
Julian Köster (r.) hatte was mit Juri Knorr zu besprechen.
(Foto: dpa)
Die deutsche Handball-Nationalmannschaft liefert eine große Aufholjagd, präsentiert sich davor aber so erschreckend schwach, dass sich das Remis gegen Wunderteam Österreich wie eine Niederlage anfühlt. Der Außenseiter jubelt.
Was ist da in der Kölner Arena passiert?
Bei dieser Europameisterschaft gibt es für die deutsche Mannschaft keine normalen Spiele mehr, jede Begegnung ist ein Ritt auf Messers Schneide: Jeder Patzer kann das Ende aller Träume von der Medaille bedeuten. So war auch das zweite Hauptrundenspiel ein ganz besonderes: Gegen Überraschungsteam Österreich, das - so nannte es die heimische Presse - per "Wunder von Mannheim" den Einzug in die zweite Turnierphase geschafft hatte.
Weil sie dann auch noch Ungarn geschlagen hatten, spielte die Wintersportnation auf einmal um den Halbfinaleinzug. Für Robert Weber, den österreichischen Rekord-Nationalspieler, war es schon vor dem Anwurf "das Karrierehighlight". Die Österreicher hatten zuvor Kroaten getrotzt und Mitfavorit Spanien sogar nach Hause geschickt. Sie hatten daher schon eine der großen Geschichten dieses Turniers geschrieben. Es sollte bitte nicht noch eine weitere dazukommen.
Die deutsche Mannschaft hatte den Druck: die große Handball-Nation, der Gastgeber. Die, die ihre Erfolgsgeschichte erst noch schreiben müssen. Das merkte man dem DHB-Team an. Von der ersten bis zur letzten Minute. Unerklärliche Fehler reihten sich an leichtfertige Fehlwürfe, zur Halbzeit konnten sie sich mal wieder bei Andreas Wolff bedanken: Der Torwart hielt 45 Prozent aller österreichischen Würfe. Weil die deutsche Offensive aber Österreichs Torwart Constantin Möstl berühmt schoss, führte Österreich. Der Schlussmann des Spitzenreiters der österreichischen Liga, dem Alpla HC Hard, der in der Heimat selten vor vierstelligen Kulissen aufläuft, nutzte die große Bühne wieder für ein großes Spiel. Er kroch schon ganz früh in die Köpfe der deutschen Spieler. Und in die der Fans. Dort nistete er sich ein, ließ sich auch nicht durch eine fiese Kollision mit dem Torpfosten kurz vor der Halbzeit daraus vertreiben.
Es wurde wieder ein Krampf, ein Krimi, ein Drama. Ohne geht es bei dieser Mannschaft nicht. Es war mitzuerleben, was es mit einer Mannschaft macht, wenn sie etwas zu verlieren hat: Sie bekommt negativen Stress. Aus der Welle, auf der sie so gerne durchs Turnier surfen wollen, wird ein Abwärtsstrudel. Immerhin: Am Ende steht ein Remis, obwohl der Außenseiter so nah an der ganz großen Sensation war. Mit fünf Toren führten sie gut zehn Minuten vor Schluss. Die deutsche Mannschaft zeigte Moral, die Abwehr erkämpfte Ball um Ball gegen müder werdende Österreicher, die ihrerseits mit dem Pech haderten. Die Bälle landeten urplötzlich am Gebälk, nicht im Netz. Die Deutschen warfen noch mehrmals beste Chancen weg, bevor Christoph Steinert doch noch der Ausgleich gelang.
Wie waren die Schlüsselspieler drauf?
Die erste Überraschung hatte das Spiel mit dem Anwurf parat: Statt Juri Knorr, der im ersten Hauptrundenspiel gegen Island einen unglücklichen Tag erwischt hatte, lenkte Philipp Weber die ersten deutschen Angriffe. Der Magdeburger, der im bisherigen Turnierverlauf noch keine Rolle gespielt hatte, lieferte einen bitteren Auftritt ab: Dreimal warf er aufs Tor und produzierte dabei drei Fehlwürfe. Dazu gesellten sich zwei Abspielfehler, nach wenigen Minuten schickte Bundestrainer Alfred Gíslason wieder seinen etatmäßigen Spielmacher aufs Feld. Dem hatte er nicht etwa das Vertrauen entzogen: Knorr plagte sich mit einer Erkältung, erklärte Gíslason später.
