche Mannschaft im Turnier hielt und immer wieder den Funken lieferte, der die deutschen Hoffnungen am Glimmen hielt, sprangen diesmal in die anderen in die Bresche. "Die Jungs haben heute ein ganz anderes Gesicht gezeigt im Angriff", sagte der zuvor stets überragende Torwart. Und schob lachend hinterher: "Leider habe auch ich ein ganz anderes Gesicht gezeigt in der ersten Halbzeit. Ich war an allen Bällen dran und hab mir alle Bälle selbst reingemacht." Auch über seine erste Parade in der 39. Minute lachte der Weltklasse-Rückhalt. "Ich war da wirklich überrascht, dass es jetzt wirklich passiert ist."
Seine Mitspieler freuten sich hinterher sogar über die lange Zeit völlig fehlende Torwartleistung: "Ich bin unglaublich froh, dass Andi heute sein Spiel hatte, wo er mal nicht so viel Glück hatte. Irgendwann musste das ja mal kommen", sagte Dahmke. "Und heute konnten wir ihn mal tragen. Und am Ende hat er ja auch noch einige wichtige Bälle gehalten."
"Es geht nur zusammen"
Hauptrunde Gruppe I
1. Frankreich - 4 Spiele - 4 Siege/0 Remis/0 Niederlagen - 139:122 Tore - 8 Punkte
2. Deutschland - 4 - 2/1/1 - 113:107 - 5
3. Ungarn - 4 - 2/0/2 - 119:116 - 4
4. Österreich - 4 -1/2/1 - 108:112 - 4
5. Island - 4 - 1/0/3 - 116:128 - 2
6. Kroatien - 4 - 0/1/3 - 116:126 - 1
Letzter Spieltag am Mittwoch, 24. Januar
Österreich - Island (15.30 Uhr)
Frankreich - Ungarn (18.00 Uhr)
Deutschland - Kroatien (20.30 Uhr/ARD und im Liveticker bei ntv.de)
Es war der perfekte Abend für die deutsche Mannschaft: Im Vorspiel hatte Rekord-Weltmeister Frankreich das Sensationsteam aus Österreich besiegt und dem EM-Gastgeber damit das eigene sportliche Schicksal wieder in die eigene Hand gelegt - und die Deutschen griffen beherzt zu. Gemeinsam feierten sie jedes Tor, jeden Durchbruch, jeden gewonnenen Zweikampf. Und zusammen entzündeten sie diesmal auf dem Feld den Funken, der sich auf den Rängen zu einem emotionalen Flächenbrand ausweitete: "Wenn das nur einer oder zwei machen, dann springt der Funke nicht über", brannte Dahmke, der immer wieder Mitspieler und Zuschauer zu größeren Emotionen animierte, noch lange nach dem Spiel. "Da müssen wir alle als Team weitermachen. Dann sind auch die Fans da."
Kapitän Golla, der noch vor 48 Stunden alle Ziele in Gefahr gesehen hatte, spricht nun wieder von Zielen - diesmal positiv; "Wenn wir etwas erreichen wollen, geht es nur zusammen. Ohne die Fans würden wir nicht an dieses Limit kommen. Man sieht, wie viele Emotionen aus uns herauskommen. Das geht nicht ohne die Unterstützung der Zuschauer." Nun spielen sie am Mittwoch (20.30 Uhr/ARD und im Liveticker auf ntv.de) um den Einzug ins Halbfinal - dem Ziel, hinter dem sich alle versammelt hatten.
Auch gegen Kroatien, das ein enttäuschendes Turnier spielt, muss vor allem die innere und äußere Haltung der deutschen Mannschaft stimmen. "Die Kroaten sind immer heiß, wenn sie für ihr Land spielen. Den Kampf um die bessere Körpersprache, um die richtigen Emotionen, den darfst du in diesem Spiel nicht verlieren", sagte Körpersprache-Experte Dahmke. "Wir müssen alles investieren, um Handballspiele zu gewinnen. Wir müssen voll über Einsatz kommen, über Leidenschaft und Charakter. Über 60 Minuten. Dann haben wir gute Chancen."
Quelle: ntv.de