Deutscher im WM-Achtelfinale "Scheiß drauf": Ricardo Pietreczko setzt die Darts-Gesetze außer Kraft
28.12.2024, 19:44 Uhr
So sieht ein Jubelschrei aus: Ricardo Pietreczko zieht nach einem starken Auftritt gegen Scott Williams ins Achtelfinale der Darts-WM ein.
(Foto: PDC/Simon O'Connor)
Der letzte Deutsche bei der Darts-WM erreicht das Achtelfinale: Ricardo Pietreczko besiegt den exzentrischen Scott Williams und wird im "Ally Pally" selbst zum Showman. Sein nächster Gegner bezeichnet den Deutschen als "seltsamen Typen".
Der vierte Satz läuft im Drittrunden-Spiel der Darts-WM in London zwischen Ricardo Pietreczko und Scott Williams. Der letzte verbliebene Deutsche im Turnier gegen den Vorjahres-Halbfinalisten, den exzentrischen Engländer. Williams hat wenige Minuten zuvor das Spiel wieder heiß gemacht. Nachdem Pietreczko die ersten beiden Sätze für sich entscheiden konnte, verkürzt "Shaggy", wie der Engländer genannt wird, auf 1:2 in den Sätzen. Doch der Deutsche durchbricht das Momentum seines Kontrahenten. Im dritten Satz führt Pietreczko mit 2:0, als er bei 50 Punkten Rest und noch einem Dart in der Hand am Board steht und die ungeschriebenen Gesetze des Dartsports außer Kraft setzt.
50 Punkte können im Darts mit einem präzisen Wurf in die Mitte des Dartboards auf null gebracht werden. Pietreczko sagt in diesem Moment zu sich selbst: "Scheiß drauf". Und zack. Pietreczko trifft den winzigen roten Punkt, gewinnt damit den Satz und zieht auf 3:1 davon. Auf Nachfrage von ntv.de bestätigt Pietreczko auf der Pressekonferenz das kuriose Selbstgespräch vor dem vorentscheidenden Moment in der Partie.
Der Moment ist auch deshalb besonders, weil Pietreczko in dieser Situation ohne Druck durch seinen Gegner auf Doppel werfen darf. Williams befindet sich noch außerhalb des Finishbereichs, kann das Leg unter keinen Umständen beenden. In solchen Situationen stellen sich die meisten Dartprofis üblicherweise auf ein Doppel ihrer Wahl. Eine 18 für 32 Punkte (Doppel 16) Rest, eine 14 macht 36 Punkte Rest (Doppel 18), eine 10 für 40 Punkte (Doppel 20) Rest.
"Weil ich einfach Bock drauf hatte"
Schon zweimal im Lauf der Partie hatte Pietreczko die Darts-Gesetze außer Kraft gesetzt. Beide Male wirft "Pikachu", das ist der offizielle Spitzname des 30-Jährigen, auf das Bullseye, obwohl Williams nicht im Finishbereich steht. Beide Male verfehlt Pietreczko das Ziel, hat dadurch einen Dart weniger für den Checkout bei seiner nächsten Aufnahme. Beide Male trifft der Deutsche die Doppel 4 zum Leg-Gewinn. "Weil ich einfach Bock drauf hatte", begründet Pietreczko, warum er sich dreimal völlig ohne Not für den riskanten Weg über Bull entschieden hat. "Ich will den Zuschauern ja auch irgendwas bieten."
Das hat Ricardo Pietreczko an diesem Samstagnachmittag vor 3200 Zuschauern im proppenvollen Alexandra Palace geschafft. Auf dem Hügel im Londoner Norden entwickelt sich ein hitziges Duell im Publikum. Ziemlich genau die Hälfte der Tickets sind an diesem zehnten Turniertag laut Informationen von ntv.de an deutsche Zuschauer verkauft worden. Bis auf eine kleine Bierbecherschlacht bleibt es während des Spiels aber friedlich, so wie üblich beim Darts.
Stattdessen wechseln sich Williams-Anfeuerungsrufe der Engländer und "Oh-wie-ist-das-schön"-Gesänge der deutschen Fans ab. Zwischendurch wird sogar "God save the King" angestimmt. Doch ihren Schützling Scott Williams können die englischen Darts-Fans an diesem Nachmittag nicht retten.
"Ricardo ist ein seltsamer Typ"
Pietreczko verhindert dank einer erneut bravourösen Leistung auf den Doppelfeldern, dass es auch auf der Bühne hitzig wird. Williams, der für gewöhnlich extrem exzentrisch auftritt, für Mätzchen immer zu haben ist und das Publikum regelmäßig anstachelt, beißt bei "Pikachu" auf Granit. "Ich habe mir vorgenommen, nur bei mir zu sein. Wenn er meint, er muss da vorne am Board noch irgendwas machen, dann gehe ich halt einen Schritt zurück, trinke noch einen Schluck Wasser. Ich glaube, das hat gut funktioniert", bilanziert Pietreczko.
Der Deutsche, in der Weltrangliste vor der WM auf Platz 34 notiert, spielt nervenstark die Partie zu Ende, gewinnt am Ende überraschend glatt mit 4:1 in den Sätzen. Pietreczko schreit sich die Seele aus dem Leib. Es ist der größte Erfolg des nach der WM mindestens zweitbesten Deutschen in der Darts-Weltrangliste. Beim WM-Debüt im Vorjahr hatte Pietreczko den späteren Weltmeister Luke Humphries in der dritten Runde am Rand der Niederlage. Jetzt hat "Pikachu" den Sprung in Runde vier geschafft.
Am Montag geht es für "Pikachu" gegen Nathan Aspinall weiter. Der Engländer ist Weltranglisten-Zwölfter, hat sich aber im Gegensatz zu Pietreczko bislang eher durch das Turnier gequält. "Ein genialer Spieler, das wird ein interessantes Spiel", so Pietreczko mit Blick auf seinen Achtelfinal-Kontrahenten. Der Engländer ließ sich nach seinem ungefährdeten, aber glanzlosen 4:0-Sieg über Andrew Gilding in Bezug auf Pietreczko etwas mehr aus der Reserve locken: "Ricardo ist ein großartiger Spieler, aber ein seltsamer Typ. Er macht sein eigenes Ding, hängt immer mit seiner Freundin ab bei den Turnieren. Ich habe noch nie wirklich ein Wort mit ihm gesprochen. Ich weiß nicht viel über ihn."
"Ich will Weltmeister werden"
Ende 2023 hatte Pietreczko erstmals ein Turnier auf der Profitour der Profi-Darts-Organisation PDC gewonnen. In diesem Jahr kamen ein Finaleinzug auf der European Tour und das Viertelfinale bei der Europameisterschaft als größte Erfolge hinzu. Abseits der großen Bühnen verlief das Jahr jedoch enttäuschend. "Ich liebe die Bühne, bei den kleineren Turnieren auf dem Floor kann ich einfach nicht so gut performen", erklärte Pietreczko, der mit dem Achtelfinal-Einzug als erster Deutscher neben Gabriel Clemens (2021 und 2023) die Runde der letzten 16 bei der Weltmeisterschaft erreicht hat. Der Siegeszug des "German Giant" führte 2023 bis ins WM-Halbfinale.
Auch Pietreczko hat noch mehr Erfolgshunger: "Ich spiele das Turnier, um Weltmeister zu werden". Erstmal will der "seltsame Typ" übermorgen gegen Nathan Aspinall aber den Sprung ins Viertelfinale schaffen.
Quelle: ntv.de