
Johannes Golla versteckte sich kurz vor dem Ende in seinem Trikot.
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Die deutsche Handball-Nationalmannschaft zittert sich mit einer schwachen Leistung zu einem Punkt gegen Außenseiter Österreich. Das Sehnsuchtsziel Halbfinale bei der Heim-EM ist noch in Sicht- aber nicht mehr in Reichweite. Spieler und Trainer finden harte Worte.
Am Ende eines enttäuschenden deutschen Handball-Abends zeigte Juri Knorr große Klasse: Als der Spielmacher der deutschen Nationalmannschaft in den Katakomben der Kölner Lanxess-Arena Constantin Möstl neben sich entdeckte, ließ Knorr die wartenden Journalisten erst mal für einen Augenblick stehen, um dem jungen österreichischen Torwart sichtbar aufrichtig zu seiner fantastischen Leistung zu gratulieren.
17 Paraden hatte der 23-Jährige vom Alpla HC Hard, dem Tabellenführer der österreichischen Liga, am Ende gesammelt. Möstl war ein großer Teil des deutschen Problems an diesem Abend. Einen Handschlag und einen Schulterklopfer später brachte Knorr dann eine eigentlich schwer erklärbare Leistung auf eine einfache Formel: "Ich fand es nicht schwierig im Angriff, wir sind einfach nur an uns selbst gescheitert vorm Tor."
Die deutsche Handball-Nationalmannschaft spielte gegen Österreich nur 22:22, nur mit Glück und Moral verhinderte sie sogar noch ein Debakel gegen den Außenseiter. Mit fünf Toren hatte man zwölf Minuten vor Schluss zurückgelegen, am Ende schlichen die deutschen Spieler, schwer gezeichnet und entsetzt von sich selbst, mit hängenden Köpfen vom Feld in der Kölner Arena. Und nebenan feierten die Österreicher, die gerade einen fast sicheren Sieg noch aus der Hand gegeben haben, weil sie in den letzten Minuten platt waren - und dazu auf einmal nur noch Pfosten und Latte des deutschen Tores trafen.
"Unglaublich schlecht"
"Das war unglaublich schlecht von uns und bringt uns womöglich um unsere Ziele", schimpfte Kapitän Johannes Golla. Die Ziele, das sind das Halbfinale und vielleicht sogar eine Medaille. Die vielen technischen Fehler seien "grausam" gewesen, legte Bundestrainer Alfred Gíslason nach. Sie hatten eine schwache Leistung abgeliefert. "Diesen Punkt haben wir im Angriff verloren, die Abwehr stand gut, und Andi war sehr gut." Es war ein unerklärliches Fehlerfestival, das die deutsche Mannschaft von 19.750 Zuschauern ablieferte. "Die zweite Halbzeit war eine komplette Katastrophe. Wir haben heute alle Scheiße gemacht", sagte Routinier Kai Häfner. "Die Mannschaft hat sich immer wieder eingegraben. Wir waren an der Misere selbst schuld", lieferte Gíslason eine Blitzanalyse.
Die Kulisse sollte eigentlich das große Faustpfand bei diesem Turnier werden. Der Faktor, der der deutschen Mannschaft endlich wieder die Brücke zur absoluten Weltspitze bauen sollte, zumindest für die Zeit dieses Turniers. Gegen den Rekord-Weltmeister Frankreich hatten sie - noch in Berlin - in der Vorrunde lange groß aufgespielt. Am Ende war mal wieder die Luft ausgegangen, aber 50 Minuten hatte man dem großen Favoriten ein Spiel auf Augenhöhe geboten. Und angetrieben vom Berliner Publikum einen großen Kampf geliefert. Zwar hieß es am Ende 30:33, aber die Stimmung war trotz der Pleite optimistisch.