Groß aufspielen konnte Knorr nicht, er kämpfte sich rein. Nahm sich ein paar wilde Würfe, traf aber auch immer wieder mit Einzelaktionen. Das deutsche Spiel ist auch immer ein Spiegelbild des Auftritts seines Regisseurs: Es geht nichts so recht von der Hand. Am Ende war es mehr Wille als Klasse.
Und Andreas Wolff? Der tut in diesem Turnier Andreas-Wolff-Dinge: Er hält Ball um Ball, stoisch oder spektakulär. Immer weiter, immer weiter. Die Zeiten, in denen Wolff im Abwärtsstrudel unterging, wenn es nicht lief, sind lange vorbei. Zum Glück für die deutsche Mannschaft.
Der Moment des Spiels:
Der größte Moment aus deutscher Sicht fand schon vor dem Anpfiff statt: Begleitet von den meisten seiner noch lebenden Mannschaftskameraden aus dem WM-Finale von 1978 rollte Handball-Legende Jo Deckarm aufs Spielfeld. Der ehemalige Weltklasse-Rückraumspieler, der Deutschland 1978 in Kopenhagen zum Weltmeister gemacht hatte und später bei einem tragischen Unfall bei einem Europapokal-Spiel in Ungarn schwer und folgenreich verunglückte, empfing stehende Ovationen von den Rängen. Es war ein Gänsehautmoment, als der gestern 70 Jahre alt gewordene Deckarm, der 1979 131 Tage im Koma gelegen und sich danach schwer gezeichnet in ein zweites Leben zurückgekämpft hatte, bewegt in die Menge winkte. Ein Moment, der größer war als das, was danach kam. Auch ganz unabhängig vom Ergebnis.
War das jetzt ein Wunder?
Die Reaktionen nach dem Spiel erzählen die ganze Geschichte, die in diesem Ergebnis steckt: Die deutsche Mannschaft, die fünf Tore Rückstand in wenigen Minuten aufgeholt hatte, ging mit hängenden Köpfen vom Feld. Und das tapfere Österreich, das die Hand schon am Sieg hatte, feierte. Sie haben wieder ein Wunder gewirkt, das etwas kleiner ausfiel, als sie es verdient gehabt hätten. Es war ein Wunder, zu dem eine erschreckend fahrige, erschreckend ineffiziente deutsche Offensive entscheidend beigetragen hatte. Sie haben die Österreicher ernst genommen, gewiss. Aber an ein Wunder hat nach dem Island-Krimi, indem sie sich auf der Zielgeraden noch den Sieg erkämpft hatte, niemand glauben wollen. Nun aber haben sie nicht dabei gestört. Ein Wunder bleibt es dennoch.
Was bedeutet das Ergebnis für die deutschen Hoffnungen?
Durch das Remis hat die deutsche Mannschaft das große Ziel Halbfinale nicht mehr in der Hand und muss auf einen Ausrutscher Österreichs hoffen. Die müssen noch gegen Frankreich und Island ran. Gewinnt das DHB-Team seine ausstehenden Duelle mit Ungarn und Kroatien, ist die Chance auf den Einzug ins Halbfinale noch intakt - wenn Österreich mindestens einmal nicht der große Wurf gelingt. Aber wer will sich darauf schon verlassen?
Die Stimmen zum Spiel
Kapitän Johannes Golla: "Ich glaube, man hat in jedem Gesicht gesehen, dass uns das unglaublich weh tut. Das war unglaublich schlecht von uns und bringt uns womöglich um unsere Ziele. Wir machen das schlechteste Spiel, was Angriffseffektivität angeht. So werden wir nichts erreichen bei dem Turnier, aber wir haben die Fans im Rücken."
Trainer Alfred Gíslason: "Diesen Punkt haben wir im Angriff verloren, die Abwehr stand gut, und Andi war sehr gut." Die vielen technischen Fehler seien "grausam" gewesen.
Quelle: ntv.de