Nun aber ist offenbar das Gegenteil von dem eingetreten, was man sich erhofft hatte: Der Heimvorteil ist gar keiner. Die mächtige schwarz-rot-goldene Drohkulisse, die man hinter sich wissen wollte, wirkt wie ein Angstgegner. Jedenfalls in den Spielen, in denen die deutsche Mannschaft als Favorit auf der Platte steht. Denn als Ausrutscher kann man das Zitterspiel gegen das keinesfalls entfesselt aufspielende Österreich nicht verbuchen: Schon der Thriller gegen Island gab davon einen Eindruck. In dem Moment, in dem es etwas zu verlieren gibt, scheint es so, als ziehe eine kalte Ahnung von Stress und Sorgen in die deutschen Spieler, die sie hemmt. "Man hat auf beiden Seiten gemerkt, dass da eine gewisse Nervosität da war", sagte Linksaußen Rune Dahmke nach dem mit knapper Mühe überstandenen Island-Krimi zum Hauptrundenauftakt.
"Auf gewissen Positionen keine Gefahr"
Sie hatten gehofft, dass es ein Ausrutscher war, dass man alle Fehler schon gemacht und sie hinter sich zurückgelassen habe. "Ich glaube, dieses Spiel hat der Mannschaft unglaublich viel gebracht", sagte der erleichterte Bundestrainer nach dem nervenaufreibenden Spiel gegen Island. Doch so einfach ist es nicht: Gegen Österreich, den krassen Außenseiter mit dem wundersamen Lauf, wurde seine Mannschaft noch nervöser. Die deutschen Spieler trafen reihenweise schlechte Wurfentscheidungen. Und wenn die Entscheidung richtig war, entschieden sie sich zu oft für die falschen Varianten.
Torwartheld Möstl, der sogar das Torwartduell mit Weltklassekeeper Andreas Wolff mit 17 zu 14 Paraden entschieden hatte, berichtete nach dem Spiel von schmerzenden Rippen und einem geschwollenen Ellbogen. Möstl war kurz vor der Pause bei einem Rettungsversuch mit voller Wucht gegen den Pfosten seines Tores geprallt. Die Wucht der deutschen Würfe hatte ihm davor und danach nichts anhaben können, mehrere Bälle fing er sogar.
"23 Fehlwürfe, meistens frei stehend gegen den Torhüter. Wir hatten auf gewissen Positionen gar keine Gefahr", sagte der Bundestrainer und vermied es dann noch mit knapper Not, einzelne Spieler an die Wand zu nageln: "Unsere rechte Seite war, ehrlich gesagt, unter dem, was wir haben wollen, da war gar keine Gefahr." Gemeint waren Rückraumspieler Kai Häfner (der nur einen seiner vier Würfe traf) und Timo Kastening, der zwar viermal traf, aber auch vier teils beste Chancen liegen ließ.
Spielmacher Knorr, von dessen Klasse und Form in der Offensive alles abhängt, nahm zu Beginn auf der Bank Platz. Der 23-Jährige, der sich später auch im fünften Turnierspiel zum besten Torschützen der Mannschaft kämpfte, plagte sich mit einer Erkältung. Philipp Weber, der in diesem Turnier noch gar keine Rolle gespielt hatte, sollte das Spiel für die deutsche Mannschaft in die richtigen Bahnen lenken - und scheiterte an seiner Aufgabe. Nun adressierte Gíslason, der seine Mannschaft sonst schützt, seinen Unmut offen: "Juri wollte ich eine Pause geben, da kommt Weber rein und macht vier Fehler in den ersten zehn Minuten", kritisierte Gíslason. Der Magdeburger blieb ohne Tor, Knorr kam nach zwölf Minuten rein. Da war die Verunsicherung schon steter Begleiter jeder deutschen Angriffsbemühung. "Bei Sebastian Heymann das Gleiche, er hat ein bisschen unüberlegt geworfen."
"Reißt einem den Boden unter den Füßen weg"
Mit den Zuschauern im Rücken wollte man mehr schaffen, als die Summe der einzelnen Teile hergibt. Kapitän Johannes Golla berichtete in "Handball Inside", dass der DHB seinen Nationalspielern Sportpsychologen zur Seite stellte, um den durch die Heimkulisse steigenden Druck zu kanalisieren. Nun lieferte man aber zum zweiten Mal binnen 48 Stunden weniger, als die Qualität des Aufgebots möglich macht. Kapitän Golla, der Anführer, der sich auf und neben dem Feld immer stellt, versteckte sich nach einer Hinausstellung in seinem Trikot - ein Sinnbild.
In der Vorrunde hatten sie gemeinsam mit den zigtausend Fans im Stadion von Düsseldorf und der Mercedes-Benz-Arena gegen die Schweiz, Nordmazedonien und Frankreich gefeiert. Bei den Stresstests, die die Hauptrunde zu bieten hat, in denen jede Niederlage das Aus für die Träume vom Halbfinale bedeuten kann, wirkt alles anstrengend.
Auch gegen Island hatten sie schon die große Leistung des Publikums beschworen. Wie später gegen Österreich hatte die deutsche Mannschaft da in den letzten zehn Minuten die Weichen auf Sieg gestellt, Andreas Wolff schob den Erfolg auf den "Heimvorteil". Nun sagte Kapitän Golla: "In den letzten zehn Minuten haben wir es geschafft, das Ruder rumzureißen, aber da war es schon zu spät." Umso schwerer sind die nervösen Minuten vorher zu erklären. "Wir wirken verunsichert vor dem gegnerischen Tor, und irgendwann ist es eine Kopfsache. Wir müssen den Kopf wieder hochbekommen", forderte Golla, um nach einer kurzen Pause nachzuschieben: "Kopf hochbekommen reicht nicht. Wir müssen einfach besser Handball spielen".
Golla berichtete von einer "Riesen-Enttäuschung" im ganzen Team und räumte ein: "Das reißt einem schon ein wenig den Boden unter den Füßen weg." Nun müssen sie schnell wieder in die Spur kommen: "Jetzt alles auf null setzen, du hast nicht lange Zeit, dich einzubuddeln", sagte Linksaußen Rune Dahmke, der nach Spielende am Hallenmikrofon versprach: "Nächstes Mal seid ihr, die Fans, genauso gut, und wir besser."
Bei der turnusmäßigen Medienrunde am Vormittag nach dem Spiel waren erstmals keine Spieler dabei, das für den Abend angesetzte Training wurde abgesagt. "Die Nacharbeitung bei den Jungs war sehr lang gestern. Keiner hat so richtig ins Bett finden können, weil die Dinge nicht so gelaufen sind wie erhofft", erklärte DHB-Sportvorstand Axel Kromer. Video-Analysen, taktische Besprechungen und ganz viel Regeneration seien nun wichtiger für die Mannschaft. "Bisher wurden wir von der Euphorie getragen. Ich hoffe, dass es jetzt keinen Riesen-Abbruch gibt und die Fans weiter an die Mannschaft glauben und die Mannschaft vor allem an sich selbst glaubt", sagte Kromer.
Das Halbfinale ist weiterhin wenigstens noch in Sichtweite - auch wenn man es nun nicht mehr selbst in der Hand hat. Holt Österreich als verbliebener Konkurrent nicht vier Punkte gegen Frankreich und Island, zöge das DHB-Team mit zwei Siegen noch ins Halbfinale ein. "Wir müssen unsere Hausaufgaben machen und die zwei Spiele gewinnen. Aber es wird schwer, wenn wir so spielen", sagte Häfner. Und der Bundestrainer weiß: "Wir brauchen nicht zu rechnen, sondern müssen gewinnen. Aber wenn wir weiter so im Angriff spielen und so mit unseren Chancen umgehen, dann werden wir das weder gegen Ungarn noch gegen Kroatien schaffen." Nach den Vorstellungen gegen Island und Österreich sind die Chancen tatsächlich noch größer als die Erwartungen. Vielleicht hilft das der Mannschaft.
Quelle: ntv.de